Liebe wird aus Mut gemacht

Dass Liebeskummer Herz-Schmerz bedeuten kann, ist den meisten Menschen bekannt, die schon einmal aufrichtig geliebt haben in ihrem Leben und damit voll vor die Wand gefahren sind. Bei manchen Menschen ist die emotionale Belastung so stark, dass Mediziner*innen von einem Broken-Heart-Syndrom sprechen: Diese Menschen leiden an einem gebrochenen Herzen. Lange Zeit galt es als Mythos, dass man daran sterben kann. Mittlerweile weiß man, dass das unbehandelt genauso gefährlich werden kann wie ein Herzinfarkt.

Was also verspricht ein Roman, wenn er den Titel „An Liebe stirbst du nicht“ trägt? Hoffnung vor allem. Stärke. Vielleicht auch ein „Das wird schon wieder“, was man eben so sagt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Der Debütroman „An Liebe stirbst du nicht“ der französischen Autorin Géraldine Dalban-Moreynas, erstmals auf Deutsch erschienen im Jahr 2020, handelt von einer Liebe, die töten könnte, und sie geht so derbe ans Herz, an das der Protagonist*innen, aber auch an das der Leser*innen. Wenn Sie gerade schweren Liebeskummer haben, sollten Sie eher nicht zu diesem Buch greifen, obgleich es so Hoffnung macht im Titel.

Sie ist verstört, verwirrt, er auch

Es ist November und bald auch Dezember. Ganz Paris bereitet sich schon auf Weihnachten vor, das Fest der Liebe. Eine Frau, 30 Jahre alt, erfolgreiche Journalistin, ist vor wenigen Monaten mit ihrem Freund in ein Loft in der Nähe des Canal Saint Martin gezogen, angesagtes Viertel und so. Im nächsten Sommer wollen sie heiraten, das Hochzeitskleid ist bereits bestellt. Zwei Stockwerke über dem Paar zieht eine Familie ein. Er ist Anwalt, 30 Jahre alt, verheiratet, die beiden haben eine kleine Tochter. Im Innenhof begegnen sich die Journalistin und der Geschäftsmann zum ersten Mal. Sie hat das Gefühl, alles in ihr würde einstürzen, sie ist verstört, verwirrt. Er auch. Beide sagen nichts, sie schauen nur. Die Zeit bleibt stehen. Alles dauert nur Sekunden, aber dieser Moment entscheidet den zukünftigen Weg, der ab hier eine rasante Kurve nimmt und deren Verlauf in Dunkelheit liegt.

Die beiden stürzen sich in eine Amour fou, die nichts auslässt an Dramatik, Leidenschaft, Sexualität, Verletzlichkeit, Bangen und Hoffen. Zwei Menschen, die gefesselt sind, voneinander, aber auch an das Leben, in dem sie stecken und das für sie ursprünglich der Plan für die Zukunft war. Eine lange Zeit sind beide egoistisch, kosten den neuen Weg aus, betrügen unaufhörlich ihre Partner und sich selbst, verstricken sich mehr und mehr in ihr Lügengeflecht, um jede freie Minute miteinander auskosten zu können.

Genügt diese fiebrige Anziehung?

Dass es nicht nur eine kurz aufflammende Alltagsflucht ist, ist beiden bald klar. Was aber ist die Konsequenz? Soll er seine kleine Tochter und seine Frau verlassen? Soll sie die Hochzeit canceln und ihren Verlobten verlassen? Mit welchem Wissen denn? Genügt diese fiebrige Anziehung, genügt es, dass beide sich noch nie mit einem Menschen so gut verstanden haben? Genügen die Gefühle? Die unerschöpfliche Sehnsucht? Welche Garantie haben sie, dass sie sich richtig entscheiden? Was ist die Perspektive? Im Roman heißt es, es brauche Mut, um glücklich sein zu können.

