Der vergessene Schöpfer des unvergesslichen Central Parks

Hand aufs Herz: Kennen Sie den US-Amerikaner Andrew Haswell Green? Die meisten Menschen dürften das verneinen, obgleich sie im selben Atemzug eine Frage nach der Bekanntheit des Central Parks von New York City bejahen würden. Ohne Andrew Haswell Green gäbe es heutzutage jedoch keinen Central Park, keine New York Public Library, kein Metropolitan Museum of Art. Zum Anfang des 20. Jahrhunderts erhielt Green gar den Beinamen „Vater von Greater New York“, weil er entscheidend daran mitgewirkt hat, dass sich Manhattan und Brooklyn, Queens und Staten Island zu einer einzigen Stadt vereinen.

Und heutzutage? Ist der Mann nahezu vergessen. Dank eines einfühlsamen Romans des britischen Autors Jonathan Lee dürfte sich das in Teilen ändern oder bereits geändert haben. Im vergangenen Frühjahr erschien im Diogenes-Verlag sein Buch „Der große Fehler“. Es erzählt die bewegende Lebensgeschichte von Andrew Haswell Green – aber auch die mysteriösen Hintergründe seines abrupten und tragischen Ablebens. Denn Green wurde plötzlich und unerwartet auf der Treppe vor seinem Haus mit fünf Pistolenkugeln niedergestreckt. Wer sollte diesem Mann von 83 Jahren nach dem Leben trachten?

Der bei London aufgewachsene Jonathan Lee ist bereits 2012 nach New York City gezogen und spaziert gern durch den Central Park. Eines Tages entdeckt er eine marmorne Bank, die schon etwas verwittert ist. Tauben haben ihre Geschäfte darauf erledigt, und einmal pro Woche kommt jemand, um den Dreck zu entfernen. In die Rückenlehne ist eine Inschrift eingraviert: „Zu Ehren von Andrew Haswell Green / Dem Schöpfergeist des frühen Central Park / Vater von Greater New York“. Der Name sagt Jonathan Lee, dem Autor von drei Romanen, dem New Yorker Verlagsmitarbeiter und Drehbuchschreiber, überhaupt nichts. Null. Er beginnt zu recherchieren und weiß bald: Das wird mein nächster Roman.

Erzählerisch äußerst gelungen

Der ist vor allem erzählerisch äußerst gelungen und sprachlich glänzend geschrieben. Es ist weniger ein Kriminalroman als ein biographischer Zugang in das New York zur Jahrhundertwende. Natürlich behandelt Lee auch die Ermittlungen des wunderbaren Inspectors McClusky, der in der Not steht, sich beweisen zu müssen, nachdem er zuvor durch ein Ungeschick seinen Ruf in der Polizeitruppe ruiniert hat. Dieser Erzählstrang nimmt jedoch nicht so viel Zeit ein, wie der Klappentext des Buches das vermuten ließe.

Auf einer zweiten Zeitebene erzählt Lee detailreich vom Aufwachsen, Leben und Handeln des einst berühmten Mannes. Greens Eltern haben elf Kinder, er selbst ist das siebte in der Reihe. Ein zurückhaltender, schmächtiger Junge, der Ordnung liebt und gerne zeichnet, dem aber nicht erlaubt wird, die Schule zu besuchen. Denn seine Arbeitskraft ist auf dem Bauernhof der Familie in Massachusetts wesentlich mehr von Nöten. Als Green 12 Jahre alt ist, stirbt seine geliebte Mutter. Ein Schock für ihn. Als man ihn dabei erwischt, wie er seinen besten (und einzigen) Jugendfreund küssen will, schickt ihn der Vater in die Lehre bei einem befreundeten Gemischtwarenhändler in New York.

Dort blüht Andrew Haswell Green auf, und er soll es noch mehr tun, als eines Tages der junge Anwalt Samuel Tilden in den Laden schneit. Der nimmt sich seiner an, macht ihn zu seinem Assistenten, zeigt ihm die Welt der Bücher („Ich glaube, dass man ohne eine Vorliebe für das Lesen niemals ein eleganter Mann werden kann“) und wird später stadtbekannte Projekte mit ihm umsetzen. Allen voran den Central Park, einen öffentlichen Park, der für alle Menschen frei zugänglich sein soll – ungewöhnlich für die Zeit, war man doch sonst bestrebt, Eintritt zu verlangen, um die Landstreicher und Kriminellen aus den Parks zu halten. Außerdem sollten Manhattan und Brooklyn zusammengeführt werden. Eine Idee, die manchen Zeitgenossen sehr zuwider war, die Green aber mit großer Verve verfolgte.

Bangen um ihr Ansehen und Wirken

Es ist mehr als eine innige Freundschaft, die die beiden Männer verbindet. Doch sie sind zu keiner Zeit bereit, ihre Liebe zueinander öffentlich zu machen, weil es sie bangt, dass nicht bloß ihr Ansehen, sondern vor allem ihr Wirken und ihre Vorhaben für die Gesellschaft dadurch Schaden nehmen können. Jonathan Lee beschreibt diesen inneren Kampf der unmöglichen Liebe, des Wollens, aber nicht Könnens, behutsam und mit viel Wissen um die Nuancen dieser Entscheidung.

