Der Beginn eines baldigen Gotham-Klassikers

Passend zum internationalen Batman-Tag am 16. September tauchte in diesem Jahr die ausgesprochen aufregende erste Ausgabe von Rafael Grampás Comic „Batman: Der Gargoyle von Gotham“ aus den Schatten auf. Der mit dem renommierten Eisner-Award ausgezeichnete brasilianische Comic-Künstler bebilderte zuvor bereits die Episode „Batman: Das goldene Kind“ für den Comic-Star Frank Miller („Sin City“). Jetzt hat Grampá eine neue, eigenständige Geschichte über Batmans Anfangszeit geschrieben und gezeichnet. Sie könnte ein neuer Klassiker der Batman-Comics werden. Wer bisher keinen Zugang zu dem dunklen Ritter hatte – hier wäre der richtige Einstieg ins Batmobil.

Grampás Gotham ist wesentlich düsterer und hoffnungsloser als in anderen Darstellungen. Auf den ersten Seiten sehen wir, wie die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderklafft. In den Straßen häufen sich Müllsäcke zwischen den imposanten Bauten, Obdachlose drängen sich in den Hauseingängen, während Passanten nur Augen für ihre Smartphones haben. Gewalt, Korruption und Ausbeutung haben Einzug gehalten, und es gibt nur einen, der die Entwicklung noch aufzuhalten vermag: Batman. Der hatte sich bekanntlich am Grab seiner Eltern geschworen, das Böse zu bekämpfen.

Töte Bruce Wayne – sei Batman

Aber so recht will es nicht gelingen, denn im Hauptjob ist er ja auch noch Bruce Wayne, der Milliardär. Nachdem Batman bei einer Begegnung mit einem unheimlichen Bösewicht beinahe durch eine Explosion in einem TNT-Labor gestorben wäre, offenbart er seinem engsten Vertrauten, dem Butler Alfred Pennyworth, dass er den öffentlichen Tod von Bruce Wayne plant. Ausradieren müsse er sich, um sich ganz seiner Mission zu widmen. „Die Lage wird immer schlimmer, und Gotham muss permanent geschützt werden“, sagt er selbstbewusst.

Unterdessen treibt ein beunruhigender Serienmörder in Gotham sein Unwesen, und die Polizei ist noch völlig ahnungslos. Sie registriert nur immer mehr Todesfälle, bei denen die Opfer seltsam übereinstimmende Stichverletzungen haben und immer nackt zurückgelassen werden. Dann findet der Polizist Jim Gordon eine Verbindung zu Bruce Wayne, und alles dreht sich in eine völlig unerwartete Richtung.

Charakterzeichnung ist brillant

Mit „Der Gargoyle von Gotham“ erleben wir die Stadt nicht nur ungewöhnlich dunkel und abgehalftert, sondern auch Batman zeigt sich in neuen charakterlichen Facetten. Grampás Schachzug, Bruce Wayne abzunabeln und sich vollständig auf Batman zu konzentrieren, ist außerordentlich gelungen. Seine Charakterzeichnung ist brillant. Der junge Batman ist bei Grampá grimmig und zuweilen auch brutal, aber immer auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten, auch als er seine eigene Identität in Frage stellt.

Als kontrastierender Gegenpol glänzt der neue furchterregende Schurke Crytoon. Er ist ein übler Mörder mit glatter, schwarzer Haut, einem schwarzen Anzug und psychotisch laufenden Tränen. Seine Tränen, erklärt er an einer Stelle, sind die Vorboten der Tränen seiner Opfer. Grampá zeigt ihn als mordendes Wesen, dem seine Taten bewusst sind und die er zuvor bedauert, sie jedoch nicht aufhalten kann. Wie Batman hadert auch Crytoon mit seiner Identität.

In einem Interview, das thepopverse.com mit Rafael Grampá geführt hat, erzählt der Comic-Künstler, dass ihn eine Erinnerung an die eigene Kindheit zu Crytoon inspiriert habe. Grampás Großmutter liebte die klassische italienische Theaterkunst der Commedia dell’arte und bewahrte deshalb eine ganz in weiß gekleidete Porzellanfigur des ikonisch weinenden Clowns Pierrot auf.

