Liebe wird aus Mut gemacht

Dass Liebeskummer Herz-Schmerz bedeuten kann, ist den meisten Menschen bekannt, die schon einmal aufrichtig geliebt haben in ihrem Leben und damit voll vor die Wand gefahren sind. Bei manchen Menschen ist die emotionale Belastung so stark, dass Mediziner*innen von einem Broken-Heart-Syndrom sprechen: Diese Menschen leiden an einem gebrochenen Herzen. Lange Zeit galt es als Mythos, dass man daran sterben kann. Mittlerweile weiß man, dass das unbehandelt genauso gefährlich werden kann wie ein Herzinfarkt.

Was also verspricht ein Roman, wenn er den Titel „An Liebe stirbst du nicht“ trägt? Hoffnung vor allem. Stärke. Vielleicht auch ein „Das wird schon wieder“, was man eben so sagt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Der Debütroman „An Liebe stirbst du nicht“ der französischen Autorin Géraldine Dalban-Moreynas, erstmals auf Deutsch erschienen im Jahr 2020, handelt von einer Liebe, die töten könnte, und sie geht so derbe ans Herz, an das der Protagonist*innen, aber auch an das der Leser*innen. Wenn Sie gerade schweren Liebeskummer haben, sollten Sie eher nicht zu diesem Buch greifen, obgleich es so Hoffnung macht im Titel.

Sie ist verstört, verwirrt, er auch

Es ist November und bald auch Dezember. Ganz Paris bereitet sich schon auf Weihnachten vor, das Fest der Liebe. Eine Frau, 30 Jahre alt, erfolgreiche Journalistin, ist vor wenigen Monaten mit ihrem Freund in ein Loft in der Nähe des Canal Saint Martin gezogen, angesagtes Viertel und so. Im nächsten Sommer wollen sie heiraten, das Hochzeitskleid ist bereits bestellt. Zwei Stockwerke über dem Paar zieht eine Familie ein. Er ist Anwalt, 30 Jahre alt, verheiratet, die beiden haben eine kleine Tochter. Im Innenhof begegnen sich die Journalistin und der Geschäftsmann zum ersten Mal. Sie hat das Gefühl, alles in ihr würde einstürzen, sie ist verstört, verwirrt. Er auch. Beide sagen nichts, sie schauen nur. Die Zeit bleibt stehen. Alles dauert nur Sekunden, aber dieser Moment entscheidet den zukünftigen Weg, der ab hier eine rasante Kurve nimmt und deren Verlauf in Dunkelheit liegt.

Die beiden stürzen sich in eine Amour fou, die nichts auslässt an Dramatik, Leidenschaft, Sexualität, Verletzlichkeit, Bangen und Hoffen. Zwei Menschen, die gefesselt sind, voneinander, aber auch an das Leben, in dem sie stecken und das für sie ursprünglich der Plan für die Zukunft war. Eine lange Zeit sind beide egoistisch, kosten den neuen Weg aus, betrügen unaufhörlich ihre Partner und sich selbst, verstricken sich mehr und mehr in ihr Lügengeflecht, um jede freie Minute miteinander auskosten zu können.

Genügt diese fiebrige Anziehung?

Dass es nicht nur eine kurz aufflammende Alltagsflucht ist, ist beiden bald klar. Was aber ist die Konsequenz? Soll er seine kleine Tochter und seine Frau verlassen? Soll sie die Hochzeit canceln und ihren Verlobten verlassen? Mit welchem Wissen denn? Genügt diese fiebrige Anziehung, genügt es, dass beide sich noch nie mit einem Menschen so gut verstanden haben? Genügen die Gefühle? Die unerschöpfliche Sehnsucht? Welche Garantie haben sie, dass sie sich richtig entscheiden? Was ist die Perspektive? Im Roman heißt es, es brauche Mut, um glücklich sein zu können.

