Zurück in die Zeitung

Kennen Sie noch das Videospiel „Paperboy“ aus den späten 1980er bis frühen 1990er Jahren? Man steuerte einen US-amerikanischen Zeitungsjungen auf einem BMX und musste möglichst alle Abonnent*innen einer Straße mit Zeitungen beliefern, natürlich im hohen Bogen vom Fahrrad aus. Punktabzüge gab es für eingeworfene Scheiben oder falls Zeitungsbesteller*innen leer ausgingen. Die Spielfigur damals war ein Junge, aber natürlich gibt es auch Mädchen und Frauen in dem Job. Vier ganz besonderen Papergirls haben der Autor Brian K. Vaughan und Zeichner Cliff Chiang eine sechsteilige Comic-Serie gewidmet, die nun auch in einer Gesamtausgabe erschienen ist. Fans der 1980er Jahre, von BMX; Walkie-Talkies, Zeitreisen und Außerirdischen, die nach Hause telefonieren wollen; sollten ihren Walkman mal zur Seite legen und die „Paper Girls“ zur Hand nehmen. Und: Richtig, es gibt auch eine Serienadaption davon.

Es ist 4.40 Uhr am sogenannten Höllen-Morgen des Jahres 1988, der Morgen nach Halloween, wenn auf den Straßen die letzten angetrunkenen Nachtschwärmer und Halbstarken unterwegs sind und die Stadtreinigung die Reste vom Feste noch nicht beseitigt hat. Um diese Zeit machen sich die Zeitungsbot*innen des Cleveland Preserver auf den Weg, um in Stony Stream, einem fiktiven Vorort von Cleveland (Ohio), die Zeitungen in die Vorgärten und bestenfalls auf die Fußmatten zu werfen. Zum ersten Mal ist auch die zwölfjährige Erin Tieng dabei und gerät im Morgengrauen gleich an ein Trio pubertärer Dumpfbacken.

Doch die Nacht ist noch nicht vorbei

Hilfe ist unterwegs, denn auch die drei Mädchen Mac, KJ und Tiff radeln mit Zeitungen durch die Straßen. Ganz besonders Mac ist nicht auf den Mund gefallen, sie vertreibt die Jungs und nimmt Erin in ihre Obhut. Doch die Nacht ist noch nicht vorbei, und der Zusammenprall mit den Jungs nur ein laues Lüftchen gegen das, was sich bisher unerkannt in ihrer Stadt zusammenbraut.

Nur wenig später werden zwei der Mädchen von drei Typen in seltsamen Geisterkostümen überfallen, zu viert nehmen die „Paper Girls“ die Verfolgung auf. Ob es wieder die Halbstarken sind, die sich für ihre Schmach rächen wollen? Die Mädchen vermuten das Versteck im Keller eines Hauses, entdecken dort jedoch keine Menschenseele, sondern eine Maschine oder ein Gerät, das wie eine alte Apollo-Kapsel aussieht.

Der Strom fällt aus, Taschenlampen funktionieren nicht mehr, und der Himmel über der Stadt leuchtet mit einem Mal in bunten Farben. Das Polarlicht ist nichts dagegen. Als schließlich noch Flugsaurier am Himmel auftauchen, flüchten die Mädchen zu Macs Eltern. „Mein Dad hat ne Knarre“, sagt Mac. Und mit Knarren, das wissen Amerikaner*innen, kann man alle Probleme lösen. Durch ein Missgeschick fängt sich Erin eine Kugel ein, und da auch das Telefon natürlich nicht mehr funktioniert, Macs Stiefmutter durch ihr Alkoholproblem fahruntüchtig ist, ist die tapfere Mac wieder die einzige, die sie aus diesem Schlamassel rausholen kann.

Begegnung mit den eigenen Ichs

Sie meinen, jetzt wäre die ganze Geschichte schon erzählt? Weit gefehlt – das war erst der Anfang dieser wahnwitzigen sechsbändigen Reihe um die vier „Paper Girls“. Thematisch bleibt es nicht bei Flugsauriern und Apollo-Kapseln, sondern – und das ist nicht zu viel verraten – die vier Mädchen geraten im weiteren Verlauf in eine kosmische Auseinandersetzung von zwei Zeitreise-Gruppen und begegnen ihren eigenen Ichs in unterschiedlichen Zeiten.

