Iraner*in, Leben, Freiheit

Seit Wochen protestieren im Iran Frauen und Männer unter Todesgefahr gegen das Regime und zeigen sich scheinbar wenig beeindruckt von den gewalttätigen Einschüchterungsversuchen der Staatsführung. Die hat derweil Mitte Dezember 2022 das zweite Todesurteil gegen einen Demonstranten vollstreckt. Laut „Amnesty International“ droht mindestens 26 weiteren Menschen die Hinrichtung (Stand: 16. Dezember 2022). Hadi Ghaemi, Direktor des Iran Center for Human Rights in New York, sagte in einem Interview mit der CNN-Journalistin Christiane Amanpour, die Islamische Republik Iran vollstrecke „staatliche Lynchjustiz gegen die eigene Bevölkerung“.

Auslöser für die Proteste, die manche iranische Stimmen inzwischen lieber eine Revolution nennen, war der staatliche Femizid an der 22-jährigen Kurdin Mahsa Zhina Amini. Das iranische Regime hatte behauptet, Zhina Amini sei an einem plötzlichen Herzversagen verstorben. Sie war zuvor festgenommen worden, weil sie ihr Kopftuch nicht „richtig“ trug. Nach der Festnahme und nach zwei Tagen im Koma starb sie am 16. September 2022 in einem Krankenhaus in Teheran.

Überall im Land gehen die Protestierenden auf die Straße, um für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen und Queers bis hin zu einem Ende der Diktatur zu kämpfen. Die einst kurdische Parole „Frau, Leben, Freiheit“ („Jin, Jiyan, Azadî“) wird auch von Männern solidarisch verwendet. Die Proteste erreichen alle Städte und alle Schichten. Und sie finden weltweit Beachtung. In Deutschland haben Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf ihre Instagram-Accounts und deren Reichweite zwei iranischen Aktivistinnen zur Verfügung gestellt und die Proteste damit in Publikumsbereichen bekannt gemacht, die bei Nachrichten vielleicht sonst eher umschalten.

Einmal mehr viel Beachtung verdient

Damit die Aufmerksamkeit weltweit weiterhin groß bleibt, heißt es, jegliche Möglichkeit zu nutzen, um alle gesellschaftlichen Schichten und alle Altersklassen zu informieren. Schon im Jahr 2017 hat der Splitter-Verlag aus Bielefeld einen Comic herausgebracht, der hervorragend geeignet ist, junge Menschen und Comic-Leser*innen tiefer über den Iran zu informieren, und der deshalb in diesen Zeiten einmal mehr viel Beachtung verdient hat. Es ist der Comic „Liebe auf Iranisch“ von Jane Deuxard und Deloupy.

Jane Deuxard ist das Pseudonym eines französischen Journalistenpaars, die jeweils einzeln bereits national und international ausgezeichnet wurden. Die beiden arbeiten unter dem Decknamen, um weiterhin im Iran recherchieren zu können. Vor allem aber nutzen sie das Pseudonym, um ihre Quellen im Iran zu schützen, jene Menschen, denen sie auf ihren Reisen begegnen und die es gewagt haben, ihnen offen und ehrlich von ihrem Leben zu erzählen. Denn Jane Deuxard sehen das als ihre Aufgabe an: den Iranerinnen und Iranern durch ihre Recherchen eine Stimme zu geben.

„Die Polizeipatrouillen sind überall“, schreibt das unverheiratete Paar. „Jedes Mal, wenn sie vorbeikommen, schweigen wir und senken den Blick. Würde man uns entdecken und festnehmen, wären die Iraner, die bereit waren, mit uns zu reden, in Gefahr. Wir sind ständig angespannt.“

Unverstellte Einblicke in das Leben im Iran

„Liebe auf Iranisch“ erzählt keine Geschichte, ist kein Comic-Roman, sondern zeigt episodisch Iranerinnen und Iraner in den jeweiligen Gesprächssituationen mit Jane Deuxard und erlaubt damit unverstellte Einblicke in das Leben im Iran unter der Präsidentschaft von Mahmud Ahmadineschād sowie unter der seines Nachfolgers Hassan Rohani.

Die Porträtierten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, sie kommen aus allen sozialen Milieus des Landes, und sie alle eint der Wunsch, freiheitlich lieben zu dürfen, unabhängig davon, was ihnen das Regime oder die Tradition oder die Religion vorschreiben. Mal mit der Partnerin oder dem Partner im Café einen Latte Macchiato trinken? Abends gemeinsam ins Bett fallen und am besten gleich übereinander her? Sich in der Öffentlichkeit küssen?