Grampá: „Ich hatte Angst vor diesem Bild.“

„Als ich ein Kind war, hatte ich große Angst davor“, erzählt Grampá in dem Interview: „Diese Figur, dieses weiße Gesicht, das schwarze Tränen weint; wenn sie das Licht ausschaltete, sah ich das vor mir und hatte Angst vor diesem Bild.“ Aus diesen Kindheitserinnerungen entwickelte Grampá seine eigene Version des Pierrot. Um ihn dann auch noch von den anderen Clown-Schurken im Batman-Universum abzugrenzen, brachte ihn seine Frau auf die Idee, den ursprünglichen Pierrot in ein Foto-Negativ umzukehren. Crytoon ist geboren!

Und schließlich ist da noch der Polizist Jim Gordon, den Grampá als religiösen Mann darstellt. In seiner trostlosen Wohnung hängt ein Jesusbild an der Wand, in seinem Büro im Revier ein ans Holzkreuz genagelter Jesus. Auf einem Schubladenelement steht eine Madonnafigur. Nur auf dem Telefontischchen zu Hause sehen wir ein Foto von Gordons Frau. Daneben liegt die Dienstwaffe. Die Pflicht ruft, und es ist dieselbe, die auch Batman verspürt.

Auch zeichnerisch ist „Der Gargoyle von Gotham“ auf hohem Niveau. Das Comic-Layout besteht zum großen Teil aus senkrechten und waagerechten Linien zwischen den Panels. Nur wenn es richtig zur Sache geht, rutschen die Linien aus der Symmetrie. Man könnte meinen, der Comic sei zu kontrolliert und wenig wagemutig, wenn er seine Geschichte so stark formgebunden präsentiert. Doch das Gegenteil ist der Fall: Nicht die Form gibt dem Comic seine Geschwindigkeit und seinen Drive, sondern die stimmungsvollen Inhalte der einzelnen Panels, die geradezu filmisch anmuten.

Wer versteht die Hinweise?

Grampá zieht aber noch eine zweite Ebene ein: Für besonders aufmerksame Leser*innen hat er in seinen Panels dezente Hinweise und Botschaften versteckt, etwa eine Hommage an David Fincher und Frank Miller. Wer von uns kratzt beim Lesen nur an der Oberfläche und wer versteht die Anzeichen?

Grampás „Gargoyle von Gotham“ soll nach vier großformatigen Bänden abgeschlossen sein. Der zweite Band erscheint in Deutschland am 20. Februar 2024, die Erscheinungstermine für die beiden letzten Bände sind noch nicht bekannt.

Schon der Auftaktband bringt uns wahren Nervenkitzel, viel Action, aber auch wohldurchdachte leise Szenen; und während wir Batman dabei zusehen, wie er die dunkelsten Ränder seines eigenen Herzens abschreitet, werden wir Zeugen von der wahnsinnigen Kunstfertigkeit des Rafael Grampá. Im Interview mit Popverse erklärt er: „Diese Geschichte ist mein Versuch, Batman zu sezieren, weil ich diesen Charakter liebe und ihn auf den heißen Stuhl setzen wollte.“ Davon wollen wir unbedingt noch mehr! Breite deinen Mantel aus, Batman, und leg los!

Rafael Grampá: Batman – der Gargoyle von Gotham, Panini-Verlag, Stuttgart, 2023, 60 Seiten, gebunden, Euro, ISBN 978-3741635335, Leseprobe;

Rafael Grampá: Batman – der Gargoyle von Gotham (Variant-Cover), Panini-Verlag, Stuttgart, 2023, 60 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3741635335, limitiert auf 333 Exemplare.

Es öffnet sich ein neues Lesen

Hilde Domin, Nelly Sachs, Else Lasker-Schüler oder Rose Ausländer – die Namen dieser jüdischen Dichterinnen sagen zumindest manchen Leser*innen etwas. Aber Gertrud Kolmar? Die meisten Werke der deutsch-jüdischen Lyrikerin und Schriftstellerin, die am 10. Dezember 1894 in Berlin geboren und 1943 in Auschwitz ermordet wurde, erreichten erst posthum eine Veröffentlichung. Zu Lebzeiten erschienen nur drei Gedichtbände. Sie gilt zwar als bedeutende Dichterin, dennoch wurde sie nie besonders ausgiebig gewürdigt.