Ein älterer Schüler sagt im ersten Band der Reihe: „Ich bin wohl ganz schön high.“ Anders lässt sich das vermutlich nicht erklären, was der US-amerikanische Erfolgsautor Brian K. Vaughan („Saga“, „We stand on guard“, Drehbuch-Mitarbeit für die TV-Serie „Lost“, Autor für die TV-Serie „Under the Dome“) hier an Ideen auffährt. Manch einem mag das etwas überfrachtet vorkommen, auf einer Länge von 800 Seiten aber haben alle Neben-und Haupt-Erzählstränge ausreichend Platz, allen voran auch die ausgeklügelten Figurenzeichnungen der vier Mädchen, die sich mit einer Vielzahl von Themen beschäftigen: Freundschaft, Queerness, Tod, Liebe, People of Colour, Holocaust, Videospiele, Zeitreisen, Rich Kids, Armut, Alkoholismus. Teilweise geht es heftig zur Sache.

Stimmungsvolle Retro-Kolorierung

Cliff Chiang fängt das Gefühl der 1980er Jahre, diese wunderbare Nostalgie, zeichnerisch hervorragend und authentisch ein, auch in der Optik der Personen. Referenzen allerdings setzt er dezent ein, was raffiniert ist, weil es die Story nicht stört. Die stimmungsvolle Retro-Kolorierung durch Matt Wilson tut das Übrige zum optischen Gelingen dieser Reihe, die sich geradezu liebevoll um ihre Protagonist*innen kümmert, um ihnen den perfekten Boden für ihre eigene Geschichte zu bereiten. 2016 wurde die Reihe mit den renommierten Eisner-Awards für die „Beste neue Serie“ und Chiang als „Bester Zeichner“ ausgezeichnet.

Im Sommer 2022 veröffentliche der Streaming-Dienst „Amazon Prime Video“ schließlich die acht Episoden lange erste Staffel der Serien-Adaption von „Paper Girls“. Nur um wenige Wochen später zu verkünden, dass es keine weiteren Staffeln der Serie geben werde. Vermutlich gingen die „Paper Girls“ in der fetten Marketing-Kampagne zu „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ einfach unter. Ein wenig Hoffnung besteht noch, dass das co-produzierende Studio „Legendary Television“ einen anderen Streaming-Dienst findet, der die verrückte Zeitreise fortsetzen möchte. Mit Kindern auf Fahrrädern in den 80er Jahren kann man in Büchern und Filmen ja eigentlich nie etwas falsch machen.

„Paper Girls“ hebt diese einfache Formel auf ein geniales neues Level: Es ist eine intelligente, herrlich komische, feministische und sehr unterhaltsame Coming-of-Age-Geschichte, die deutlich macht, wie schön die Kindheit sein könnte, wenn nicht die Erwachsenenwelt ständig in sie hineinbräche. Unbedingt lesen!

Brian K. Vaughan: Paper Girls 1, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959811408
Brian K. Vaughan: Paper Girls 2, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959814102
Brian K. Vaughan: Paper Girls 3, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959815611
Brian K. Vaughan: Paper Girls 4, Cross Cult, Ludwigsburg, 2018, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959817677
Brian K. Vaughan: Paper Girls 5, Cross Cult, Ludwigsburg, 2019, 152 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959818261
Brian K. Vaughan: Paper Girls 6, Cross Cult, Ludwigsburg, 2019, 128 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959818261
Brian K. Vaughan: Paper Girls – die komplette Geschichte, Cross Cult, Ludwigsburg, 2022, 800 Seiten, gebunden, 99 Euro, ISBN 978-3966588720
Brian K. Vaughan: Paper Girls – die komplette Geschichte, Cross Cult, Ludwigsburg, 2022, 800 Seiten, Taschenbuch, 60 Euro, ISBN 978-3966589963

Das ganze Leben ist ein Spiel

Katzen haben sieben Leben, in England sogar neun. In Computerspielen hat man meist mindestens drei, manchmal sogar unendlich viele Leben. Wir Menschen aber verfügen sehr wahrscheinlich nur über ein einziges Leben. Wie soll man da nicht verzweifeln angesichts der Möglichkeiten, dieses eine Leben zu füllen und die richtigen Wege zu gehen?

In Gabrielle Zevins wundervollem neuen Roman „Morgen, morgen und wieder morgen“ begegnen wir zwei jungen Menschen, die dieser Diskrepanz zu begegnen versuchen. Und gleichzeitig ist dieses Buch vermutlich das tollste Buch, was je über Videogamer*innen geschrieben worden ist (und nicht etwa über Prokrastination, wie manche den Titel auch deuten).

