„Coming-out ist kein Tag, sondern ein Prozess“, sagt Linus Giese. Der 37-Jährige arbeitet als Buchhändler und Autor in Berlin. Vor fünf Jahren hatte Giese sein Coming-out als trans* Mann. Seine Transition dokumentiert er unter anderem auf Instagram und Twitter. Im Jahr 2020 erschien sein Memoir „Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war“ und wurde ein Bestseller; er ist eine der wichtigsten Stimmen der trans* Community. Jetzt legt Giese mit dem kleinen, offenherzig geschriebenen Band „Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung“ nach und eröffnet damit die Reihe „Briefe an die kommenden Generationen“ des Kjona-Verlags.
Jonas ist ein trans* Junge, der mit seiner Mutter zu Giese in den Buchladen kam, in dem er damals arbeitete, und ihm erzählte, wie gern er sein Buch „Ich bin Linus“ gelesen habe. Auch die Mutter hatte das Buch gelesen und vertraute Giese an, dass Jonas noch ganz am Anfang stehe. Er habe den ganze Weg noch vor sich. Das beeindruckte Giese nachhaltig, vor allem, dass Jonas offenbar von seiner Mutter unterstützt wurde. Sie hatte nicht nur Gieses Buch gelesen, sondern war bereit, Jonas auf seinem Weg zu begleiten. Am nächsten Tag wollten die beiden am „Christopher Street Day“ teilnehmen, erinnert sich Giese.
Giese gibt Einblicke in seine eigene Jugend
Dass trans* Jugendliche von ihren Eltern unterstützt werden, kommt leider immer noch zu selten vor, weiß er. Deshalb entstand aus Jonas‘ Besuch der Impuls, über ihn, seinen Weg und sein zukünftiges Leben zu schreiben und damit auch anderen trans* Jugendlichen zu helfen. Giese gibt auch Einblicke in seine eigene Jugend und vergleicht sie mit jener der heutigen Generation. Glücklicherweise gibt es inzwischen immer mehr Erfahrungsberichte für trans* Menschen und auch generelle Aufklärungsbücher für Unwissende, die vielleicht sehr plötzlich durch ein Coming-out einer nahestehenden Person mehr wissen wollen. Als weitere Hilfestellung hängt Giese dem Buch eine kleine Literaturliste an.
Nicht zuletzt durch seine Offenheit ist Linus Giese zu einem wichtigen Sprachrohr für alle trans* Menschen geworden. Viele holen sich auch Rat bei ihm, erzählt er, obgleich er selbst schon Anfang 30 war, als er sein Coming-out hatte. Im Grunde aber ist es egal, in welchem Alter trans* Menschen diesen Schritt gehen. Wichtig für alle ist ein Satz, den Giese ans Ende seines Buches stellt, der sich aber auf jeder vorherigen Seite findet, nur in anderen Worten. Ein Satz also, der wie ein unsichtbarer roter Faden alles durchdringt: „Bitte nicht vergessen: Niemals aufhören anzufangen!“
Junge Menschen wie Jonas sind heutzutage „aufgeklärter“, als Linus Giese sein konnte, als er in Jonas‘ Alter war. Giese spürte zum ersten Mal in seiner Pubertät, wie binär alles ist, standardisiert, eine „zementierte Norm“. Er habe sich in seiner Kindheit und Jugend in den 1990er Jahren niemals selbst in einem Buch gespiegelt gesehen. „Ich bin, was ich bin – auch wenn es mir nie erklärt, gezeigt oder vorgelebt wurde.“ Jahrelang habe er gelesen, um sich selbst in Büchern zu finden. Ohne Erfolg.
Menschen müssen sehen können: Ich bin nicht alleine
Das aber ist heutzutage anders. Es gibt zahlreiche Bücher, fiktionale und non-fiktionale, Serien, Filme. Es gibt trans* Stars auf den Bühnen weltweit und trans* Menschen, die im Bundestag sitzen. „Ich hoffe und glaube, dass wir heutzutage weiter sind als zu der Zeit, in der ich zur Schule gegangen bin“, schreibt Giese. Sehen und gesehen werden – das ist ultimativ wichtig. Ganz am Anfang seines Buches schreibt er: „Es ist schwer, von etwas zu träumen, wenn du es nicht sehen kannst.“ Und später: „Ein Kind kann nur das werden, was es sieht.“ Ihm selbst seien während seiner Schulzeit keine queeren Menschen begegnet, keine trans* oder nicht-binären Menschen, dabei muss es sie gegeben haben. Sie waren nur nicht so sichtbar wie heute. Menschen müssen aber sehen können: Ich bin nicht alleine.
Linus Giese nimmt in seinem Buch auch Bezug auf das neue und seit vielen Jahren geforderte Selbstbestimmungsgesetz, das in diesem Jahr in Kraft treten, das veraltete Transsexuellengesetz ersetzen und die diversen Hürden beseitigen soll, die trans* Menschen bis dato noch nehmen müssen. Trans* und nicht-binären Menschen soll das Gesetz den Zugang zur Namens- und Personenstandsänderung wesentlich erleichtern. Das nämlich ist bis heute eine zeit- und kostenintensive Tortur. Ganz unabhängig davon, dass sich trans* Menschen noch einem langwierigen und übergriffigen Verhör von zwei Gutachter*innen unterziehen müssen, die dann schließlich entscheiden dürfen, ob Menschen ihr eingetragenes Geschlecht ändern dürfen. Ganz ehrlich: In welcher Zeit leben wir denn, bitte?