Zu ihrem 80. Todestag im März dieses Jahres erschienen jedoch gleich zwei herausragende Porträts der jüdischen Dichterin. Zum einen „In der Feuerkette der Epoche“ von Friederike Heimann (Jüdischer Verlag), die auch über Gertrud Kolmar promoviert hat; zum anderen „Alles ist seltsam in der Welt“ von Ingeborg Gleichauf (AvivA-Verlag), die über Ingeborg Bachmann dissertierte.

Beide sind überaus lesenswert, doch während Heimann ausführlich auf Leben und Werk eingeht, reichhaltige Interpretationen liefert und ihr Porträt eher essayistisch geprägt ist, bietet Gleichauf den kürzeren Einstieg für alle jene, die einen behutsameren Zugang suchen. Deshalb konzentriert sich die Rezension auf diesen nur 205 Seiten langen Band.

Gleichauf hält sich nicht strikt an den Lebenslauf

Das Inhaltsverzeichnis macht es deutlich: Das Buch wirft Schlaglichter auf verschiedene Lebensstationen und -situationen. Kolmar als Kind, als junge Dichterin, als Briefeschreiberin. Kolmar (aufschlussreich) als Leserin, als Prosaautorin, als Lyrikerin und Dramatikerin. Sie beschaut die Orte, an denen Kolmar lebte und arbeitete, vergleicht ihr Wirken mit ihren „dichtenden Schwestern“, darunter Annette von Droste-Hülshoff, Emily Dickinson und Nelly Sachs. Die Ordnung erlaubt es, ausgewählte Kapitel zuerst zu lesen, weil sich Gleichauf nicht strikt an den Lebenslauf hält.

Das sei auch nicht Ziel des Buches, schreibt die Autorin in der Einleitung: „Gertrud Kolmars Leben und Schreiben sind schwer in der Linearität einer einfachen Geschichte, einer glatten biografischen Erzählung unterzubringen.“ Vielmehr geht es Gleichauf darum, „was es heißt, Kolmar zu lesen, in einen Dialog zu treten mit ihren Texten und über die Texte mit ihrem Leben“. Und so finden Leserinnen und Leser zahlreiche Gedichte, Zitate und Auszüge aus den Prosawerken in diesem Porträt. Was man dagegen vergeblich sucht, sind Fotografien. Es gibt einfach kaum welche, weshalb fast alle Bücher über Kolmar dasselbe Foto ziert, auch die beiden Bücher von Heimann und Gleichauf.

Kolmar als radikale Dichterin

Für die Autorin ist Kolmar eine „Dichterin des Lebens“, obgleich Kolmar als Kind an einem See ein Ertrinken vortäuscht. Gleichauf nennt das „Lust an der abenteuerlichen Inszenierung“. Die Autorin zeichnet Kolmar als eine radikale Dichterin, die nicht einzuordnen ist, in keine Schublade passt. Von ihrer Mutter habe sie die Begeisterung für Tanz, von ihrem Vater, einem Juristen, der gerne schrieb und dessen Erzählungen in Berliner Zeitungen veröffentlicht wurden, den Drang zur Literatur.

„Sie schreibt zart und hart, poetisch, prosaisch, dramatisch, lässt Frauen und Männer, Tiere, Pflanzen und Dinge sprechen.“ Kolmar war eine Literatin, die junge Menschen in der heutigen Zeit noch begeistern kann in ihrem Aufbegehren, in Krieg und Frieden, im Abgestoßenfühlen und Nähesuchen. Fast scheint es, als richte sich die Autorin ganz besonders an die Generation Z und die darauf folgenden.

Die 1953 geborene Ingeborg Gleichauf schreibt poetisch, klar und anschaulich und dennoch mit hohem Anspruch, jedoch ohne sperrig zu sein. Ein Hörbuch wäre eine wundervolle Ergänzung, um die Poesie von Porträtierter und Porträtierender Sprache werden zu lassen. Zuvor hat Gleichauf bereits Bücher über Hannah Arendt, Simone de Beauvoir oder die Liebe zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch geschrieben, aber auch über deutschsprachige Dramatikerinnen sowie „Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase“.