Ob einer von beiden oder gar beide diesen Mut finden, soll hier nicht verraten werden. Wohl aber, dass dieser Roman anders ist als die zahlreichen Romane, die zu diesem Thema bereits erschienen sind. Dalban-Moreynas, die selbst einmal Journalistin war, erzählt die Liebesgeschichte der beiden Protagonist*innen und ihr Hadern aufregend, mit viel Herz, oft sehr erotisch, aber dann auch wieder mit klarem Verstand, präzise. Sie schreibt aus Sicht der Frau, nutzt aber auch den Blick eines allwissenden Erzählers, der die Zukunft kennt und Hinweise darauf einstreut.

Wir alle, die wir lieben und geliebt haben – und vielleicht auch eine solche alles verschlingende Amour fou schon erlebt haben, werden uns beim Lesen an ihm oder ihr messen. Haben wir uns selbst richtig entschieden? Wie würden wir handeln, wenn wir an seiner oder ihrer Stelle wären? Die Unmittelbarkeit der beschriebenen Gefühle tut uns beim Lesen selbst ein wenig weh, so intensiv berührend ist dieser Roman, der 2019 in Frankreich mit dem Prix du Premier Roman ausgezeichnet wurde. Wenn Sie ihn noch nicht gelesen haben, holen Sie das in diesem Frühjahr nach!

Géraldine Dalban-Moreynas: An Liebe stirbst du nicht, Nagel & Kimche, München, 2020, 192 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3312011742

Géraldine Dalban-Moreynas: An Liebe stirbst du nicht, Goldmann-Verlag, München, 2022, 192 Seiten, Taschenbuch, 12 Euro, ISBN 978-3442492527

Zurück in die Zeitung

Kennen Sie noch das Videospiel „Paperboy“ aus den späten 1980er bis frühen 1990er Jahren? Man steuerte einen US-amerikanischen Zeitungsjungen auf einem BMX und musste möglichst alle Abonnent*innen einer Straße mit Zeitungen beliefern, natürlich im hohen Bogen vom Fahrrad aus. Punktabzüge gab es für eingeworfene Scheiben oder falls Zeitungsbesteller*innen leer ausgingen. Die Spielfigur damals war ein Junge, aber natürlich gibt es auch Mädchen und Frauen in dem Job. Vier ganz besonderen Papergirls haben der Autor Brian K. Vaughan und Zeichner Cliff Chiang eine sechsteilige Comic-Serie gewidmet, die nun auch in einer Gesamtausgabe erschienen ist. Fans der 1980er Jahre, von BMX; Walkie-Talkies, Zeitreisen und Außerirdischen, die nach Hause telefonieren wollen; sollten ihren Walkman mal zur Seite legen und die „Paper Girls“ zur Hand nehmen. Und: Richtig, es gibt auch eine Serienadaption davon.

Es ist 4.40 Uhr am sogenannten Höllen-Morgen des Jahres 1988, der Morgen nach Halloween, wenn auf den Straßen die letzten angetrunkenen Nachtschwärmer und Halbstarken unterwegs sind und die Stadtreinigung die Reste vom Feste noch nicht beseitigt hat. Um diese Zeit machen sich die Zeitungsbot*innen des Cleveland Preserver auf den Weg, um in Stony Stream, einem fiktiven Vorort von Cleveland (Ohio), die Zeitungen in die Vorgärten und bestenfalls auf die Fußmatten zu werfen. Zum ersten Mal ist auch die zwölfjährige Erin Tieng dabei und gerät im Morgengrauen gleich an ein Trio pubertärer Dumpfbacken.

Doch die Nacht ist noch nicht vorbei

Hilfe ist unterwegs, denn auch die drei Mädchen Mac, KJ und Tiff radeln mit Zeitungen durch die Straßen. Ganz besonders Mac ist nicht auf den Mund gefallen, sie vertreibt die Jungs und nimmt Erin in ihre Obhut. Doch die Nacht ist noch nicht vorbei, und der Zusammenprall mit den Jungs nur ein laues Lüftchen gegen das, was sich bisher unerkannt in ihrer Stadt zusammenbraut.

Nur wenig später werden zwei der Mädchen von drei Typen in seltsamen Geisterkostümen überfallen, zu viert nehmen die „Paper Girls“ die Verfolgung auf. Ob es wieder die Halbstarken sind, die sich für ihre Schmach rächen wollen? Die Mädchen vermuten das Versteck im Keller eines Hauses, entdecken dort jedoch keine Menschenseele, sondern eine Maschine oder ein Gerät, das wie eine alte Apollo-Kapsel aussieht.

