Rund ein Jahr lang hat Lars Kepler seine Leser warten lassen. Jetzt endlich ist der fünfte Kriminalroman mit dem eigensinnigen Ermittler Joona Linna erschienen – und das Rätsel um seinen möglichen Tod gelöst. Anfangs noch etwas wacklig auf den Beinen sucht er diesmal einen brutalen Serienmörder und Stalker, der offenbar ein heftiges Problem mit Frauengesichtern hat. Glücklicherweise ist der fünfte Band durchdachter und spannender als sein Vorgänger.
Stellen Sie sich vor, es ist Abend und Sie sitzen allein mit einem Glas Wein auf dem Sofa und schauen Fernsehen. In einer Werbepause blicken Sie gedankenverloren aus dem Fenster und entdecken plötzlich ein Gesicht an der Scheibe. Im nächsten Augenblick ist es verschwunden, und Sie können sich nicht mehr sicher sein, ob Sie es wirklich gesehen haben. Sie stehen auf und treten näher ans Fenster, doch dort spiegelt sich nur das hell erleuchtete Zimmer, in dem Sie stehen. Hat Ihnen die eigene Müdigkeit ein Schnippchen geschlagen? Sie lächeln über ihre Angst und kehren zum Sofa zurück. Doch jetzt haben Sie ein Geräusch gehört und fragen sich: Bin ich wirklich allein?
Die Frauen, die in Stockholm dem Stalker begegnen, stellen sich diese Frage nicht lange, denn schon im nächsten Moment bringt er sie auf blutrünstige und bestialische Art und Weise um. Er entstellt ihre Gesichter und lässt die Leichen in rätselhaften Positionen zurück. Der Polizei mailt er zuvor ein Video, das das Opfer noch zu Lebzeiten zeigt, gefilmt durch die hell erleuchteten Fenster. Die Informationen reichen jedoch nie aus, um den Mord zu verhindern.
Großteil der Spuren vernichtet
Gerade der letzte Mord aber hat es noch besonders in sich, denn der Ehemann des Opfers findet seine Frau kurz nach der Tat und reagiert panisch. Er putzt das Haus und trägt seine Frau ins Bett. Für die Kriminalpolizei ist es ein Fiasko, weil er damit den Großteil der Spuren vernichtet hat. Hinzu kommt, dass der Ehemann unter der traumatischen Erfahrung einbricht und sich nur noch bruchteilhaft daran erinnert, was er gesehen hat. Die Landeskriminalpolizei unter Leitung der hochschwangeren Kommissarin Margot Silverman beauftragt den Psychiater Erik Maria Bark damit, den Ehemann unter Hypnose zu befragen.
Kepler-Leser kennen Bark schon seit dem Debüt-Roman „Der Hypnotiseur“. Inzwischen ist er von seiner Frau geschieden, hat hin und wieder Frauenbekanntschaften und frönt immer noch seinem Laster, der Tablettensucht. Die Hypnose des Ehemanns führt ihn zurück zu einem alten Fall, bei dem der Tatort ähnlich aussah. Bark verschweigt der Polizei dieses Detail, offenbart sich aber gegenüber seinem besten Freund Joona Linna. Gemeinsam ermitteln sie auf eigene Faust, aber auch sie können das Morden nicht aufhalten. Und plötzlich steht Bark selbst direkt in der Schusslinie.
Mit dem neuen Roman hat das schwedische Autoren-Ehepaar Alexandra Coelho Ahndoril und Alexander Ahndoril alias Lars Kepler zu seiner alten Klasse zurückgefunden. Die liebgewonnenen Charaktere Joona Linna und Erik Maria Bark entwickeln sich entscheidend weiter, und auch andere Figuren aus der Reihe tauchen wieder auf. Neu in dem Gefüge ist die schwangere Kommissarin Margot Silverman, die trotz weit vorgeschrittener Schwangerschaft noch arbeitet und unter der zusätzlichen Belastung leidet, einen schnellen Ermittlungserfolg vorweisen zu müssen. Lars Kepler lässt sie deshalb leicht aus der Haut fahren, sie ist oft genervt, ähnlich starrköpfig wie Linna und wirkt über weite Strecken des Buches eher unsympathisch. Sie ist für den Leser nicht leicht zu nehmen, und gerade das macht sie zu einer der interessantesten Figuren.
Spannend und dramatisch
Litt der Vorgänger noch an zahlreichen Ungereimtheiten, so merkt man diesem Roman an, dass er besser recherchiert worden ist. Nach wie vor schreibt Lars Kepler sehr brutal und blutig; für zarte Gemüter ist auch der neue Roman deshalb nicht geeignet. Als Schwedenkrimi-Leser ist man einiges gewöhnt, aber hier legt Kepler nochmal eine Psycho-Schippe nach. Es ist spannend und dramatisch, und die kurzen Kapitel sorgen für einen ganz eigenen Lese-Sog. Es bleibt zu hoffen, dass die restlichen Bände der auf acht Bücher ausgelegten Serie weiterhin auf diesem Niveau bleiben.
Fraglich ist aber erneut, warum der Bastei Lübbe Verlag den passenden Titel der schwedischen Originalausgabe („Stalker“) nicht übernommen, sondern ihn mit „Ich jage dich“ übersetzt hat. Die Umschlaggestaltung mit einem auf den Betrachter gerichteten Fotoapparat unterfüttert die Deutungsmöglichkeit, dass nicht Stalking das Thema des Buches ist, sondern vielleicht ein Paparazzo. Der Mörder aber fotografiert seine Opfer nicht, sondern filmt sie. Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass der Verlag weiterhin seiner Linie treu bleibt und die Bücher der Serie mit farblich passenden Lesebändchen versieht.
Lars Kepler: Ich jage dich, Bastei Lübbe Verlag, Köln, 2015, 687 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,99 Euro, ISBN 978-3785725115, Leseprobe