Ihr kurzweiliges und kenntnisreiches Porträt über Gertrud Kolmar ist gelungen, ist ergreifend und vor allem: inspirierend. Denn nach der Lektüre wird sich wohl jede*r auf die Suche machen nach den zahlreichen Veröffentlichungen, die auf dem deutschsprachigen Buchmarkt von Kolmar noch zu bekommen sind. Es öffnet sich ein neues Lesen.

Ingeborg Gleichauf: Alles ist seltsam in der Welt: Gertrud Kolmar. Ein Porträt, AvivA-Verlag, Berlin, 2023, 205 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 22 Euro, ISBN 978-3949302145

Seitengang dankt dem AvivA-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Cash auf die Kralle

Der Berliner Comic-Zeichner Reinhard Kleist gehört seit Jahren zu den wichtigsten deutschen Comic-Autoren der Gegenwart. Seinen Durchbruch schaffte er 2006 mit „Cash – I see a darkness“, einer Comic-Biografie der verstorbenen Country-Legende Johnny Cash. Pünktlich zum 20. Todestag des wahrscheinlich bekanntesten Country-Sängers am 12. September 2023 hat der Carlsen-Verlag nun eine überarbeitete und zum ersten Mal kolorierte Hardcover-Neuauflage des Comic-Klassikers auf den Markt gebracht. War diese Musik-Biographie schon 2006 umwerfend konzipiert, gezeichnet und erzählt, ist sie nun in würdiger Pracht (neu) zu entdecken.

„Hello, I’m Johnny Cash.“ So hieß nicht nur Cashs 33. Album, das 1970 bei Columbia Records erschien, sondern so eröffnete Cash buchstäblich schlicht und ergreifend seine Konzerte. „Hello, I’m Johnny Cash.“ Und dann ging’s los.

Wer bis Ende 2005 noch kein Cash-Fan war, konnte dem ambivalenten Zauber spätestens zu dem Zeitpunkt erliegen, als der autobiographische Film „Walk the Line“ in die Kinos kam, in Deutschland im Februar 2006. Da war Johnny Cash bereits zweieinhalb Jahre tot. Körperlich tot, denn Bob Dylan prophezeite im Musik-Magazin Rolling Stone im Oktober 2003: „Er wird niemals sterben oder vergessen werden, nicht einmal von Menschen, die heute noch gar nicht geboren sind, und das für immer.“ Er könnte recht behalten.

Neuer, poetischer Blick

Im September 2006 erschien schließlich Kleists umfangreicher Comic-Roman „Cash – I see a darkness“ und verschaffte selbst jenen Fans, die den Sänger und seinen Lebensweg bestens zu kennen glaubten, einen neuen, poetischen Blick auf das ungestüme Leben des Johnny Cash.

Von dieser Faszination hat der Comic auch 17 Jahre später nichts verloren, denn Kleist geht die Sache anders an als der Kinofilm, dessen Bilder und Musik vielen im Gedächtnis geblieben sind, der aber Cashs Biographie nur bis Anfang der 1970er Jahre erzählt. Kleist geht darüber hinaus und zeigt auch die späte Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Musikproduzenten Rick Rubin, aus der die inzwischen auch schon Musikgeschichte gewordenen „American Recordings“ (1994-2010) entstanden sind, die auch außerhalb der Country-Szene große Anerkennung fanden.

Reinhard Kleist gelingt es, aus den bekannten Eckpunkten eine Lebensgeschichte zu zeichnen, die dem Weltstar gerecht wird, ihn aber auch nicht zu sehr heroisiert, sondern die schonungslos die harten Schnitte offenbart, die für romantisierende Filmbiographien eher ungeeignet sind. Johnny Cash war nun mal kein Heiliger. Wo der Kinofilm „Walk the Line“ vor allem die Liebesgeschichte zwischen Johnny Cash und June Carter thematisiert, konzentriert sich Kleist auf den Musiker.