Ob einer von beiden oder gar beide diesen Mut finden, soll hier nicht verraten werden. Wohl aber, dass dieser Roman anders ist als die zahlreichen Romane, die zu diesem Thema bereits erschienen sind. Dalban-Moreynas, die selbst einmal Journalistin war, erzählt die Liebesgeschichte der beiden Protagonist*innen und ihr Hadern aufregend, mit viel Herz, oft sehr erotisch, aber dann auch wieder mit klarem Verstand, präzise. Sie schreibt aus Sicht der Frau, nutzt aber auch den Blick eines allwissenden Erzählers, der die Zukunft kennt und Hinweise darauf einstreut.

Wir alle, die wir lieben und geliebt haben – und vielleicht auch eine solche alles verschlingende Amour fou schon erlebt haben, werden uns beim Lesen an ihm oder ihr messen. Haben wir uns selbst richtig entschieden? Wie würden wir handeln, wenn wir an seiner oder ihrer Stelle wären? Die Unmittelbarkeit der beschriebenen Gefühle tut uns beim Lesen selbst ein wenig weh, so intensiv berührend ist dieser Roman, der 2019 in Frankreich mit dem Prix du Premier Roman ausgezeichnet wurde. Wenn Sie ihn noch nicht gelesen haben, holen Sie das in diesem Frühjahr nach!

Géraldine Dalban-Moreynas: An Liebe stirbst du nicht, Nagel & Kimche, München, 2020, 192 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3312011742

Géraldine Dalban-Moreynas: An Liebe stirbst du nicht, Goldmann-Verlag, München, 2022, 192 Seiten, Taschenbuch, 12 Euro, ISBN 978-3442492527

Iraner*in, Leben, Freiheit

Seit Wochen protestieren im Iran Frauen und Männer unter Todesgefahr gegen das Regime und zeigen sich scheinbar wenig beeindruckt von den gewalttätigen Einschüchterungsversuchen der Staatsführung. Die hat derweil Mitte Dezember 2022 das zweite Todesurteil gegen einen Demonstranten vollstreckt. Laut „Amnesty International“ droht mindestens 26 weiteren Menschen die Hinrichtung (Stand: 16. Dezember 2022). Hadi Ghaemi, Direktor des Iran Center for Human Rights in New York, sagte in einem Interview mit der CNN-Journalistin Christiane Amanpour, die Islamische Republik Iran vollstrecke „staatliche Lynchjustiz gegen die eigene Bevölkerung“.

Auslöser für die Proteste, die manche iranische Stimmen inzwischen lieber eine Revolution nennen, war der staatliche Femizid an der 22-jährigen Kurdin Mahsa Zhina Amini. Das iranische Regime hatte behauptet, Zhina Amini sei an einem plötzlichen Herzversagen verstorben. Sie war zuvor festgenommen worden, weil sie ihr Kopftuch nicht „richtig“ trug. Nach der Festnahme und nach zwei Tagen im Koma starb sie am 16. September 2022 in einem Krankenhaus in Teheran.

Überall im Land gehen die Protestierenden auf die Straße, um für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen und Queers bis hin zu einem Ende der Diktatur zu kämpfen. Die einst kurdische Parole „Frau, Leben, Freiheit“ („Jin, Jiyan, Azadî“) wird auch von Männern solidarisch verwendet. Die Proteste erreichen alle Städte und alle Schichten. Und sie finden weltweit Beachtung. In Deutschland haben Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf ihre Instagram-Accounts und deren Reichweite zwei iranischen Aktivistinnen zur Verfügung gestellt und die Proteste damit in Publikumsbereichen bekannt gemacht, die bei Nachrichten vielleicht sonst eher umschalten.

Einmal mehr viel Beachtung verdient

Damit die Aufmerksamkeit weltweit weiterhin groß bleibt, heißt es, jegliche Möglichkeit zu nutzen, um alle gesellschaftlichen Schichten und alle Altersklassen zu informieren. Schon im Jahr 2017 hat der Splitter-Verlag aus Bielefeld einen Comic herausgebracht, der hervorragend geeignet ist, junge Menschen und Comic-Leser*innen tiefer über den Iran zu informieren, und der deshalb in diesen Zeiten einmal mehr viel Beachtung verdient hat. Es ist der Comic „Liebe auf Iranisch“ von Jane Deuxard und Deloupy.