Der Strom fällt aus, Taschenlampen funktionieren nicht mehr, und der Himmel über der Stadt leuchtet mit einem Mal in bunten Farben. Das Polarlicht ist nichts dagegen. Als schließlich noch Flugsaurier am Himmel auftauchen, flüchten die Mädchen zu Macs Eltern. „Mein Dad hat ne Knarre“, sagt Mac. Und mit Knarren, das wissen Amerikaner*innen, kann man alle Probleme lösen. Durch ein Missgeschick fängt sich Erin eine Kugel ein, und da auch das Telefon natürlich nicht mehr funktioniert, Macs Stiefmutter durch ihr Alkoholproblem fahruntüchtig ist, ist die tapfere Mac wieder die einzige, die sie aus diesem Schlamassel rausholen kann.

Begegnung mit den eigenen Ichs

Sie meinen, jetzt wäre die ganze Geschichte schon erzählt? Weit gefehlt – das war erst der Anfang dieser wahnwitzigen sechsbändigen Reihe um die vier „Paper Girls“. Thematisch bleibt es nicht bei Flugsauriern und Apollo-Kapseln, sondern – und das ist nicht zu viel verraten – die vier Mädchen geraten im weiteren Verlauf in eine kosmische Auseinandersetzung von zwei Zeitreise-Gruppen und begegnen ihren eigenen Ichs in unterschiedlichen Zeiten.

Ein älterer Schüler sagt im ersten Band der Reihe: „Ich bin wohl ganz schön high.“ Anders lässt sich das vermutlich nicht erklären, was der US-amerikanische Erfolgsautor Brian K. Vaughan („Saga“, „We stand on guard“, Drehbuch-Mitarbeit für die TV-Serie „Lost“, Autor für die TV-Serie „Under the Dome“) hier an Ideen auffährt. Manch einem mag das etwas überfrachtet vorkommen, auf einer Länge von 800 Seiten aber haben alle Neben-und Haupt-Erzählstränge ausreichend Platz, allen voran auch die ausgeklügelten Figurenzeichnungen der vier Mädchen, die sich mit einer Vielzahl von Themen beschäftigen: Freundschaft, Queerness, Tod, Liebe, People of Colour, Holocaust, Videospiele, Zeitreisen, Rich Kids, Armut, Alkoholismus. Teilweise geht es heftig zur Sache.

Stimmungsvolle Retro-Kolorierung

Cliff Chiang fängt das Gefühl der 1980er Jahre, diese wunderbare Nostalgie, zeichnerisch hervorragend und authentisch ein, auch in der Optik der Personen. Referenzen allerdings setzt er dezent ein, was raffiniert ist, weil es die Story nicht stört. Die stimmungsvolle Retro-Kolorierung durch Matt Wilson tut das Übrige zum optischen Gelingen dieser Reihe, die sich geradezu liebevoll um ihre Protagonist*innen kümmert, um ihnen den perfekten Boden für ihre eigene Geschichte zu bereiten. 2016 wurde die Reihe mit den renommierten Eisner-Awards für die „Beste neue Serie“ und Chiang als „Bester Zeichner“ ausgezeichnet.

Im Sommer 2022 veröffentliche der Streaming-Dienst „Amazon Prime Video“ schließlich die acht Episoden lange erste Staffel der Serien-Adaption von „Paper Girls“. Nur um wenige Wochen später zu verkünden, dass es keine weiteren Staffeln der Serie geben werde. Vermutlich gingen die „Paper Girls“ in der fetten Marketing-Kampagne zu „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ einfach unter. Ein wenig Hoffnung besteht noch, dass das co-produzierende Studio „Legendary Television“ einen anderen Streaming-Dienst findet, der die verrückte Zeitreise fortsetzen möchte. Mit Kindern auf Fahrrädern in den 80er Jahren kann man in Büchern und Filmen ja eigentlich nie etwas falsch machen.

