Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel nannte ihn einmal den „Revier-Goethe“, die jüngere Generation kennt ihn vor allem durch seinen Jugendroman „Vorstadtkrokodile“: Max von der Grün. Heute vor zehn Jahren verstarb der deutsche Schriftsteller. Das ist Anlass genug, um sich wieder mit seinem Werk zu beschäftigen, das erschreckend aktuell geblieben ist. Das gilt bereits für seinen Erstlingsroman „Männer in zweifacher Nacht“. Erschienen im Jahr 1962 erzählt er die Geschichte dreier Bergleute, die bei einem Grubenunglück unter Tage eingeschlossen werden. Es ist ein hervorragendes und bedrückendes Kammerspiel, aber auch eine deutliche Anklage an die profit- und raffgierigen Unternehmer.
An einem Tag zwischen Weihnachten und Neujahr, „die Feiertage standen noch in ihren Gesichtern“, fährt die nächste Schicht in die Tiefe, darunter der junge Johannes Brinkmann sowie die Hauer Stanislaus „Stacho“ Hubalek und Josef Kießling. Von Anfang an hat Brinkmann keinen leichten Stand unter den Kumpeln: Er ist Werkstudent und angehender Theologe, ein „studierter Hanswurst“. Der Steiger rät Hubalek sogar, er möge Brinkmann „besonders an die Kandare (…) nehmen, diesen Leuten solle nichts geschenkt werden, auch sie sollten im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen.“
Sie haben ihre Arbeit noch nicht richtig begonnen, da werden die drei plötzlich bei einem Strebbruch eingeschlossen und zu Schicksalsgenossen. Es gehört zu den eindringlichsten Passagen des Buches, als Stacho das Unglück kommen sieht, jedoch wie gelähmt stehen bleibt, weil er es nicht fassen kann. Wie die „Zeitlupenwiedergabe eines Filmstreifens“ sieht er die so sicher aufgestellt geglaubten Stützen in sich drehend zusammenbrechen. Mit wenigen Worten skizziert von der Grün das Schrecknis, das Charaktere wie Leser gefangen nimmt.
Zwei Männer aus zwei unterschiedlichen Welten
Kießling ist bei dem Unglück so schwer verletzt worden, dass er an seinen Wunden stirbt. Übrig bleiben zwei Männer aus zwei unterschiedlichen Welten, glaubt Stacho: Die der Arbeiter und die der „Bonzen“, zu denen er Brinkmann zählt. Der weiß ganz genau, wie Stacho tickt. Er kennt die Vorwürfe der Arbeiterklasse: Arbeiter dürfe sich nur schimpfen, wer durch seine Arbeit schwitzt, aber durch das Ausarbeiten von Predigten werde man noch nicht zum Arbeiter.
Von der Grün hat den Bergarbeitern im Jahr 1962 mit diesem Roman erstmals eine Bühne gebaut. Eine Literatur der industriellen Arbeitswelt gab es zu der Zeit nicht. Von der Grün aber kannte sich dort aus. Er selbst entstammt diesem Milieu, schuftete noch als Bergmann in der Zeche Königsborn im Kreis Unna unter Tage, als er an seinem ersten Roman arbeitete. Zweimal wurde er bei seiner Arbeit verschüttet. Das Gefühl des „Wir hier unten, Ihr da oben“ kannte er zur Genüge aus eigener Erfahrung. Es ist also auch Max von der Grün, der aus Stacho spricht: „Der Kumpel ist der Arsch der Welt, hat außerdem einen breiten Buckel, auf dem die Dividende ausgehandelt wird.“
Dies ist zugleich eine der zentralen politischen Aussagen des ganzen Romans. Und sie ist Resümee einer Rede, die die Ohnmacht der Bergarbeiter vor den Machtstrukturen deutlicher nicht ausdrücken könnte: „Wirtschaftswunder. – Käse. Arbeiter erleben keine Wunder, sie wundern sich nur über die Wunder der andern, und schließlich wird alles Wunder auf unseren Rücken ausgetragen. Wirtschaftlicher Aufstieg? – Käse. Die Kohle ist noch genauso schwarz wie vorher, und in den Streben ist es noch genauso heiß. Russen? Na und? Sollen doch kommen. Für uns Bergleute ist jedes Regime annehmbar, Hauptsache, wir haben unser Geld und unser Recht. Leben wollen wir, einen Garten haben und Ruhe. Gefasel von Freiheit. Die Idioten, als ob unter Tage Freiheit wäre. Ist nur ein Wort für Großverdiener, sprechen von Freiheit und meinen das Geld. Bande. Spekulanten.“ Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das „Wir hier unten, Ihr da oben“-Gefühl ist nicht gewichen. Deshalb liest sich „Männer in zweifacher Nacht“ nicht nur als zeithistorisch bedeutendes Buch, sondern noch immer als aktuelles Beispiel aus der Arbeitswelt.