Jane Deuxard ist das Pseudonym eines französischen Journalistenpaars, die jeweils einzeln bereits national und international ausgezeichnet wurden. Die beiden arbeiten unter dem Decknamen, um weiterhin im Iran recherchieren zu können. Vor allem aber nutzen sie das Pseudonym, um ihre Quellen im Iran zu schützen, jene Menschen, denen sie auf ihren Reisen begegnen und die es gewagt haben, ihnen offen und ehrlich von ihrem Leben zu erzählen. Denn Jane Deuxard sehen das als ihre Aufgabe an: den Iranerinnen und Iranern durch ihre Recherchen eine Stimme zu geben.

„Die Polizeipatrouillen sind überall“, schreibt das unverheiratete Paar. „Jedes Mal, wenn sie vorbeikommen, schweigen wir und senken den Blick. Würde man uns entdecken und festnehmen, wären die Iraner, die bereit waren, mit uns zu reden, in Gefahr. Wir sind ständig angespannt.“

Unverstellte Einblicke in das Leben im Iran

„Liebe auf Iranisch“ erzählt keine Geschichte, ist kein Comic-Roman, sondern zeigt episodisch Iranerinnen und Iraner in den jeweiligen Gesprächssituationen mit Jane Deuxard und erlaubt damit unverstellte Einblicke in das Leben im Iran unter der Präsidentschaft von Mahmud Ahmadineschād sowie unter der seines Nachfolgers Hassan Rohani.

Die Porträtierten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, sie kommen aus allen sozialen Milieus des Landes, und sie alle eint der Wunsch, freiheitlich lieben zu dürfen, unabhängig davon, was ihnen das Regime oder die Tradition oder die Religion vorschreiben. Mal mit der Partnerin oder dem Partner im Café einen Latte Macchiato trinken? Abends gemeinsam ins Bett fallen und am besten gleich übereinander her? Sich in der Öffentlichkeit küssen?

Nein, nicht im Iran. Nichts davon. „Solange wir nicht verheiratet sind, können wir nicht miteinander schlafen“, sagt die 26-jährige Gila. Seit acht Jahren ist sie mit Mila zusammen, partnerschaftliche Sexualität können sie nur durch Oral- oder Analsex erleben, denn es ist wichtig, die Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit zu bewahren. Die Familie des Bräutigams kann sogar einen Test verlangen.

Strategien, um die Liebe zu leben

Aber immerhin Oral- oder Analsex? Ja, jedoch nur gut versteckt, nur bei absoluter Ungestörtheit. Niemand darf davon wissen, niemals dürfen sie sich erwischen lassen. Es sind ausgeklügelte Strategien notwendig, um die Liebe zu leben. Gilas Mutter ist so konservativ, dass sie Mila nicht als Partner ihrer Tochter akzeptiert. Ihr wäre eine arrangierte Ehe lieber, bei der sie den Mann für ihre Tochter aussucht.

Für westliche Augen und Ohren scheinen diese Berichte grotesk und wie aus einer Dystopie. Das aber ist genau der wichtige Beitrag, den die Comic-Reportage jungen Menschen in Deutschland für ihr Verständnis der Situation im Iran liefern kann.

Der französische Verleger, Illustrator und Comic-Autor Zac Deloupy hat „Liebe auf Iranisch“ behutsam gezeichnet, und er fängt die bedrückte, wenig hoffnungsfrohe Stimmung hervorragend durch eine besondere Farbgebung ein. Dabei entwirft er immer wieder deutliche Sinnbilder, etwa in dem Panel, in dem er den mit Messer und Gabel essenden Präsidenten Rohani zeigt. Auf dem Teller vor ihm liegt der Iran als Landfläche, von der er sich Iranerinnen und Iraner einverleibt, während andere vor der nahenden Gefahr flüchten.

Wie hält man das aus?

An anderer Stelle zeichnet Deloupy ein Liebespaar, das eng umschlungen spazieren geht. Alle Passanten in ihrer Nähe halten Luftballons in der Hand, auf denen Augen prangen und das Paar unentwegt beobachten. Denunzianten sind überall, und ein Liebespaar ist in der Öffentlichkeit niemals sicher, solange es nicht verheiratet ist. Wie hält man das aus? Welche enorme Geduld haben diese jungen Menschen? Oder wie verzagt sind sie?