„Ich wollte dasselbe in eine Bildebene übersetzen“

Als er mit der Arbeit an dem Comic begann, war Kleist schon lange ein Fan von Johnny Cash. „Seine düstere Weltsicht, sein Erscheinungsbild und, ja, auch seine Sexyness“ hatten Kleist immer schon fasziniert, erzählt er in einem kurzen Interview, das sein Verlag kürzlich mit ihm führte. Cash habe es immer verstanden, Musik und das Erzählen von Geschichten zusammenzubringen. „In vielen Songs benutzte er seine Musik, um die Handlungen zu illustrieren – ich wollte dasselbe in eine Bildebene übersetzen“, erklärt er weiter.

Und so setzt Kleist einige der Cash-Hits wie „Folsom Prison Blues“, „A Boy Named Sue“ oder „Cocaine Blues“ raffiniert grafisch um und lässt die Liedtexte zu kleinen Comic-Sequenzen werden. Boom-chicka-boom!

Stark sind außerdem die Panels, als Cash zunehmend tablettensüchtig wird, sich zum Sterben in eine Höhle zurückzieht und schließlich im Herbst 1967 einen schwierigen Entzug durchlebt. Den inneren Kampf mit der Sucht hat Kleist so beeindruckend eingefangen, dass man beim Lesen stark mitleidet. Das geht an die Substanz, und es zeugt von der Brillanz des Comic-Zeichners.

Neuauflage behutsam koloriert

Die Bilder sind ausdrucksstark, lebendig und realistisch, vor allem die Gesichtszüge des „Man in Black“ werden gekonnt in Szene gesetzt. War die Ausgabe von 2006 noch durchgängig schwarz-weiß, hat Kleist die Neuauflage behutsam koloriert, ohne den Charme der Ursprungsversion zu zerstören. Für die neue Edition hat der Berliner den „Cash“-Band noch einmal von vorne bis hinten durchgearbeitet und nur an einigen Stellen den Text etwas verändert und angepasst.

„Cash – I see a darkness“ ist immer noch eine lesenswerte, detailreiche Liebeserklärung an einen Künstler, der zwar nie im Knast eine Strafe absitzen musste, aber zwei herausragende Konzert-Alben in Strafanstalten aufnahm – und zeitweise selbst dicke Gefängnismauern um sich herum errichtete. Eine wichtige Stimme in Kleists Comic ist die des Erzählers und Folsom-Prison-Insassen Glen Sherley. Er sagt an einer Stelle: „Am Ende sind es die Geschichten, die bleiben, nicht die Fakten. Und Geschichten müssen erzählt werden.“ Cash war ein Geschichtenerzähler, wie auch Kleist einer ist: immer authentisch. Wie gut, dass die beiden einander gefunden haben!

Reinhard Kleist: Cash – I see a darkness, Carlsen-Verlag, Hamburg, 2023, 224 Seiten, gebunden, 26 Euro, ISBN 978-3551760005, Leseprobe

Eden im Jenseits

„Lass uns jeden Tag das Leben endlos spüren / Und uns niemals unsre Ehrlichkeit verlieren“, heißt es in dem deutschen Schlager „Jenseits von Eden“ von Nino de Angelo. In dem neuen Kriminalroman „Das Ende von Eden“ des US-amerikanischen Autors Stephen Amidon ist Eden kein (biblischer) Ort, sondern eine junge Frau von 20 Jahren, und trotzdem passt das Schlager-Zitat. Irgendwer hat Eden zwischen Abend und Morgen in der idyllischen Bostoner Vorstadt Emerson ins Jenseits befördert. Dorothy Gates, Detective bei der State Police, sagt es Edens Mutter, wie es ist: „Man kann das einfach nicht schonend sagen. Eden ist tot.“ Was danach in dem Örtchen geschieht, ist perfekte Serienvorlage, ist Zeugnis für menschliche Abgründe, für Klassenunterschiede und die Macht des Geldes. Und es ist gut geschrieben.