Konservative reagierten von Beginn an mit harscher Kritik und hinterfragenswerten Argumenten wie jenen, das von SPD, Grünen und FDP geplante Selbstbestimmungsgesetz sei ein zu lockeres Angebot und könne es Sexualstraftätern erleichtern, in besondere Schutzräume von Frauen vorzudringen. In der Emma von Alice Schwarzer warnte ein umstrittener Jugendpsychiater vor einem „Transhype“, ohnehin ist die Emma, nach eigenen Angaben ein sogenanntes „feministisches Magazin“, auf einem Kreuzzug gegen die „sich anbahnende Katastrophe“. Alice Schwarzer warnt in einer „Streitschrift“ mit dem Titel „Transsexualität – was ist eine Frau? Was ist ein Mann?“ vor einer „Trans-Mode“.
Ganz sicher ist Trans* kein Hype und kein Trend
Linus Giese sagt darauf völlig zurecht: „Cis Männer brauchen keine Personenstandsänderung, um Gewalt gegen Frauen ausüben zu können. (…) Niemand muss den Personenstand ändern, um Frauen auf einer Toilette aufzulauern. (…) Frauen müssen vor Gewalt geschützt werden, doch das hat nichts mit dem Selbstbestimmungsgesetz zu tun.“ Und ganz sicher ist Trans* kein Hype und kein Trend.
Dass trans* Menschen verbale Gewalt entgegenschlägt, ist vor allem in den sozialen Medien verbreitet. In einem Interview mit dem Spiegel (paid) sagte Giese: „Ich kann eigentlich kaum einem jungen Menschen guten Gewissens empfehlen, auf Twitter offen über die eigene Transgeschlechtlichkeit zu sprechen. Das Risiko, dort angefeindet, beschimpft oder bedroht zu werden, ist einfach sehr hoch.“ Trans* Menschen werden abgewertet, übelst beleidigt und mit Hass überschüttet. Aber auch in der realen Welt ist man nicht davor gefeit. Giese berichtet in „Lieber Jonas“, wie ihm Menschen gar vor der eigenen Haustür die Klingel- und Briefkastenschilder mit dem alten Namen überklebten.
Leitfäden für Medienschaffende
Den alten, abgelegten Namen zu nennen, Deadnaming zu betreiben, ist auch 2023 noch immer verbreitet. Auch Journalist*innen wissen oft nicht richtig Bescheid oder sind wenig sensibilisiert, dabei gibt es gute Leitfäden für Medienschaffende. Die „Vereinigung von Menschen mit Variante der Geschlechtsentwicklung“, kurz VDGE, etwa hat hier einen empfehlenswerten Leitfaden zusammengestellt. Und auch die Menschenrechtsaktivistin Julia Monro stellt auf ihrer Webseite einen Leitfaden zur diskriminierungsfreien Berichterstattung zum Download zur Verfügung.
Dennoch finden sich immer wieder Artikel, in denen Deadnames verwendet werden. Zuletzt übernahmen die Kieler Nachrichten in einer Pressemitteilung der Polizei ungefiltert deren Formulierung, so dass der abgelegte Name eines vermissten Jungen genannt wurde. Die Redaktion entschuldigte sich später dafür, allerdings mit wenig Einsicht, wie Jeja Klein bei queer.de sehr schön aufschlüsselt. Einen lesenswerten Beitrag zum Thema Deadnaming und Journalist*innen gibt es auch von Linus Giese selbst auf seinem Blog.
Linus Giese schreibt auch in „Lieber Jonas“ bewährt ehrlich und schonungslos. Seine persönlichen Erfahrungen werden nicht nur Kindern und Jugendlichen helfen, die in Jonas‘ Alter sind, sondern auch ihren Eltern, Verwandten und Freunden. Vielleicht aber, und das ist ihm zu wünschen, ist der nur 75 Seiten lange Band kurz genug dafür, dass ihn alle lesen, vor allem diejenigen, die eben keine direkte Verbindung zu trans* Menschen haben. Möge er für mehr Verständnis sorgen. Für mehr Sichtbarkeit. Für mehr Einsicht, warum es klug ist, wenn wir selbst darüber entscheiden dürfen, welchen Namen wir tragen und ob wir einem Geschlecht angehören und wenn ja, welchem. Es ist ein wichtiges Buch. Und ein nötiges.
Linus Giese: Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung, Kjona-Verlag, München, 2023, 75 Seiten, gebunden, 18 Euro, ISBN 978-3910372061, Leseprobe
Linus Giese: Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung, Hörbuch, gelesen von Linus Giese, Argon-Verlag, Berlin, 2023, Laufzeit: 72 Minuten, 12,95 Euro, ISBN 978-3732407446, Hörprobe
Seitengang dankt dem Kjona-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.