Eine Interviewte sagt zu Jane Deuxard: „Eine Revolution heute? Unmöglich. Das Regime lässt nichts mehr durchgehen. Es kontrolliert alles.“ Es ist die Zeit der Präsidentschaft von Hassan Rohani, den die internationale Gemeinschaft einen Reformer nannte. Doch die Reformen kamen nie. Ein anderer, der 20-jährige Kellner und heimliche (verbotene) Rockmusiker Saviosh, sagt resigniert: „Ich glaube, die Leute haben heute keine Kraft mehr zu kämpfen. Wir sind zermürbt. Vielleicht kommt es mit der nächsten Generation… unsere ist erschöpft.“

Heute ist Ebrahim Raisi als Präsident des Irans an der Macht, ein Befürworter der Geschlechtertrennung, der Todesstrafe und der Internet-Zensur. Er lehnt die westliche Kultur ab. Ist eine Revolution also unmöglich? Der Politologe Jonathan White sagt im Februar 2022 im Tagesspiegel: „Jede Revolution scheint unmöglich – am Abend, bevor sie stattfindet. Revolutionen sind genau deswegen Ereignisse, weil sie überraschend sind, weil sie aus dem Lauf der Zeit herausstechen, weil sie komplett die Erwartungen durcheinanderwirbeln.“ Eines Morgens werden die Proteste möglicherweise Revolution genannt werden können. Halten wir die Augen offen!

Jane Deuxard / Deloupy: Liebe auf Iranisch, Splitter-Verlag, Bielefeld, 2017, 144 Seiten, gebunden, 19,80 Euro, ISBN 978-3958395435

Fury, Black Beauty und der Kleine Onkel – alle tot

Der Schotte Greg Buchanan hat ursprünglich als Drehbuchautor für Videospiele gearbeitet. Unter anderem trug er zum Erfolg von „Metro: Exodus“ und „No Man’s Sky“ bei. Jetzt hat Buchanan seinen ersten Roman veröffentlicht, und er ist dunkel, verstörend, brillant – ein überzeugender Erstling.

„Sechzehn Pferde“ erzählt von einem mysteriösen und erschreckenden Fund auf einer Farm des englischen Küstenorts Ilmarsh. Dort entdeckt ein junges Mädchen auf einer morastigen Wiese sechzehn Pferdeköpfe, abgeschlachtet und kreisförmig zueinander vergraben bis auf jeweils ein Auge pro Kopf, das leer in den Himmel blickt.

Die marode Kleinstadt, die in ihrer Bruchbudenhaftigkeit – und der allgegenwärtig wehmütigen Reminiszenz an einst goldene Zeiten – an das „Joyland“ von Stephen King erinnert, erbebt unter dem Schrecken der offenbar tierquälerischen Grausamkeit.

Kein Mord, sondern allenfalls Sachbeschädigung

Detective Sergeant Alec Nichols ermittelt widerstrebend. Es sei ja eigentlich kein Mord, sondern Sachbeschädigung, sagt er. Andererseits kribbelt das detektivische Interesse. Wer würde 16 Pferde töten, und woher nehmen, wenn nicht stehlen? Waren hier Okkultisten am Werk? Ist es was Persönliches? Für die Obduktion und weitere Tataufklärung wird die Veterinärforensikerin Dr. Cooper Allen hinzugezogen. Vier Tage soll sie bleiben, dann, so die Hoffnung, sei das Verbrechen sicher aufgeklärt.

Doch davon sind Nichols und Allen weit entfernt. Die Ermittlungen ziehen sich hin, denn es bleibt nicht bei diesem einen Verbrechen. Es brennt, jemand hat einen Unfall, ein Junge verschwindet, eine abgetrennte Fingerkuppe findet sich, eine Mutter verlässt Mann und Tochter. Und dann, ja, dann werden die Menschen krank. Denn die Pferdeköpfe waren mit einer Anthrax-Variante verseucht. Sie meinen, jetzt kann es ja nicht noch ärger kommen? Doch.