„Paper Girls“ hebt diese einfache Formel auf ein geniales neues Level: Es ist eine intelligente, herrlich komische, feministische und sehr unterhaltsame Coming-of-Age-Geschichte, die deutlich macht, wie schön die Kindheit sein könnte, wenn nicht die Erwachsenenwelt ständig in sie hineinbräche. Unbedingt lesen!

Brian K. Vaughan: Paper Girls 1, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959811408
Brian K. Vaughan: Paper Girls 2, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959814102
Brian K. Vaughan: Paper Girls 3, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959815611
Brian K. Vaughan: Paper Girls 4, Cross Cult, Ludwigsburg, 2018, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959817677
Brian K. Vaughan: Paper Girls 5, Cross Cult, Ludwigsburg, 2019, 152 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959818261
Brian K. Vaughan: Paper Girls 6, Cross Cult, Ludwigsburg, 2019, 128 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959818261
Brian K. Vaughan: Paper Girls – die komplette Geschichte, Cross Cult, Ludwigsburg, 2022, 800 Seiten, gebunden, 99 Euro, ISBN 978-3966588720
Brian K. Vaughan: Paper Girls – die komplette Geschichte, Cross Cult, Ludwigsburg, 2022, 800 Seiten, Taschenbuch, 60 Euro, ISBN 978-3966589963

Das ganze Leben ist ein Spiel

Katzen haben sieben Leben, in England sogar neun. In Computerspielen hat man meist mindestens drei, manchmal sogar unendlich viele Leben. Wir Menschen aber verfügen sehr wahrscheinlich nur über ein einziges Leben. Wie soll man da nicht verzweifeln angesichts der Möglichkeiten, dieses eine Leben zu füllen und die richtigen Wege zu gehen?

In Gabrielle Zevins wundervollem neuen Roman „Morgen, morgen und wieder morgen“ begegnen wir zwei jungen Menschen, die dieser Diskrepanz zu begegnen versuchen. Und gleichzeitig ist dieses Buch vermutlich das tollste Buch, was je über Videogamer*innen geschrieben worden ist (und nicht etwa über Prokrastination, wie manche den Titel auch deuten).

Sadie Green ist elf Jahre alt, als sie Mitte der 1980er Jahre in Los Angeles im Flur eines Krankenhauses sitzt und darauf wartet, dass sie wieder in das Zimmer ihrer 13-jährigen Schwester darf, die an Leukämie erkrankt ist. Ein Pfleger erbarmt sich des Mädchens und bringt es in den Aufenthaltsraum der Station, wo Sadie auf den gleichaltrigen Sam Masur trifft, der gerade dabei ist, „Super Mario Brothers“ zu spielen. Sein linker Fuß steckt in einem Metallkäfig, und er kann sich nur auf Krücken bewegen. Sein Fuß ist siebenundzwanzigmal gebrochen, erzählt er Sadie. An diesem Nachmittag teilen sie sich die verfügbaren Leben von „Super Mario“. Es ist der Beginn einer Kinderfreundschaft, die durch ein Missverständnis ein jähes Ende nimmt.

Ein scheinbar belangloses Wiedersehen

Als Sam 21 Jahre alt ist, studiert er in Cambridge und trifft eines Tages wieder auf Sadie, die, wie er weiß, dort ebenfalls studiert. Es ist ein scheinbar belangloses Wiedersehen, das jedoch durch den Austausch einer 3,25-Zoll-Diskette die alte Freundschaft zunächst zögerlich, dann mit einigem Esprit wiederbelebt. Denn beide sind immer noch begeistert von Computerspielen aller Art. Sie kennen sich nicht nur hervorragend aus, sondern Sadie schreibt bereits ihre ersten, kleinen Computerspiele. Sie beginnen, ihre gegenseitigen Talente nicht nur einfach zu begreifen, sondern auch auch als lohnenswert zu begreifen, vor allem dann, wenn man sie vereint. Gemeinsam erschaffen sie ein Spiel namens „Ichigo“, in dem ein Kind den Weg nach Hause finden muss.