Nein, nicht im Iran. Nichts davon. „Solange wir nicht verheiratet sind, können wir nicht miteinander schlafen“, sagt die 26-jährige Gila. Seit acht Jahren ist sie mit Mila zusammen, partnerschaftliche Sexualität können sie nur durch Oral- oder Analsex erleben, denn es ist wichtig, die Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit zu bewahren. Die Familie des Bräutigams kann sogar einen Test verlangen.

Strategien, um die Liebe zu leben

Aber immerhin Oral- oder Analsex? Ja, jedoch nur gut versteckt, nur bei absoluter Ungestörtheit. Niemand darf davon wissen, niemals dürfen sie sich erwischen lassen. Es sind ausgeklügelte Strategien notwendig, um die Liebe zu leben. Gilas Mutter ist so konservativ, dass sie Mila nicht als Partner ihrer Tochter akzeptiert. Ihr wäre eine arrangierte Ehe lieber, bei der sie den Mann für ihre Tochter aussucht.

Für westliche Augen und Ohren scheinen diese Berichte grotesk und wie aus einer Dystopie. Das aber ist genau der wichtige Beitrag, den die Comic-Reportage jungen Menschen in Deutschland für ihr Verständnis der Situation im Iran liefern kann.

Der französische Verleger, Illustrator und Comic-Autor Zac Deloupy hat „Liebe auf Iranisch“ behutsam gezeichnet, und er fängt die bedrückte, wenig hoffnungsfrohe Stimmung hervorragend durch eine besondere Farbgebung ein. Dabei entwirft er immer wieder deutliche Sinnbilder, etwa in dem Panel, in dem er den mit Messer und Gabel essenden Präsidenten Rohani zeigt. Auf dem Teller vor ihm liegt der Iran als Landfläche, von der er sich Iranerinnen und Iraner einverleibt, während andere vor der nahenden Gefahr flüchten.

Wie hält man das aus?

An anderer Stelle zeichnet Deloupy ein Liebespaar, das eng umschlungen spazieren geht. Alle Passanten in ihrer Nähe halten Luftballons in der Hand, auf denen Augen prangen und das Paar unentwegt beobachten. Denunzianten sind überall, und ein Liebespaar ist in der Öffentlichkeit niemals sicher, solange es nicht verheiratet ist. Wie hält man das aus? Welche enorme Geduld haben diese jungen Menschen? Oder wie verzagt sind sie?

Eine Interviewte sagt zu Jane Deuxard: „Eine Revolution heute? Unmöglich. Das Regime lässt nichts mehr durchgehen. Es kontrolliert alles.“ Es ist die Zeit der Präsidentschaft von Hassan Rohani, den die internationale Gemeinschaft einen Reformer nannte. Doch die Reformen kamen nie. Ein anderer, der 20-jährige Kellner und heimliche (verbotene) Rockmusiker Saviosh, sagt resigniert: „Ich glaube, die Leute haben heute keine Kraft mehr zu kämpfen. Wir sind zermürbt. Vielleicht kommt es mit der nächsten Generation… unsere ist erschöpft.“

Heute ist Ebrahim Raisi als Präsident des Irans an der Macht, ein Befürworter der Geschlechtertrennung, der Todesstrafe und der Internet-Zensur. Er lehnt die westliche Kultur ab. Ist eine Revolution also unmöglich? Der Politologe Jonathan White sagt im Februar 2022 im Tagesspiegel: „Jede Revolution scheint unmöglich – am Abend, bevor sie stattfindet. Revolutionen sind genau deswegen Ereignisse, weil sie überraschend sind, weil sie aus dem Lauf der Zeit herausstechen, weil sie komplett die Erwartungen durcheinanderwirbeln.“ Eines Morgens werden die Proteste möglicherweise Revolution genannt werden können. Halten wir die Augen offen!

Jane Deuxard / Deloupy: Liebe auf Iranisch, Splitter-Verlag, Bielefeld, 2017, 144 Seiten, gebunden, 19,80 Euro, ISBN 978-3958395435

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  1. Danke für diesen wunderbaren und so wichtigen Artikel zu ‚Liebe auf Iranisch‘.
    Die Hoffnung bleibt, dass sich eines Tages der Wunsch nach einer Revolution im Sinne der Menschlichkeit erfüllen wird!

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