Gehört zu den besten literarischen Krimis des Jahres

Was Greg Buchanan da komponiert hat, gehört zu den besten literarisch hochwertigen Kriminalromanen dieses Jahres. Obgleich es sich spannend liest, ist es kein Pageturner im eigentlichen Sinne einfach gestrickter Krimi-Massenware. Als Leser*in braucht es viel Konzentration und Aufmerksamkeit. An manchen Stellen ist es sperrig und unwirtlich wie der dort beschriebene düstere November an der englischen Ostküste. An anderen Stellen spielt der Autor mit den Ängsten und Erwartungen seiner Leser*innen, zieht sie an unsichtbaren Fäden mal in die eine Richtung, dann wieder abrupt in die andere, und oft ist es dort sehr, sehr dunkel.

Seine Figuren zeichnet er hervorragend. Er hat ein feinsinniges Gespür für Menschen, denen alles genommen wird, für die Abgehalfterten, Abgehängten, die Unsichtbaren. Seine beiden Hauptpersonen lässt er ungeschützt in die Welt. Beide ähneln sich, laufen aber auf unterschiedlichen Spuren und kollidieren manchmal. Nichols ist der knurrige Eigenbrötler, der sich nicht vom Krebs-Tod seiner Frau erholt hat. Allen ist den Menschen immerhin ein wenig zugewandt, aber wortkarg und reserviert. Humor suchen Sie in diesem Roman vergeblich, hier erstickt jede Fröhlichkeit.

Greg Buchanan, der 1989 geboren wurde und in Cambridge Englisch studiert hat, ist weltweit erfolgreich mit seinem Debüt. Der Roman wurde in 17 Sprachen verkauft, und auch die Film- und Fernsehrechte sind schon vergeben. Derzeit schreibt Buchanan an zwei weiteren Romanen, in mindestens einem davon wird Cooper Allen wieder auf der Bildfläche auftauchen.

Das Pferdegemetzel von Ilmarsh wird sicherlich auf Dauer einen Fixpunkt in der literarischen Arbeit von Greg Buchanan einnehmen. Alle Nachfolger werden sich daran messen lassen müssen. Denn den Schrecken des Höhepunkts vergisst niemand, der diesen Roman gelesen hat.

Greg Buchanan: Sechzehn Pferde, Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 2022, 444 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3103974881, Leseprobe

Von den flatterigen Launen der Liebe im alten Frankreich

Sie war mit Antoine de Saint-Exupéry verlobt, in zweiter Ehe ein paar Monate mit dem österreichisch-ungarischen Playboy Pál Graf Pálffy de Erdöd verheiratet und genoss Liebesaffären mit Jean Cocteau, Thomas Maria Graf Paul Esterházy de Galántha und mit dem britischen Botschafter Alfred Duff Cooper. Die Rede ist von Louise de Vilmorin, der heute leider ein wenig in Vergessenheit geratenen französischen Autorin.

Am 4. April wäre sie 120 Jahre alt geworden – Anlass genug, um ihre Romane endlich neu zu entdecken. Seit einigen Jahren bringt der Dörlemann-Verlag in Zürich ihre Bücher in wunderbaren Neuübersetzungen heraus. Zuletzt ist in diesem Jahr „Belles Amours“ (im französischen Original: „Les Belles Amours“, 1954) erschienen, ein überwältigender, tragikomischer Roman über Liebe, Versuchung, Freundschaft, Untreue und Rache in einer verzwickten Dreiecksbeziehung. Für Sammler*innen von Aphorismen und Bonmots ist das Buch zugleich eine wahre Fundgrube.

Angelt sich der Sohn die falsche Frau?

Der 30-jährige Samenhändler Louis Duville führt mit seinem Vater ein alteingesessenes Geschäft in der französischen Provinz. Zum Leidwesen seiner Eltern gibt der Filius das sauer verdiente Geld mit vollen Händen in Paris wieder aus, mit Frauen und Freunden, für schnelle Autos, Pferderennen und amouröse Abenteuer, aber ohne dass sich eine der vielen Damen an seiner Seite dauerhaft verfestigen würde. Die elterliche Sorge ist deshalb groß, dass sich der Luftikus die falsche Frau angelt, noch dazu möglicherweise von anrüchiger Herkunft.

