Nichts geworden mit der Idylle

Das Feuerwerk ist abgesagt, und wer es in diesem Jahr zu Silvester vermisst, hat einen guten Grund, Sophia Fritz‘ Debütroman „Steine schmeißen“ zu lesen. Denn in diesem in der Jetztzeit von Wien spielenden Roman begleiten wir Anna und ihre Freundinnen und Freunde vom alten Jahr ins neue. Was eine entspannte Silvesternacht werden könnte, gerät zu einem Tanz auf brüchigem Boden – und zu einem Ergebnis, als habe jemand aus Versehen ein Streichholz in die Kiste mit dem Feuerwerk fallen lassen.

Es gibt nicht nur einen guten Grund, dieses Buch zu lesen, es gibt viele: Die Sprache, der Drive, die Figuren, der Witz. Und nicht zuletzt ist es ein umwerfendes, packendes, eloquentes Stück Literatur, bei der wir uns fragen dürfen: Warum, zum Teufel, hat Sophia Fritz erst jetzt angefangen, Romane zu schreiben? Was haben wir in den vergangenen Jahren verpasst!

Sophia Fritz – wer ist das eigentlich? Die Debütantin wurde 1979 in Tübingen geboren, sie studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film in München Drehbuch und erarbeitet Serienformate für verschiedene Produktionsfirmen. Sie hat bereits literarischen Kurztexte geschrieben und dafür zahlreiche Literaturpreise und Stipendien bekommen. Außerdem schreibt sie für die Wochenzeitung Die Zeit.

„Ein Freilichtmuseum von Gefühlen“

Und nun also „Steine schmeißen“, über das Sophia Fritz in einem Interview für das Branchenmagazin Buchreport selber sagt: „Ein gordischer Knoten an Beziehung und ein Freilichtmuseum von Gefühlen. Lauter Herzen, die so schwer sind vom Schwimmbad, und Tauwettergesichter, die nicht so genau wissen, wohin jetzt. Und dann auch mein bester Versuch, ehrlich zu bleiben.“

Ehrlich bleiben. Treibt es auch die jungen Erwachsenen an, über die Fritz in ihrem Roman schreibt? Diese Generation Z, die „Z-ler“, die versuchen, cringe Situationen zu vermeiden, tapern in „Steine schmeißen“ so unausweichlich in ihre Zukunft, an langen Fäden gelenkt von einer Autorin, die nicht nur Sprachbilder beherrscht, sondern auch den nötigen Abstand zu ihren Figuren einhält, um ihnen mit direkter Ehrlichkeit die Folgen ihres Handelns vor den Latz zu knallen.

Weil es die Nacht der Nächte ist

Anna und ihre Clique versammeln sich bei Marie, um ganz gemütlich, mit gestreamtem Kachelofen, ins neue Jahr zu feiern. Man fläzt sich in den Ledersesseln, und in den Hosentaschen nehmen die mitgebrachten Drogen die Körperwärme an. Koks und vielleicht eine kleine Menge Ecstasy. Weil es die Nacht der Nächte ist. Und weil diese jungen Menschen intensive Erfahrungen suchen, denn Anna sagt an einer Stelle: “ Nicht mal von Worten lassen wir uns berühren, damit etwas Spuren hinterlässt, muss es uns am Kiefer packen, in den ersten drei Sekunden explodieren oder sehr persönliche Fragen stellen“. Da hat man keine Fragen mehr.

Sie alle bringen an diesem Abend ihr Päckchen mit. Die Halbwaise Anna ist von ihrem Freund, ihrer großen Jugendliebe, verlassen worden, aber niemand außer ihrer Mutter weiß davon. Ihren Freunden erzählt sie, Alex habe Magen-Darm. Jara und Lukas sind in einer On-off-Beziehung, Marie dagegen „hat nie jemand Festes bei sich, nur manchmal ihren Bruder, von dem sie sich beschützen lässt“: Samir, mit dem sich Anna seit zwei Jahren trifft, wenn sie harten Sex braucht. Weiß aber natürlich niemand. Marie hat sich die Wangen unterspritzen lassen, um ihren Vater aus dem Gesicht zu tilgen; weiß Anna.