Das wiederum ist geradezu ein Kunstgriff der Autorin, denn auch wenn sich der Roman im Zentrum um die beiden Freunde herumentwickelt, so ist es eigentlich ein Roman über jeweils ein Kind, Sadie und Sam, das den Weg nach Hause finden muss. Und wie es in Spielen Nebenquests gibt und Monster und Fallen und Gegner, so haben Sadie und Sam im echten Leben auch Nebenaufgaben zu bewältigen, Monster zu bekämpfen, Fallen auszuweichen und Gegner (mund)tot zu machen. Und wie ein Spieler bestenfalls von seinem Spiel gefesselt ist, so werden Sie als Leser*in von diesem Roman gefesselt sein, weil Ihnen die beiden (Spiel-)Figuren Sadie und Sam so derbe ans Herzen wachsen.

Zevin erzählt anspruchsvoll, sprachlich treffend

Auch die Nebenfiguren des Romans sind hervorragend besetzt. Da ist zum Beispiel Sadies Professor Dov, ein cholerischer Typ, der von seinen Student*innen gefürchtet wird, aber Sadies Potenzial in der Spieleentwicklung entdeckt. Über den Verlauf des Buches lernen wir ihn als zweigesichtigen Menschen kennen, der vor allem zunehmend toxisch wird. Dann ist da noch Marx, Sams Mitbewohner zu College-Zeiten, der Sam liebt wie einen Bruder, dass es zu Tränen rührt. Zevin erzählt ihren Roman anspruchsvoll, sprachlich treffend, aber unaufgeregt, was die Leser*innen in gefährlicher Sicherheit wiegt, denn dieses Buch ist wie eine Achterbahnfahrt im Dunkeln, und so sehen wir schreckliche Dinge erst dann, wenn sie schon direkt vor uns liegen und die Achterbahn nicht mehr zu bremsen ist.

Gabrielle Zevin ist in Deutschland relativ unbekannt. Auf Deutsch erschien von ihr unter anderem „Die Widerspenstigkeit des Glücks“ (2016), das von einem Buchladen handelt, sowie ihr Debüt „Anderswo“, das vom Time-Magazine als eines der „100 besten Bücher für junge Erwachsene aller Zeiten“ gelobt wurde. Die deutsche Übersetzung ist leider vergriffen. Zevin wurde in New York als Tochter einer koreanischen Mutter und eines jüdisch-amerikanischen Vaters geboren, die beide in der IT-Branche gearbeitet haben. Wie Sadie und Sam hat auch ihre Autorin in Cambridge studiert.

Wer in den 1980er und 1990er Jahren jung war, kann an diesem Buch eigentlich nicht vorbei, denn es erzählt so wundervoll davon, wie Videospiele wie „Pac-Man“ und „Maniac Manson“ und „Super Mario“ und all die anderen eine ganze Generation geprägt haben. Es erzählt von Freundschaft und Liebe und von dem ganzen Spiel des Lebens, in dem wir alle daran arbeiten, unseren Weg zu finden.

Gabrielle Zevin: Morgen, morgen und wieder morgen, Eichborn-Verlag, Köln, 2023, 560 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3847901297, Leseprobe

Seitengang dankt dem Eichborn-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Iraner*in, Leben, Freiheit

Seit Wochen protestieren im Iran Frauen und Männer unter Todesgefahr gegen das Regime und zeigen sich scheinbar wenig beeindruckt von den gewalttätigen Einschüchterungsversuchen der Staatsführung. Die hat derweil Mitte Dezember 2022 das zweite Todesurteil gegen einen Demonstranten vollstreckt. Laut „Amnesty International“ droht mindestens 26 weiteren Menschen die Hinrichtung (Stand: 16. Dezember 2022). Hadi Ghaemi, Direktor des Iran Center for Human Rights in New York, sagte in einem Interview mit der CNN-Journalistin Christiane Amanpour, die Islamische Republik Iran vollstrecke „staatliche Lynchjustiz gegen die eigene Bevölkerung“.