Madame Duville wird deshalb selbst aktiv, mustert auf Hochzeiten die Brautjungfern und lädt passende Frauen in das familiäre Landhaus nach Valronce ein. Doch alle verlassen das Anwesen wieder, ohne eine Liebe zu entfachen. Da will es das Schicksal eines Tages wohl gut meinen mit der verzweifelten Madame Duville, denn ein Cousin schaut mit seiner Nichte in Valronce vorbei.

„Er küsste sie, sie blickten sich an, und es war alles gesagt“

Die 25-Jährige ist schon Witwe, ihr Mann 1918 im Krieg gefallen. Durch einen kleinen Zufall, eine zeitliche Koexistenz an einem Ort, begegnet Louis Duville der jungen Witwe und schlägt lang hin. Es braucht nur einen kurzen Spaziergang, wenige Liebesschwüre, einen Kuss und den gemeinsamen Traum vom Leben zu zweit, dann ist alles besiegelt: „Er küsste sie, sie blickten sich an, und es war alles gesagt.“ Sie sind verliebt, verlobt, und verheiratet sollen sie auch bald sein. Doch damit fängt der Trubel erst richtig an.

Denn zur Hochzeit im Herbst 1925 kommt auch ein guter Freund der Familie, der 54-jährige weltmännische Monsieur Zaraguirre aus Südamerika, ein Prachtkerl, der mit seiner Ausstrahlung und im lockeren Plauderton Frauen für sich begeistert, ein Frauenheld, wie Louis Duville selbst einer war, bis er seine Braut traf. Doch Duvilles Glück währt nicht lang, denn auch Monsieur Zaraguirre verliebt sich in die Braut und macht als Mann von Welt kurzen Prozess: Noch am Abend vor der Hochzeit flieht er mit der Braut – und heiratet sie selbst.

Könnte jetzt zu Ende sein, der Roman? Nix da – der wird jetzt noch besser und dreht die nächsten Twists! Denn der düpierte Louis Duville sinnt auf Rache.

Herrlich beißender Sarkasmus

Die beiden Frauenhelden kommen in „Belles Amours“ nicht gut weg, aber auch den Frauenfiguren widmet sich Vilmorin mit herrlich beißendem Sarkasmus, vor allem der naiven Braut, aber auch der ebenso schlichten, aber immerhin herzensguten Madame Duville. Die Mutter des Bräutigams lässt sich etwa zu sinnstiftenden Sätzen hinreißen wie: „Will man Ordnung schaffen, muss man zunächst Chaos stiften.“ Zur Hochzeit ihres Sohnes wünscht sie sich Vollmond, denn „das macht immer besonders viel her“. Und als ihr Mann ihr wenig Hoffnung macht, dass ihr Wunsch zu erfüllen sei, gibt sie munter zurück: „Manche wissen sich immer zu helfen. Man braucht einfach nur zu beten. Du vergisst, dass es Wunder gibt.“

Hinreißend beschrieben ist auch Madame Dajeu, eine entzückend direkte und fortschrittliche Pariserin, die sich mit Madame Zaraguirre anfreundet und ihr das flirrende Paris zeigt. Madame Dajeu ist eine Bereicherung, auch für den Roman. Über die Ehe sagt sie: „Die Ehe hat zwar viele Nachteile, aber sie liefert uns Frauen wenigstens ehrenwerte Vorwände. So kann eine Frau ihren Mann betrügen, weil sie ihn liebt, und wenn sie ihr Ziel erreicht hat, wird sie, gerade weil sie ihn liebt, jede etwaig eigennützige Verbindung kappen, durch die sie sich schuldig machen würde.“

Louise de Vilmorin weiß, wovon sie schreibt, sie war selbst zweimal verheiratet und bei amourösen Abenteuern auch kein Kind von Traurigkeit. Sie lässt Madame Dajeu sagen: „Ein vernünftiger Mann gibt sich mit den Lügen seiner Frau zufrieden.“ Und weiter: „Eine Frau sollte vor allem das Gewissen und das Mitgefühl eines Mannes erobern. Das wird ihn nicht unbedingt davon abhalten, sie zu betrügen, aber so muss er sein Tun wenigstens hinterfragen und wird meistens Skrupel haben, die Betrogene zu verlassen. Damit ist ihre Ehre gerettet, und das ist das Wichtigste.“ Und über Männer sagt sie: „Männer haben es besser. Selbst wenn sie halbtot sind, merkt man ihnen nichts an. Sie sehen immer gleich aus.“