Fede ist auch da, das ist Annas bester Freund. Der will sich in den nächsten vier Stunden noch verlieben und dabei am liebsten betrunken sein. Anna erinnert sich an dessen Vater und wie der ansonsten so schweigsame Mann einmal sagte: „Es tut mir leid, dass das nichts geworden ist mit der Idylle.“ Manchmal brechen sich Weissagungen auf ungewöhnliche Art und Weise Bahn. Eine weitere könnte sein: Eigentlich sind Tantramasseur*innen die wahren Retter*innen in der Not.

Schöne Idee, leicht esoterisch angehaucht

Es ist Lukas, der den Stein ins Fliegen bringt. Er hat die Idee, dass sie alle mit Filzstiften jene Dinge auf Steine schreiben, die sie loswerden wollen. Vor Mitternacht sollen die Steine dann in die Donau geworfen werden, um sich damit sinnbildlich von den jeweiligen Belastungen zu befreien. Schöne Idee, leicht esoterisch angehaucht, aber das Ding geht – um in der Böllersprache zu bleiben – komplett nach hinten los und zerfetzt jede Form von Geheimnis und Stillschweigen.

Sophia Fritz schreibt mit einem Blick für Dramaturgie prägnante, scharf umrissene Sätze. Klar, möchte man sagen, sie hat das Drehbuchschreiben ja studiert. Aber eine studierte Drehbuchschreiberin ist ja nicht automatisch eine hervorragende Romancière.

„Steine schmeißen“ kitzelt beim Lesen den Wunsch, hier und dort ein paar Sätze zu notieren, um sie nicht zu vergessen. Kleinode wie „Der Himmel hat Lampenfieber und winkt die Wolken weiter“, „rutschige Träume“, „Baumwollbrüste“, „ein Herz wie ein Sitzsack“, „laufen, als würde ich auf Schnitzel und Schlagringe stehen“, „das Gesicht in die Handflächen einbuddeln“, „mit den Augen vertippen“ und „das Geländer ist es gewöhnt, festgehalten zu werden“. In ähnlich starker Sprache schreibt noch Simone Buchholz ihre Krimis.

Was Sophia Fritz leider nicht beherrscht, aber auch hier ist sie in bester Gesellschaft, ist das Wortfeld „sagen/sprechen“. So lässt sie jemanden ein „Ja“ lächeln, wenig später nickt jemand ein „mega“, dann wieder räuspert sich Lukas ein „ich glaube“. Das soll mal jemand beim Film versuchen: „Ich glaube“ sagen und sich gleichzeitig räuspern. Das „Mega“-Nicken wird später noch ergänzt durch ein „‚Touché‘, nickte er.“ Nun. Es muss ja auch nicht alles schön sein in der deutschen Literatur.

Sophia Fritz hat einen großen Wurf getan, und es werden weitere folgen. Bereits für das Frühjahr ist im Kanon-Verlag ein zweites Buch von ihr angekündigt, das sie zusammen mit Martin Bechler, dem Mastermind der Kölner Indie-Band „Fortuna Ehrenfeld“, geschrieben hat. „Kork“ heißt es und soll vom richtigen Wein im falschen Leben erzählen. Der hätte Anna und Konsorten aber auch nicht mehr geholfen. Ehrlich bleiben, das schon eher.

Sophia Fritz: Steine schmeißen, Kanon-Verlag, Berlin, 2021, 229 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3985680078

Seitengang dankt dem Kanon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

2 Antworten auf “Nichts geworden mit der Idylle”

  1. Wie immer war es eine Freude, Deine Rezension zu lesen, die wie gewohnt informativ und unterhaltsam zugleich ist. Über eine Sache aber wundere ich mich nun zum wiederholten mal: Warum kann man kein „Ja“ lächeln oder kein „mega“ nicken? Natürlich geht das, so zumindest meine Meinung. Man lächelt zwar nicht das Wort „Ja“, aber den Aussagewert eben dieses Wortes, sodass mir die zitierte Kurzform durchaus legitim erscheint. Man kann doch auch ein „Ja“ nicken oder anderweitig artikulieren, das sprechen ist doch nur eine von verschiedenen Möglichkeiten sich auszudrücken. Was wäre denn die von Dir bevorzugte Alternative? „Sein Lächeln drückte Zustimmung aus?“ Ich finde, dass diese Variante z.B. mehr Distanz zwischen Leser und dem entsprechenden Charakter erzeugt. Die Bilder im Kopf entstehen hier nicht so unmittelbar. Wenn z.B. jemand ein „mega“ nickt, habe ich spontan eine Person vor Augen, die mit weit aufgerissenen Augen heftig mit dem Kopf nickt, dieses Bild ließe sich alternativ nur mit recht umfangreicher Beschreibung der Gestik und Mimik der entsprechenden Person erzeugen, was möglicherweise vom Autor in einer bestimmten Situation bewusst nicht gewünscht ist, da sie zu sehr vom eigentlichen Fokus oder der Atmosphäre ablenken würde. Ich sehe daher die von Dir kritisierten Ausdrucksweisen als Stilmittel an, das ganz bewusst helfen kann, in bestimmten Situationen die gewünschte Stimmung zu verstärken. Es würde mich interessieren, warum das darauf hinweisen soll, dass jemand das Wortfeld „sagen/sprechen“ nicht beherrscht, mit Verlaub übrigens eine dezent Überheblich anmutende Formulierung.