Jonathan Lee hat seinen Roman in 33 Kapitel unterteilt, die als Überschrift jeweils die Namen der Parkeingänge zum Central Park tragen und schon erste Hinweise auf den Kapitelinhalt erlauben. Lee hat damit auch in der äußeren Form einen Rückgriff auf Greens Werk geschaffen, alle Wege durch die Tore seines Romans führen in den Central Park. Ist das der „große Fehler“, der dem Buch seinen Titel gibt, der Central Park? Jemand sagte mal, er halte den Park mitten in der Stadt für eine „schwache, sentimentale Idee“. Oder war es ein Fehler, dass Green am Morgen des 13. Novembers 1903, der ein Freitag war, sich keinen Talisman gegen das Unheil und das Böse an den Körper gelegt hat? Oder hat der Mann, der ihn erschoss, möglicherweise den falschen umgelegt?

Selbstverständlich gibt es eine Lösung, wie es auch ein Motiv für den Mord gibt. Beides klärt Jonathan Lee in seinem Roman auf, und doch sind beide Auflösungen zweitrangig, denn in erster Linie gelingt es Jonathan Lee auf literarisch hohem Niveau einen Mann wieder ins Licht zu holen, der zu lange Zeit vergessen war. Jede Frau und jeder Mann sollte dieses Buch gelesen haben, bevor ein jeder auch nur einen Fuß durch eines der Tore im Central Park gesetzt hat. Alles andere wäre ein Fehler.

Jonathan Lee: Der große Fehler, Diogenes-Verlag, Zürich, 2022, 367 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3257071917, Leseprobe, Hörprobe

Bis es zu Ende ist

Vor zehn Jahren erschütterte der grässliche Mord an einer jungen Studentin die altehrwürdigen Mauern des fiktiven Pelham-Colleges in Oxford. Ausgerechnet ihre Mitbewohnerin und Freundin Hannah fand damals die Leiche und hatte zuvor den Mörder wegrennen sehen. Ihre Aussage brachte den Mann ins Gefängnis, wo er nun durch einen Herzinfarkt gestorben ist. Geschichte zu Ende?

Nein, denn genau jetzt will ein Journalist Hinweise darauf haben, dass der vermeintliche Mörder unschuldig im Gefängnis saß. Er meldet sich bei der labilen und schwangeren Hannah, die seit Jahren versucht, dem Thema aus dem Weg zu gehen und mit der Vergangenheit abzuschließen. Nichts ist zu Ende, bis es zu Ende ist. Das zeigt die britische Bestseller-Autorin Ruth Ware in ihrem neuen Thriller mit dem sinnigen deutschen Titel „Das College“.

Als Hannah Jones das erste Mal ihr College in Oxford betritt, ist sie überwältigt, dass ihr diese Ehre zuteil wird, hier lernen und studieren zu dürfen. Sie bestaunt den grünen Rasen, den niemand betreten darf, die hohen Hallen des Wissens, in denen schon einige berühmt gewordene Menschen wandelten, und die mittelalterlichen Studentenunterkünfte.

So schön, dass … autsch!

Die bodenständige Hannah hat das Glück, in einer dieser Suiten aus der alten Zeit zu wohnen. Nicht allein, sondern mit der unnatürlich schönen und reichen April Clarke-Cliveden, die ihren Kühlschrank gern mit Champagner gefüllt sieht und nicht wegen ihrer guten Noten in Oxford ist, sondern weil ihr Vater dem College finanziell zugewandt ist. Die zu dieser Zeit reichlich naive Hannah beschreibt April so: „Sie besaß jene Art von Schönheit, die andere in den Bann zog und zugleich wehtat.“ Ähnliche Beschreibungen von naiven Charakteren über reiche, schöne Menschen haben wir auch in Erfolgsromanen wie „Shades of Grey“ lesen dürfen. April kann man getrost als doppelgesichtig bezeichnen, denn sie spielt unter dem Deckmäntelchen ihrer Freundschaft und optischen Perfektion ihrer eigenen Clique gleichzeitig manchmal ganz schön übel mit.

Hannah hat dennoch eine gute Zeit in Oxford, wenn man mal davon absieht, dass sie sich in Will de Chastaigne verliebt, der leider Aprils Freund ist. Zwischen Will und Hannah herrscht stets eine besondere Anziehungskraft, die sich Hannah bald auf Rücksicht auf April verbietet. Hannah studiert, genießt das Partyleben, macht aber auch unangenehme Erfahrungen mit dem übergriffigen Pförtner John Neville, der ihr nachzustellen scheint.

Und eines Abends, ja, sieht sie plötzlich, wie Neville die Treppe von ihrer Wohnung hinunterkommt. Nur Minuten später entdeckt sie die tote April, hingestreckt vor dem Kamin. Es besteht kein Zweifel: Nur der unheimliche Neville kommt als Täter in Frage, und es ist letztendlich Hannahs Zeugenaussage, die den jungen Pförtner hinter Gitter bringt.