Mit viel Witz und Herzenswärme geschrieben

Vilmorin hat diesen teuflischen Roman über die flatterigen Launen der Liebe mit viel Witz und Herzenswärme geschrieben, und Patricia Klobusiczky hat ihn gekonnt in ein vorzügliches Deutsch übersetzt. „Belles Amours“ ist leichte, nicht aber seichte Lektüre. Der Roman zeigt uns vortrefflich, wie schwierig zu finden ist, wovon schon der französische Schriftsteller Honoré de Balzac 1839 in der Erzählung „Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan“ („Les secrets de la princesse de Cadignan“) schrieb: „Wir können lieben, ohne glücklich zu sein; wir können glücklich sein, ohne zu lieben, aber lieben und glücklich sein – diese beiden, so großen menschlichen Genüsse zu verbinden, dazu bedarf es eines Wunders.“ Vielleicht aber hat Madame Duville recht: Man vergisst, dass es Wunder gibt.

Ein solches wäre auch Louise de Vilmorin zu wünschen, auf dass ihre Bücher wieder einem breiteren Publikum bekannt werden. Ihre Werke wurden erstmalig 1953 bis 1962 ins Deutsche übertragen und zuletzt seit 2009 im Dörlemann-Verlag veröffentlicht, jeweils in Neuübersetzungen von Patricia Klobusiczky. Vom Verlag heißt es, es sei nicht ausgeschlossen, dass die Reihe fortgeführt wird, konkrete Planungen gibt es jedoch noch nicht. Dabei hat Vilmorin nicht nur die bereits veröffentlichten Romane geschrieben, sondern auch noch einige Gedichtbände. Im französischen Verlag Gallimard sind außerdem Briefwechsel von Louise de Vilmorin erschienen, darunter auch die Korrespondenz, die Louise de Vilmorin mit Jean Cocteau ausgetauscht hat und ein neues Licht auf die Beziehung wirft, die sie seit 1934 pflegten.1)

Doch noch einmal zurück zu „Belles Amours“: Ein Nachbar der Duvilles sagt am Schluss: „Was für eine Geschichte, mein Lieber, was für ein Roman!“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Parbleu!

Louise de Vilmorin: Belles Amours, Dörlemann-Verlag, Zürich, 2022, 254 Seiten, gebunden, Leinen, mit Lesebändchen, 22 Euro, ISBN 978-3038201021, Leseprobe

Seitengang dankt dem Dörlemann-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

1) Wer sich näher mit Louise de Vilmorin beschäftigen möchte, findet von Elodie Nel weitere Informationen zur Biografie in MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003 ff. Stand vom 12. November 2015, zuletzt abgerufen am 4. April 2022. Wer des Französischen mächtig ist, sollte sich auch die beiden Video-Interviews von 1955 und 1964 ansehen.

Blasse Kühe, starke Figuren

Der Debütroman „Und Nilas sprang“ der schwedischen Kulturjournalistin Maria Broberg ist ein langsames Buch, das Zeit braucht, um sich und seine Geschichte zu entwickeln. Die Mühe durchzuhalten lohnt sich aber! Am Ende wissen Sie: Ich habe soeben gute, schwedische Literatur gelesen. „Und Nilas sprang“ erzählt von einem spurlos verschwundenen Jungen, einer heimlichen Liebe; und von Familiengeheimnissen, von Rassismus, Vaterfiguren und solchen, die es nie sein werden.

Der Roman spielt in Olsele, einem kleinen Dorf in Norrland, dem nördlichsten der drei schwedischen Landesteile. Olsele, gelegen in der Provinz Västerbotten, ist nur eine Ansammlung von Häusern und landwirtschaftlichen Höfen. Es gibt eine Kirche und eine Art Kaufmannsladen, den Sigurd jedoch in seinem Wohnhaus am Ende eines langen Flurs betreibt. Immerhin: mit einer richtigen Kaufmannstheke.