Der 1959 geborene Stephen Amidon ist in Deutschland leider ein völlig unbekannter Autor. Abgesehen von „Das Ende von Eden“ (im Original: „Locust Lane“), das in diesem Jahr erschienen ist, haben es nur „The New City“ im Jahr 2000 als „Traumstadt“ sowie „Human Capital“ 2006 als „Der Sündenfall“ in eine deutsche Übersetzung geschafft (2019 mit Liev Schreiber verfilmt). In den USA dagegen ist Amidon durchaus ein Name. Wendy Smith schrieb im Januar in der Washington Post über ihn: „Stephen Amidon hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Reihe von ebenso fesselnd lesbaren wie scharfkantigen Romanen über so unbequeme Fakten des amerikanischen Lebens wie Rasse, Klasse und Geld geschrieben.“ Auch in „Das Ende von Eden“ bleibt er dieser Linie treu. Opfer dieser Geschichte ist am Ende nicht nur das Mord-Opfer.

Eden, die in voller Pracht Eden Angela Perry heißt, liegt – offenbar erschlagen – im Haus der Bondurants. Dort war Eden seit drei Monaten als eine Art Haushälterin und Hundesitterin angestellt, dabei sind Eden und ihre Mutter Danielle mit der wohlhabenden Familie über mehrere Ecken verwandt. Danielle und Eden hatten eine Auszeit vereinbart, so wie auch Partnerschaften manchmal eine Auszeit brauchen, damit sich alle Beteiligten besinnen können. Eden, die hin und wieder dummes Zeug macht, weil das einfacher ist, die aber keiner Fliege was zuleide tun kann. Eden, die Menschen allzu leichtherzig vertraut. Eden, die ihre Mutter zum Wahnsinn getrieben hat, die von ihrer Mutter jedoch im selben Atemzug als Engel beschrieben wird. „Es ist schwer zu erklären. Dafür muss man sie kennen“, sagt Danielle. Was nun schwierig geworden ist.

Aber glaubt man ihm?

Ihren letzten Abend hat Eden mit drei Leuten von ihrer Schule verbracht: Christopher Mahoun, der schwer in sie verknallt war, sowie Jack Parrish und Hannah Holt, die beide ein Paar sind. Die Polizei hat schnell einen Verdächtigen ausgemacht, der es gewesen sein kann. Gewesen sein muss. Christopher Mahoun, Sohn eines libanesischen Einwanderers und bekannten Gastronoms in der Stadt, war von ihnen allen der letzte, der Eden lebend gesehen hat. Er beteuert jedoch, dass er sie nicht angefasst, dass sie noch gelebt hat, als er sie in der Nacht verließ. Und er kann auch die Kratzer an seinem Hals erklären. Aber glaubt man ihm?

Alle drei Jugendlichen fallen zu Hause auf. Noch in der Nacht oder am nächsten Morgen. Sie alle haben etwas zu verbergen. Auch die mitunter schwerreichen Eltern. Da ist Lug und Betrug, da sind Alkohol und Drogen im Spiel, falsche Freundschaften brechen auf und moralische Grenzen verschwimmen. Manch einer rächt sich, andere halten aus vermeintlich hehren Motiven schützend ihre teuren Hände über die Köpfe ihres Nachwuchses.

Für die Polizei passt es bei Christopher Mahoun einfach am besten. Für die Kommentatoren in den Sozialen Medien ohnehin: ein Dunkelhäutiger, der ein weißes Mädchen aus der privilegierten Schicht killt, weil sie ihn abblitzen lässt? Da ist der Schuldige also schnell gefunden, und die Hexenjagd beginnt mit all ihren hässlichen Fratzen.

Kluger Wechsel der Erzählstimmen

Stephen Amidon schreibt seinen Kriminalroman aus der Sicht von fünf Erwachsenen: Hannahs Stiefmutter, Jacks Mutter, Christophers Vater, Edens Mutter und aus der Sicht eines eigentlich unbeteiligten Dritten, der in der besagten Nacht etwas gesehen hat, sich aber aufgrund eines Alkoholproblems nicht traut, zur Polizei zu gehen. Geschickt rationiert Amidon die Häppchen, die er uns vorlegt und mit denen wir der Lösung immer wieder nahe zu kommen glauben. Nur um uns gleich danach wieder auf eine völlig neue Fährte zu bringen. Klug lässt der Autor seine fünf Erzählstimmen die Blickwinkel wechseln – und wir wissen nie sicher, welcher davon wie zu trauen ist.