Auslöser für die Proteste, die manche iranische Stimmen inzwischen lieber eine Revolution nennen, war der staatliche Femizid an der 22-jährigen Kurdin Mahsa Zhina Amini. Das iranische Regime hatte behauptet, Zhina Amini sei an einem plötzlichen Herzversagen verstorben. Sie war zuvor festgenommen worden, weil sie ihr Kopftuch nicht „richtig“ trug. Nach der Festnahme und nach zwei Tagen im Koma starb sie am 16. September 2022 in einem Krankenhaus in Teheran.

Überall im Land gehen die Protestierenden auf die Straße, um für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen und Queers bis hin zu einem Ende der Diktatur zu kämpfen. Die einst kurdische Parole „Frau, Leben, Freiheit“ („Jin, Jiyan, Azadî“) wird auch von Männern solidarisch verwendet. Die Proteste erreichen alle Städte und alle Schichten. Und sie finden weltweit Beachtung. In Deutschland haben Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf ihre Instagram-Accounts und deren Reichweite zwei iranischen Aktivistinnen zur Verfügung gestellt und die Proteste damit in Publikumsbereichen bekannt gemacht, die bei Nachrichten vielleicht sonst eher umschalten.

Einmal mehr viel Beachtung verdient

Damit die Aufmerksamkeit weltweit weiterhin groß bleibt, heißt es, jegliche Möglichkeit zu nutzen, um alle gesellschaftlichen Schichten und alle Altersklassen zu informieren. Schon im Jahr 2017 hat der Splitter-Verlag aus Bielefeld einen Comic herausgebracht, der hervorragend geeignet ist, junge Menschen und Comic-Leser*innen tiefer über den Iran zu informieren, und der deshalb in diesen Zeiten einmal mehr viel Beachtung verdient hat. Es ist der Comic „Liebe auf Iranisch“ von Jane Deuxard und Deloupy.

Jane Deuxard ist das Pseudonym eines französischen Journalistenpaars, die jeweils einzeln bereits national und international ausgezeichnet wurden. Die beiden arbeiten unter dem Decknamen, um weiterhin im Iran recherchieren zu können. Vor allem aber nutzen sie das Pseudonym, um ihre Quellen im Iran zu schützen, jene Menschen, denen sie auf ihren Reisen begegnen und die es gewagt haben, ihnen offen und ehrlich von ihrem Leben zu erzählen. Denn Jane Deuxard sehen das als ihre Aufgabe an: den Iranerinnen und Iranern durch ihre Recherchen eine Stimme zu geben.

„Die Polizeipatrouillen sind überall“, schreibt das unverheiratete Paar. „Jedes Mal, wenn sie vorbeikommen, schweigen wir und senken den Blick. Würde man uns entdecken und festnehmen, wären die Iraner, die bereit waren, mit uns zu reden, in Gefahr. Wir sind ständig angespannt.“

Unverstellte Einblicke in das Leben im Iran

„Liebe auf Iranisch“ erzählt keine Geschichte, ist kein Comic-Roman, sondern zeigt episodisch Iranerinnen und Iraner in den jeweiligen Gesprächssituationen mit Jane Deuxard und erlaubt damit unverstellte Einblicke in das Leben im Iran unter der Präsidentschaft von Mahmud Ahmadineschād sowie unter der seines Nachfolgers Hassan Rohani.

Die Porträtierten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, sie kommen aus allen sozialen Milieus des Landes, und sie alle eint der Wunsch, freiheitlich lieben zu dürfen, unabhängig davon, was ihnen das Regime oder die Tradition oder die Religion vorschreiben. Mal mit der Partnerin oder dem Partner im Café einen Latte Macchiato trinken? Abends gemeinsam ins Bett fallen und am besten gleich übereinander her? Sich in der Öffentlichkeit küssen?

Nein, nicht im Iran. Nichts davon. „Solange wir nicht verheiratet sind, können wir nicht miteinander schlafen“, sagt die 26-jährige Gila. Seit acht Jahren ist sie mit Mila zusammen, partnerschaftliche Sexualität können sie nur durch Oral- oder Analsex erleben, denn es ist wichtig, die Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit zu bewahren. Die Familie des Bräutigams kann sogar einen Test verlangen.

