Katzen haben sieben Leben, in England sogar neun. In Computerspielen hat man meist mindestens drei, manchmal sogar unendlich viele Leben. Wir Menschen aber verfügen sehr wahrscheinlich nur über ein einziges Leben. Wie soll man da nicht verzweifeln angesichts der Möglichkeiten, dieses eine Leben zu füllen und die richtigen Wege zu gehen?
In Gabrielle Zevins wundervollem neuen Roman „Morgen, morgen und wieder morgen“ begegnen wir zwei jungen Menschen, die dieser Diskrepanz zu begegnen versuchen. Und gleichzeitig ist dieses Buch vermutlich das tollste Buch, was je über Videogamer*innen geschrieben worden ist (und nicht etwa über Prokrastination, wie manche den Titel auch deuten).
Sadie Green ist elf Jahre alt, als sie Mitte der 1980er Jahre in Los Angeles im Flur eines Krankenhauses sitzt und darauf wartet, dass sie wieder in das Zimmer ihrer 13-jährigen Schwester darf, die an Leukämie erkrankt ist. Ein Pfleger erbarmt sich des Mädchens und bringt es in den Aufenthaltsraum der Station, wo Sadie auf den gleichaltrigen Sam Masur trifft, der gerade dabei ist, „Super Mario Brothers“ zu spielen. Sein linker Fuß steckt in einem Metallkäfig, und er kann sich nur auf Krücken bewegen. Sein Fuß ist siebenundzwanzigmal gebrochen, erzählt er Sadie. An diesem Nachmittag teilen sie sich die verfügbaren Leben von „Super Mario“. Es ist der Beginn einer Kinderfreundschaft, die durch ein Missverständnis ein jähes Ende nimmt.
Ein scheinbar belangloses Wiedersehen
Als Sam 21 Jahre alt ist, studiert er in Cambridge und trifft eines Tages wieder auf Sadie, die, wie er weiß, dort ebenfalls studiert. Es ist ein scheinbar belangloses Wiedersehen, das jedoch durch den Austausch einer 3,25-Zoll-Diskette die alte Freundschaft zunächst zögerlich, dann mit einigem Esprit wiederbelebt. Denn beide sind immer noch begeistert von Computerspielen aller Art. Sie kennen sich nicht nur hervorragend aus, sondern Sadie schreibt bereits ihre ersten, kleinen Computerspiele. Sie beginnen, ihre gegenseitigen Talente nicht nur einfach zu begreifen, sondern auch auch als lohnenswert zu begreifen, vor allem dann, wenn man sie vereint. Gemeinsam erschaffen sie ein Spiel namens „Ichigo“, in dem ein Kind den Weg nach Hause finden muss.
Das wiederum ist geradezu ein Kunstgriff der Autorin, denn auch wenn sich der Roman im Zentrum um die beiden Freunde herumentwickelt, so ist es eigentlich ein Roman über jeweils ein Kind, Sadie und Sam, das den Weg nach Hause finden muss. Und wie es in Spielen Nebenquests gibt und Monster und Fallen und Gegner, so haben Sadie und Sam im echten Leben auch Nebenaufgaben zu bewältigen, Monster zu bekämpfen, Fallen auszuweichen und Gegner (mund)tot zu machen. Und wie ein Spieler bestenfalls von seinem Spiel gefesselt ist, so werden Sie als Leser*in von diesem Roman gefesselt sein, weil Ihnen die beiden (Spiel-)Figuren Sadie und Sam so derbe ans Herzen wachsen.
Zevin erzählt anspruchsvoll, sprachlich treffend
Auch die Nebenfiguren des Romans sind hervorragend besetzt. Da ist zum Beispiel Sadies Professor Dov, ein cholerischer Typ, der von seinen Student*innen gefürchtet wird, aber Sadies Potenzial in der Spieleentwicklung entdeckt. Über den Verlauf des Buches lernen wir ihn als zweigesichtigen Menschen kennen, der vor allem zunehmend toxisch wird. Dann ist da noch Marx, Sams Mitbewohner zu College-Zeiten, der Sam liebt wie einen Bruder, dass es zu Tränen rührt. Zevin erzählt ihren Roman anspruchsvoll, sprachlich treffend, aber unaufgeregt, was die Leser*innen in gefährlicher Sicherheit wiegt, denn dieses Buch ist wie eine Achterbahnfahrt im Dunkeln, und so sehen wir schreckliche Dinge erst dann, wenn sie schon direkt vor uns liegen und die Achterbahn nicht mehr zu bremsen ist.
Gabrielle Zevin ist in Deutschland relativ unbekannt. Auf Deutsch erschien von ihr unter anderem „Die Widerspenstigkeit des Glücks“ (2016), das von einem Buchladen handelt, sowie ihr Debüt „Anderswo“, das vom Time-Magazine als eines der „100 besten Bücher für junge Erwachsene aller Zeiten“ gelobt wurde. Die deutsche Übersetzung ist leider vergriffen. Zevin wurde in New York als Tochter einer koreanischen Mutter und eines jüdisch-amerikanischen Vaters geboren, die beide in der IT-Branche gearbeitet haben. Wie Sadie und Sam hat auch ihre Autorin in Cambridge studiert.
Wer in den 1980er und 1990er Jahren jung war, kann an diesem Buch eigentlich nicht vorbei, denn es erzählt so wundervoll davon, wie Videospiele wie „Pac-Man“ und „Maniac Manson“ und „Super Mario“ und all die anderen eine ganze Generation geprägt haben. Es erzählt von Freundschaft und Liebe und von dem ganzen Spiel des Lebens, in dem wir alle daran arbeiten, unseren Weg zu finden.
Gabrielle Zevin: Morgen, morgen und wieder morgen, Eichborn-Verlag, Köln, 2023, 560 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3847901297, Leseprobe
Seitengang dankt dem Eichborn-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.