Die Figurenzeichnung ist in ihrer Tiefe fast ausschließlich gut gelungen, vor allem die der Frauen. Oberflächlich gesehen bedient sich Amidon zwar gängiger Klischees von Klassenunterschieden. So ist Danielle, die Mutter der getöteten Eden, mit ihren Tattoos („Ich bin die illustrierte Ausgabe“) und den schwarz gefärbten Haaren der Arbeiterklasse zuzurechnen, während die anderen Frauen aus der oberen Mittelschicht edel wohnen, nicht arbeiten müssen und sich mit Geld ein paar Probleme vom Leib schaffen können. Amidon darauf zu relativieren, wäre aber falsch. Denn der Autor versteht es, die Innensicht seiner Figuren psychologisch nachvollziehbar darzustellen. Nur Michel, der Vater des Hauptverdächtigen, sowie die beiden Detectives bleiben ungewöhnlich blass. Im Hinblick auf seine wichtige Rolle im Innenverhältnis zu seinem Sohn ist das vor allem bei Michel unverständlich.

Sorgfältig ausstaffiert

Amidon schreibt gut, und Alice Jakubeit hat seinen Text in ein flüssiges Deutsch übertragen, das auch den Sarkasmus transportiert, mit dem Amidon seine Figuren manchmal sprechen oder denken lässt. Der Autor gibt seiner Geschichte viel Zeit, sich zu entwickeln. „Das Ende von Eden“ ist also kein atemloser Pageturner, der mit Cliffhangern arbeitet, sondern eine gesellschaftskritische Kriminalgeschichte, die nach und nach sorgfältig ausstaffiert wird.

Die Auflösung kommt schließlich unerwartet, heftig und erschütternd und öffnet uns in diesem Roman einmal mehr die Augen, wie Gerechtigkeit zurechtgebogen wird, wenn Menschen mit Geld ihre Macht und ihren Einfluss ausnutzen. Das Ende ist kein versöhnliches. Mit seiner Bitterkeit wird es nicht allen schmecken. Aber es hinterlässt uns nicht ohne Hoffnung, trotz der noch offenen Fragen.

Hoffen wir außerdem, dass der Droemer-Verlag mit „Das Ende von Eden“ genug Aufmerksamkeit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erzeugen kann, damit auch die anderen Romane von Stephen Amidon eine deutsche (Neu-)Übersetzung erfahren. Ansonsten bleibt uns nichts anderes übrig, als die Bücher im Original zu lesen. Entdecken Sie Stephen Amidon!

Stephen Amidon: Das Ende von Eden, Droemer-Verlag, München, 2023, 381 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3426283929, Leseprobe

Vertraue niemandem – außer dieser Rezension

„Bühne“ sagt man. Nicht „Theater“. Das ist die erste Lektion, die die neuen Schauspielschülerinnen und -schüler an der Elite-Schule CAPA von dem berüchtigten, unkonventionellen Lehrer Mr. Kingsley lernen. Bühne. Die Bretter, die die Welt bedeuten. An der CAPA bedeuten sie auch Schmerz und Macht.

Das erfahren ganz besonders die beiden Hauptfiguren in Susan Chois fünftem Roman „Vertrauensübung“, der jetzt erstmalig auf Deutsch im Kjona-Verlag erschienen ist, toll übersetzt von Tanja Handels und Katharina Martl. Man sollte ihn jedoch nicht bloß „Roman“ nennen. Man nenne ihn „Kunst“. Oder auch: „Kaleidoskop“. Das sah auch die Jury des wichtigsten US-Literaturpreises so: Choi wurde für diesen Roman 2019 mit dem National Book Award ausgezeichnet.

Lassen Sie sich fallen

Haben Sie schon einmal an einer Vertrauensübung teilgenommen? Die einfachste ist: Sie stellen sich vor eine Person, der Sie vertrauen, und lassen sich rückwärts fallen. Werden Sie aufgefangen, ist die Vertrauensübung geglückt. Andernfalls sollten Sie möglicherweise Ihr Vertrauen zu der anderen Person überdenken.