Sadie Green ist elf Jahre alt, als sie Mitte der 1980er Jahre in Los Angeles im Flur eines Krankenhauses sitzt und darauf wartet, dass sie wieder in das Zimmer ihrer 13-jährigen Schwester darf, die an Leukämie erkrankt ist. Ein Pfleger erbarmt sich des Mädchens und bringt es in den Aufenthaltsraum der Station, wo Sadie auf den gleichaltrigen Sam Masur trifft, der gerade dabei ist, „Super Mario Brothers“ zu spielen. Sein linker Fuß steckt in einem Metallkäfig, und er kann sich nur auf Krücken bewegen. Sein Fuß ist siebenundzwanzigmal gebrochen, erzählt er Sadie. An diesem Nachmittag teilen sie sich die verfügbaren Leben von „Super Mario“. Es ist der Beginn einer Kinderfreundschaft, die durch ein Missverständnis ein jähes Ende nimmt.

Ein scheinbar belangloses Wiedersehen

Als Sam 21 Jahre alt ist, studiert er in Cambridge und trifft eines Tages wieder auf Sadie, die, wie er weiß, dort ebenfalls studiert. Es ist ein scheinbar belangloses Wiedersehen, das jedoch durch den Austausch einer 3,25-Zoll-Diskette die alte Freundschaft zunächst zögerlich, dann mit einigem Esprit wiederbelebt. Denn beide sind immer noch begeistert von Computerspielen aller Art. Sie kennen sich nicht nur hervorragend aus, sondern Sadie schreibt bereits ihre ersten, kleinen Computerspiele. Sie beginnen, ihre gegenseitigen Talente nicht nur einfach zu begreifen, sondern auch auch als lohnenswert zu begreifen, vor allem dann, wenn man sie vereint. Gemeinsam erschaffen sie ein Spiel namens „Ichigo“, in dem ein Kind den Weg nach Hause finden muss.

Das wiederum ist geradezu ein Kunstgriff der Autorin, denn auch wenn sich der Roman im Zentrum um die beiden Freunde herumentwickelt, so ist es eigentlich ein Roman über jeweils ein Kind, Sadie und Sam, das den Weg nach Hause finden muss. Und wie es in Spielen Nebenquests gibt und Monster und Fallen und Gegner, so haben Sadie und Sam im echten Leben auch Nebenaufgaben zu bewältigen, Monster zu bekämpfen, Fallen auszuweichen und Gegner (mund)tot zu machen. Und wie ein Spieler bestenfalls von seinem Spiel gefesselt ist, so werden Sie als Leser*in von diesem Roman gefesselt sein, weil Ihnen die beiden (Spiel-)Figuren Sadie und Sam so derbe ans Herzen wachsen.

Zevin erzählt anspruchsvoll, sprachlich treffend

Auch die Nebenfiguren des Romans sind hervorragend besetzt. Da ist zum Beispiel Sadies Professor Dov, ein cholerischer Typ, der von seinen Student*innen gefürchtet wird, aber Sadies Potenzial in der Spieleentwicklung entdeckt. Über den Verlauf des Buches lernen wir ihn als zweigesichtigen Menschen kennen, der vor allem zunehmend toxisch wird. Dann ist da noch Marx, Sams Mitbewohner zu College-Zeiten, der Sam liebt wie einen Bruder, dass es zu Tränen rührt. Zevin erzählt ihren Roman anspruchsvoll, sprachlich treffend, aber unaufgeregt, was die Leser*innen in gefährlicher Sicherheit wiegt, denn dieses Buch ist wie eine Achterbahnfahrt im Dunkeln, und so sehen wir schreckliche Dinge erst dann, wenn sie schon direkt vor uns liegen und die Achterbahn nicht mehr zu bremsen ist.

Gabrielle Zevin ist in Deutschland relativ unbekannt. Auf Deutsch erschien von ihr unter anderem „Die Widerspenstigkeit des Glücks“ (2016), das von einem Buchladen handelt, sowie ihr Debüt „Anderswo“, das vom Time-Magazine als eines der „100 besten Bücher für junge Erwachsene aller Zeiten“ gelobt wurde. Die deutsche Übersetzung ist leider vergriffen. Zevin wurde in New York als Tochter einer koreanischen Mutter und eines jüdisch-amerikanischen Vaters geboren, die beide in der IT-Branche gearbeitet haben. Wie Sadie und Sam hat auch ihre Autorin in Cambridge studiert.

Wer in den 1980er und 1990er Jahren jung war, kann an diesem Buch eigentlich nicht vorbei, denn es erzählt so wundervoll davon, wie Videospiele wie „Pac-Man“ und „Maniac Manson“ und „Super Mario“ und all die anderen eine ganze Generation geprägt haben. Es erzählt von Freundschaft und Liebe und von dem ganzen Spiel des Lebens, in dem wir alle daran arbeiten, unseren Weg zu finden.

Gabrielle Zevin: Morgen, morgen und wieder morgen, Eichborn-Verlag, Köln, 2023, 560 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3847901297, Leseprobe

Seitengang dankt dem Eichborn-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

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