Strategien, um die Liebe zu leben

Aber immerhin Oral- oder Analsex? Ja, jedoch nur gut versteckt, nur bei absoluter Ungestörtheit. Niemand darf davon wissen, niemals dürfen sie sich erwischen lassen. Es sind ausgeklügelte Strategien notwendig, um die Liebe zu leben. Gilas Mutter ist so konservativ, dass sie Mila nicht als Partner ihrer Tochter akzeptiert. Ihr wäre eine arrangierte Ehe lieber, bei der sie den Mann für ihre Tochter aussucht.

Für westliche Augen und Ohren scheinen diese Berichte grotesk und wie aus einer Dystopie. Das aber ist genau der wichtige Beitrag, den die Comic-Reportage jungen Menschen in Deutschland für ihr Verständnis der Situation im Iran liefern kann.

Der französische Verleger, Illustrator und Comic-Autor Zac Deloupy hat „Liebe auf Iranisch“ behutsam gezeichnet, und er fängt die bedrückte, wenig hoffnungsfrohe Stimmung hervorragend durch eine besondere Farbgebung ein. Dabei entwirft er immer wieder deutliche Sinnbilder, etwa in dem Panel, in dem er den mit Messer und Gabel essenden Präsidenten Rohani zeigt. Auf dem Teller vor ihm liegt der Iran als Landfläche, von der er sich Iranerinnen und Iraner einverleibt, während andere vor der nahenden Gefahr flüchten.

Wie hält man das aus?

An anderer Stelle zeichnet Deloupy ein Liebespaar, das eng umschlungen spazieren geht. Alle Passanten in ihrer Nähe halten Luftballons in der Hand, auf denen Augen prangen und das Paar unentwegt beobachten. Denunzianten sind überall, und ein Liebespaar ist in der Öffentlichkeit niemals sicher, solange es nicht verheiratet ist. Wie hält man das aus? Welche enorme Geduld haben diese jungen Menschen? Oder wie verzagt sind sie?

Eine Interviewte sagt zu Jane Deuxard: „Eine Revolution heute? Unmöglich. Das Regime lässt nichts mehr durchgehen. Es kontrolliert alles.“ Es ist die Zeit der Präsidentschaft von Hassan Rohani, den die internationale Gemeinschaft einen Reformer nannte. Doch die Reformen kamen nie. Ein anderer, der 20-jährige Kellner und heimliche (verbotene) Rockmusiker Saviosh, sagt resigniert: „Ich glaube, die Leute haben heute keine Kraft mehr zu kämpfen. Wir sind zermürbt. Vielleicht kommt es mit der nächsten Generation… unsere ist erschöpft.“

Heute ist Ebrahim Raisi als Präsident des Irans an der Macht, ein Befürworter der Geschlechtertrennung, der Todesstrafe und der Internet-Zensur. Er lehnt die westliche Kultur ab. Ist eine Revolution also unmöglich? Der Politologe Jonathan White sagt im Februar 2022 im Tagesspiegel: „Jede Revolution scheint unmöglich – am Abend, bevor sie stattfindet. Revolutionen sind genau deswegen Ereignisse, weil sie überraschend sind, weil sie aus dem Lauf der Zeit herausstechen, weil sie komplett die Erwartungen durcheinanderwirbeln.“ Eines Morgens werden die Proteste möglicherweise Revolution genannt werden können. Halten wir die Augen offen!

Jane Deuxard / Deloupy: Liebe auf Iranisch, Splitter-Verlag, Bielefeld, 2017, 144 Seiten, gebunden, 19,80 Euro, ISBN 978-3958395435

Fury, Black Beauty und der Kleine Onkel – alle tot

Der Schotte Greg Buchanan hat ursprünglich als Drehbuchautor für Videospiele gearbeitet. Unter anderem trug er zum Erfolg von „Metro: Exodus“ und „No Man’s Sky“ bei. Jetzt hat Buchanan seinen ersten Roman veröffentlicht, und er ist dunkel, verstörend, brillant – ein überzeugender Erstling.