An der CAPA, der Citywide Academy for the Performing Arts, die Teenager aufnimmt, die schon in jungen Jahren als Darsteller vielversprechend scheinen, gehören solche Vertrauensübungen zum Lehrprogramm, allerdings in scheinbar endlosen Variationen.

Im Jahr 1982 begleiten wir Sarah und David, zwei 15-Jährige, die gerade neu an der CAPA angenommen worden sind, durch ihr erstes Schuljahr. Sarah, die aus einfachen Verhältnissen stammt, und David, Spross eines wohlhabenden Elternhauses, ein „rich kid“, verlieben sich trotz aller Unterschiede und Ungereimtheiten ineinander. Doch diese Vertrauensübung geht schief. Sarah tritt hinter Davids Rücken zur Seite, als der sich gerade öffentlich fallen lassen will.

Grausam demütigende Bühnenarbeit

Stattdessen tritt nun Mr. Kingsley hinter Sarah und wird ihr Vertrauenslehrer. Ganz ohne sexuelle Konnotation. Vielleicht. Denn Mr. Kingsley ist doch schwul, erinnert sich Sarah immer wieder. Sie erzählt von ihrer misslungenen Liebesgeschichte, und Mr. Kingsley tritt hinter ihr zur Seite, lässt sie fallen und nutzt das Gehörte für grausam demütigende Bühnenarbeit und Zurschaustellung von Sarah und David. Wie sehr aber kann Mr. Kingsley seiner eigenen Macht vertrauen? Als er sich einem Jungen namens Manuel zuwendet, reagiert Sarah.

Und wie sicher sind Sie als Leserin, als Leser, dass die Autorin Sie auffängt, wenn Sie sich rücklings fallen lassen? Seien Sie nicht zu beruhigt. Denn der ganze Roman ist eine Vertrauensübung, die Sie nicht bestehen werden. Haben Sie Seite 178 erreicht, beginnt ein neuer Teil des Buches, der überschrieben ist mit „Vertrauensübung“. Und haben Sie Seite 316 gelesen, beginnt der dritte Akt. Er heißt: „Vertrauensübung“. Ich werde mich hüten, Ihnen genau zu erzählen, was es mit diesem meta-fiktionalen Teil auf sich hat – Ihnen entgeht am Ende noch der Genuss des Fallens.

Psychologisch wie strukturell raffiniert aufgebaut

Susan Choi schafft mit ihrem Roman ein vielschichtiges, zu Diskussionen und Interpretationen anstiftendes Werk, das wie ein Kaleidoskop immer neue Facetten aufblitzen lässt. Psychologisch wie strukturell ist der Roman raffiniert aufgebaut, das Dasein an einer Schauspielschule treffend gezeichnet; und das ist ja noch längst nicht alles.

Die Autorin war einst selbst Schülerin an einer solchen High School, wie sie in ihrer Danksagung schreibt: „Ganz ausdrücklich das positive Gegenstück zu meiner fiktiven CAPA und ein Hort der Träume, nicht der Albträume.“

Susan Choi, die 1969 als Tochter eines koreanischen Vaters und einer jüdischen Mutter in South Bend im US-Bundesstaat Indiana zur Welt kam, erzählte dem New York Magazine 2019 (sehr lesenswert!), beim Schreiben habe sie eine verrückte Wut angetrieben. Zum einen über die Trennung von ihrem Ehemann nach 13 Jahren. Zum anderen über die erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump, ganz besonders aber über dessen Prahlereien mit sexueller Gewalt („grab’em by the pussy“).

Lesen Sie dieses Buch. Geben Sie es auch Freundinnen und Freunden, denn Sie werden Vertraute suchen, mit denen Sie darüber sprechen können. Es ist ein Roman, dem Sie nicht vertrauen können, der jede Leserin und jeden Leser auf Loyalität testet und zugleich Lügen und Wahrheiten kunstvoll verstrickt, um daraus etwas Neues zu schöpfen. Aber ist es eine Lüge? Ist es Wahrheit? Was ist es? Keine leichte Kost, aber dennoch: unbedingt lesen! Doch gestatten Sie mir noch eine Frage: Vertrauen Sie mir?

Susan Choi: Vertrauensübung, Kjona-Verlag, München, 2023, 349 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3910372115

Seitengang dankt dem Kjona-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.