Ein handfester Skandal
Ein großer Erfolg wurde „Männer in zweifacher Nacht“ im Jahr 1962 nicht. Erst mit seinem zweiten Roman „Irrlicht und Feuer“ wurde Max von der Grün 1963 einem überregionalen Publikum bekannt, auch weil daraus ein handfester Skandal wurde. Walter Ahrend, stellvertretender Vorsitzender der IG Bergbau und Energie und späterer Bundesarbeitsminister, verurteilte den Roman als „Machwerk“ und schlug vor, ihn zu verbrennen. Ein Vorabdruck brachte auch die Gewerkschaften in Rage. Schikanen seitens der Firmenleitung sorgten schließlich dafür, dass von der Grün seinen Job als Bergmann aufgab und freier Schriftsteller wurde. Sein zweiter Roman war zu diesem Zeitpunkt bereits auch international ein Erfolg geworden. Die Bühne für die Bergarbeiter und gesellschaftlich Unterdrückten aber hat er nie wieder eingerissen, sondern weiterhin bespielt.
Einige Jahre lang waren seine Werke trotzdem im Buchhandel vergriffen und nur noch im Antiquariat zu bekommen. Vergaß Deutschland etwa einen der bedeutendsten Vertreter der sozialkritischen Literatur der Nachkriegszeit? Nicht ganz. Seit 2009 gibt der Pendragon Verlag aus Bielefeld Max von der Grüns Werkausgabe heraus, und zwar in vortrefflicher Art und Weise. Sämtliche Bände der zehnteiligen Werkausgabe sind gebunden erschienen und enthalten weitere Erzählungen, Reportagen und Erinnerungen sowie jeweils ein Nachwort. So finden sich im vorliegenden Band I („Männer in zweifacher Nacht“) die drei kurzen Prosatexte „Der Betriebsrat“, „Das Wunder“ sowie „Der Wacholderkönig“.
Dass die Werkausgabe von Max von der Grün nicht bei einem Verlag aus dem Ruhrgebiet gelandet ist, sondern in Bielefeld verlegt wird, verwundert allerdings. Auf Seitengang-Anfrage erklärt Eike Birck vom Pendragon-Verlag, das sei dem Engagement von Verleger Günther Butkus zu verdanken. „Schon früh hat er sich für die Romane von Max von der Grün begeistert und sich dafür eingesetzt, dass sein Werk nicht in Vergessenheit gerät.“ Dass die Gefahr überhaupt besteht, müsste überraschen, denn von der Grün war nie nur der „Chronist einer versunkenen Kultur – der des deutschen Proletariats“, wie Jan Feddersen, Redakteur der Berliner Tageszeitung taz, ihn in seinem ansonsten lesenswerten Nachruf bezeichnete. Seine Romane sind stets aktuell geblieben: Ob es die Ausländerfeindlichkeit in „Springflut“ ist, Liebe im Alter („Späte Liebe“), die wieder erstarkende rechte Szene in „Flächenbrand“ oder Mitarbeiterbespitzelung in „Stellenweise Glatteis“ – das alles sind keine Themen, die nur noch zeithistorisches Interesse haben.
Max von der Grün starb am 7. April 2005 im Alter von 78 Jahren in Dortmund. Was ist von ihm geblieben? Seine „Vorstadtkrokodile“ werden vor allem an den Schulen noch immer gelesen – nicht aus zeithistorischem Interesse. Seine restlichen literarischen Werke aber gehören auch wieder in die Leserhände. Greifen wir zu!
Max von der Grün: Männer in zweifacher Nacht, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2009, 246 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3865321206
Seitengang dankt dem Pendragon Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
Schön, dass sich mal wieder jemand an Max von der Grün erinnert. Der Name steht schließlich für weit mehr, als nur die „Vorstadtkrokodile“. Gerade die jüngeren Menschen im Ruhrgebiet, die keine Zeche mehr in Betrieb erlebt haben, geschweige denn unter Tage waren, könnten dem Werk des Dichters eine Menge abgewinnen.