„Sechzehn Pferde“ erzählt von einem mysteriösen und erschreckenden Fund auf einer Farm des englischen Küstenorts Ilmarsh. Dort entdeckt ein junges Mädchen auf einer morastigen Wiese sechzehn Pferdeköpfe, abgeschlachtet und kreisförmig zueinander vergraben bis auf jeweils ein Auge pro Kopf, das leer in den Himmel blickt.

Die marode Kleinstadt, die in ihrer Bruchbudenhaftigkeit – und der allgegenwärtig wehmütigen Reminiszenz an einst goldene Zeiten – an das „Joyland“ von Stephen King erinnert, erbebt unter dem Schrecken der offenbar tierquälerischen Grausamkeit.

Kein Mord, sondern allenfalls Sachbeschädigung

Detective Sergeant Alec Nichols ermittelt widerstrebend. Es sei ja eigentlich kein Mord, sondern Sachbeschädigung, sagt er. Andererseits kribbelt das detektivische Interesse. Wer würde 16 Pferde töten, und woher nehmen, wenn nicht stehlen? Waren hier Okkultisten am Werk? Ist es was Persönliches? Für die Obduktion und weitere Tataufklärung wird die Veterinärforensikerin Dr. Cooper Allen hinzugezogen. Vier Tage soll sie bleiben, dann, so die Hoffnung, sei das Verbrechen sicher aufgeklärt.

Doch davon sind Nichols und Allen weit entfernt. Die Ermittlungen ziehen sich hin, denn es bleibt nicht bei diesem einen Verbrechen. Es brennt, jemand hat einen Unfall, ein Junge verschwindet, eine abgetrennte Fingerkuppe findet sich, eine Mutter verlässt Mann und Tochter. Und dann, ja, dann werden die Menschen krank. Denn die Pferdeköpfe waren mit einer Anthrax-Variante verseucht. Sie meinen, jetzt kann es ja nicht noch ärger kommen? Doch.

Gehört zu den besten literarischen Krimis des Jahres

Was Greg Buchanan da komponiert hat, gehört zu den besten literarisch hochwertigen Kriminalromanen dieses Jahres. Obgleich es sich spannend liest, ist es kein Pageturner im eigentlichen Sinne einfach gestrickter Krimi-Massenware. Als Leser*in braucht es viel Konzentration und Aufmerksamkeit. An manchen Stellen ist es sperrig und unwirtlich wie der dort beschriebene düstere November an der englischen Ostküste. An anderen Stellen spielt der Autor mit den Ängsten und Erwartungen seiner Leser*innen, zieht sie an unsichtbaren Fäden mal in die eine Richtung, dann wieder abrupt in die andere, und oft ist es dort sehr, sehr dunkel.

Seine Figuren zeichnet er hervorragend. Er hat ein feinsinniges Gespür für Menschen, denen alles genommen wird, für die Abgehalfterten, Abgehängten, die Unsichtbaren. Seine beiden Hauptpersonen lässt er ungeschützt in die Welt. Beide ähneln sich, laufen aber auf unterschiedlichen Spuren und kollidieren manchmal. Nichols ist der knurrige Eigenbrötler, der sich nicht vom Krebs-Tod seiner Frau erholt hat. Allen ist den Menschen immerhin ein wenig zugewandt, aber wortkarg und reserviert. Humor suchen Sie in diesem Roman vergeblich, hier erstickt jede Fröhlichkeit.

Greg Buchanan, der 1989 geboren wurde und in Cambridge Englisch studiert hat, ist weltweit erfolgreich mit seinem Debüt. Der Roman wurde in 17 Sprachen verkauft, und auch die Film- und Fernsehrechte sind schon vergeben. Derzeit schreibt Buchanan an zwei weiteren Romanen, in mindestens einem davon wird Cooper Allen wieder auf der Bildfläche auftauchen.

Das Pferdegemetzel von Ilmarsh wird sicherlich auf Dauer einen Fixpunkt in der literarischen Arbeit von Greg Buchanan einnehmen. Alle Nachfolger werden sich daran messen lassen müssen. Denn den Schrecken des Höhepunkts vergisst niemand, der diesen Roman gelesen hat.

Greg Buchanan: Sechzehn Pferde, Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 2022, 444 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3103974881, Leseprobe

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