Dabei ist das verboten

Die Einwohner von Olsele sind wortkarge Menschen. Sogar die Kühe sollen in Olsele blasser sein als anderswo, heißt es. Aber die Landschaft ist schön, und es gibt auch einen Fluss, an dem es sich fischen lässt und auf dem die Flößer das Holz befördern. Die Kinder gehen auf den im Wasser treibenden Stämmen balancieren und zwischen ihnen schwimmen, dabei ist das verboten.

Der Roman setzt 1948 ein, als der 17-jährige Assar die neu ins Dorf gezogene Margareta kennenlernt, die wesentlich älter ist als er. Nach acht Kilometern, die sie gemeinsam gehen, ist er sozusagen in Liebe entbrannt. Doch Margareta ist mit dem noch wesentlich älteren Hebbe liiert, einem Musiker, der fantastisch Ziehharmonika spielen kann. Margareta sagt über ihre Beziehung treffend: „Es hat seine Vorteile, und es hat seine Nachteile. Ich habe viel Musik im Leben. Aber vielleicht nicht viel anderes.“

Wir lernen außerdem Håkan kennen. Seine Sicht der Geschichte beginnt 1956. Hebbe lehrt ihm in diesem Sommer das Fischen, verbietet ihm ab weiterhin, ihn Papa zu nennen. „Hebbe. Nicht Papa, nicht Vati, nicht einmal Vater.“

Dabei hat er doch nur diesen Vater, so wie er nur diese eine Mutter hat, die er selbstverständlich Mama nennt. Nicht: Margareta. Aber Hebbe bleibt eisern. Viele Tage haben sie nicht mehr gemeinsam, denn es ist Hebbes letzter Sommer.

Der dramatische Reigen der Charaktere

Der Roman erzählt sich in Zeitsprüngen bis zum Jahr 2008 überwiegend aus Sicht von Assar und Håkan. Assar wird die Liebe zu Margareta zeit seines Lebens nicht aufgeben, Margareta bandelt nach dem Tod von Hebbe mit dem Sami Lars an, der bei ihr einzieht, und mit ihr einen Sohn zeugt: Nilas. Gleichzeitig beruht Assars Leidenschaft für Margareta auf Gegenseitigkeit, sie hat sich nur wesentlich besser im Griff als er. Voilà, der dramatische Reigen der Charaktere ist aufgestellt.

Die drei zentralen Figuren gelingen der Autorin hervorragend. Die eigentlich verbotene Liebe zwischen Assar und Margareta, das gegenseitige Angezogensein und das Nichtvoneinanderlassenkönnen, die fortwährende Faszination, die auch Jahre später nicht nachlässt, das ist mitreißend beschrieben. Wer bereits verzweifelt geliebt hat, wird in diesen Passagen emotional zutiefst berührt werden. Insbesondere Margareta steht uns lebendig vor Augen, die pragmatisch sein will, aber nicht kann, und von ihrer Umgebung in ein zu enges Korsett geschnürt wird.

Suche nach der eigenen Identität

Auch Håkan ist stark gezeichnet: Das Kind, das einen Vater sucht, den einen nicht so nennen darf, der zweite ist fast nie da, weil er sich ständig um seine Rentiere kümmern muss. Und dann ist da noch die Sache mit Nilas, seinem verschwundenen Bruder. Auch Håkan ist zerrissen von Schuldgefühlen und der Suche nach der eigenen Identität.

„Und Nilas sprang“ ist kein Kriminalroman, sondern eine dramatische Familiengeschichte auf sprachlich hohem Niveau, melancholisch und sehr nordisch. Das Rätsel um das verschwundene Kind entwirrt sich erst am Ende des Buchs. Doch es bleiben genügend Fragen offen, und das ist klug gelöst von Maria Broberg, denn so befriedigend ist das Leben nun mal nicht. Von dieser Autorin werden wir hoffentlich bald mehr lesen.

Maria Broberg: Und Nilas sprang, Verlag Nagel & Kimche, München, 2021, 266 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3312012503

Seitengang dankt dem Verlag Nagel & Kimche für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

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