    1. Lieber Michael, danke für Deinen Kommentar! Auf Deine Fragen gehe ich natürlich gerne ein. Ich habe ja jetzt schon öfter in meinen Rezensionen auf das Nichtbeherrschen von Wortfeldern hingewiesen, wenn mir das aufgefallen ist. In letzter Zeit ist mir das vermehrt untergekommen, und es nervt mich jedes Mal. So wie es mich jedes Mal kolossal nervt, wenn Autor*innen „brauchen“ ohne „zu“ gebrauchen. Das habe ich auch bereits öfter in meinen Rezensionen angemerkt.
      Nun aber soll es ja um die Wortfelder gehen. Im Wortfeld „sagen/sprechen“ sind all jene redebezeichnenden Verben versammelt, die eine ähnliche Bedeutung haben, also sinnverwandt sind. Sinnverwandt zu „sagen/sprechen“ ist aber nicht „nicken“, „lächeln“, „räuspern“. Du findest, dass man ein „Ja“ lächeln kann, wenn auch nicht das Wort, so aber doch den Aussagewert durch Nicken artikulieren. Das ist aus meiner Sicht nicht möglich. Artikulieren bedeutet, etwas mit Worten zu sagen. Das Lächeln und Nicken dagegen ist non-verbale Kommunikation. Du kannst bejahend nicken, aber kein Ja nicken. Du kannst Ja sagen oder rufen oder flüstern und dabei lächeln, aber Du kannst kein Ja lächeln. Und erst recht kannst Du kein „mega“ nicken. Du kannst es schreien oder fragen oder hinzufügen und jeweils dazu nicken. In journalistischen Texten findest Du nach der wörtlichen Rede oft das Wort „so“: „‚Das ist Quatsch‘, so Landwirt Otto Müller.“ „So“ ist auch kein Wort aus dem Wortfeld „sagen/sprechen“ und erst recht kein Verb.
      Du magst das überheblich finden, wenn ich Autor*innen das Nichtbeherrschen des Wortfelds unterstelle, ich aber sage: es ist eine Rezension, bei der es natürlich auch um sprachwissenschaftliche Dinge gehen kann, und eine Rezension ist natürlich wertend. Grundsätzlich geht die Wertung immer erstmal an den/die Urheber*in des Werkes, hier also die Autorin. Aber natürlich hätte hier auch das Lektorat des Verlags aufpassen müssen. Sagen wir mal so: Nur weil jemand die Kommasetzung nicht beherrscht, kann er/sie ja trotzdem tolle Bücher schreiben. Dann setzt eben das Lektorat die Kommata an die richtigen Stellen. Wenn jemand Wortfelder oder Grammatik etc. nicht beherrscht, passt eben das Lektorat auf. Egal wie man es dreht und wendet: aus meiner Sicht passt die Wahl der redebezeichnenden Verben in diesem Buch nicht immer, was mir vor allem deshalb aufgefallen ist, weil die Sprache ansonsten wirklich hervorragend ist. Und ich kann das (aus Deiner Sicht: dezent überheblich / aus meiner Sicht: selbstbewusst) behaupten, weil es meine Rezension ist und ich mich beruflich regelmäßig mit der Redigatur von Texten beschäftige und dort selbstverständlich auch auf diese und ähnliche Dinge achte.
      Ich hoffe, ich konnte Dir meine Sicht ein bisschen verdeutlichen. Und natürlich hoffe ich, dass Du meinem Blog weiterhin gewogen bleibst!
      Liebe Grüße,
      Christian

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