Erzählung in „Vorher“- und „Nachher“-Kapiteln

Ruth Ware erzählt den Roman in sich abwechselnden „Vorher“- und „Nachher“-Kapiteln. Die „Vorher“-Kapitel berichten von der Vorgeschichte bis zum Mord, soweit sich Hannah erinnert, in den „Nachher“-Kapitel recherchiert Hannah, ausgehend von der Todesnachricht des Verurteilten, ob Neville wirklich der Täter war oder ob sie damals einem Trugschluss aufgesessen ist. Was ist in dieser Nacht wirklich geschehen?

Leider braucht es rund 150 Seiten, bis der Roman ansatzweise in Gang kommt, und auch dann ist es nur gemächliche Thriller-Kost. Das ist verwunderlich, ist Ware doch sonst eine Pageturner-Expertin. Dem Sujet fehlt es auch an einer nachvollziehbaren Motivation, warum Hannah sich nun nach zehn Jahren diesem Thema stellt, nachdem sie es bisher so vehement verdrängt hat.

Mails von Journalisten, die sie regelmäßig zu erreichen versuchen, verschiebt sie bis dato ungelesen in einen Ordner, und sie hat weitere Mechanismen gefunden, wie sie den Mord zehn Jahre von ihrem Leben fernhält, obwohl sie inzwischen mit dem damaligen Freund des Opfers verheiratet ist (ja, ja!) und ein Kind bekommt. Die bedrohliche Notwendigkeit für die Recherche wird überhaupt nicht klar.

Wenig überraschend sind dagegen manche Wendungen in diesem Thriller – die Auflösung jedoch ist zwar nicht so vorhersehbar, wie zwischendurch befürchtet, aber auch nicht der Oberknaller. Was man Ware lassen muss: Sprachlich und vom Setting her kann ihr Thriller gut unterhalten. Mehr aber leider nicht.

Ruth Ware: Das College, dtv-Verlag, München, 2023, 463 Seiten, broschiert, 16,95 Euro, ISBN 978-3423262279, Leseprobe

Der frühe Volo fängt den Wurm

Einmal Boulevard machen. Das wünschen sich wohl manche Chefredakteur*innen, während sie abends mit den Blattmachern an den sachlich-korrekten Aufmacherüberschriften der nächsten Ausgabe tüfteln. Wäre es nicht viel einfacher, wenn man in großen Lettern reißerisch die nächste Halbwahrheit verkünden könnte? Wie es in den Newsrooms großer Boulevardblätter zugeht, weiß man nicht zuletzt durch Dokumentationen wie die umstrittene Amazon-Serie „BILD.Macht.Deutschland?“ oder den Dokumentarfilm „Kronen-Zeitung: Tag für Tag ein Boulevardstück“ der Belgierin Nathalie Borgers.

Einen ganz anderen Einblick gewährt dagegen Moritz Hürtgen in seinem exzellenten Debütroman „Der Boulevard des Schreckens“. Wer nicht ganz so tief in der Medienlandschaft steckt, weiß vielleicht nicht, dass Hürtgen über jeden Verdacht erhaben ist, den Boulevard-Journalismus zu propagieren. Der 1989 geborene Hürtgen war seit 2019 Chefredakteur der Satirezeitschrift „Titanic“, gab seinen Posten aber im Herbst 2022 auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Nun wird nicht aus jedem Journalisten ein hervorragender Romancier, und nicht jeder Chefredakteur ist qua Funktion eine Edelfeder.

Davon ist wohl auch bei Oliver Michels auszugehen, in Hürtgens Roman Chefredakteur einer überregionalen Berliner Tageszeitung. Michels kokst offen im hell erleuchteten Newsroom und ist ein ausgemachter Choleriker. In der großen Konferenz, an der sonst nur die Chefredaktion, Ressortleiter*innen und deren Stellvertreter*innen teilnehmen dürfen, ist an einem schicksalhaften Morgen auch der Volontär Martin Kreutzer anwesend.

Ein Anfall von Größenwahn und Karrieregeilheit

Ende zwanzig und damit vermutlich schon mit ein wenig Lebenserfahrung ausgestattet, kommt er in einem Anfall von Größenwahn und Karrieregeilheit auf die Idee, ein Interview mit dem Performance-Künstler Lukas Moretti anzubieten, der der Zeitung bisher alle Interview-Anfragen ausgeschlagen hat. Aber er, Kreutzer, kenne Moretti noch persönlich aus Studienzeiten, rühmt er sich. Seminare gemeinsam besucht, guter Draht und so. Problem: Ist alles geflunkert. Kein Problem: Er bekommt den Auftrag.

Für Kreutzer geht’s nach München, wo Moretti ein zweitägiges Festival veranstaltet. Doch der DJ der guten Lyrik, der erlauchte Crossover-Künstler, will von dem Schreiberling aus der Hauptstadt nichts wissen, lässt ihn eiskalt und aus Gründen abblitzen. Der aber hat in seiner Boulevard-Akademie offenbar schon was gelernt und sagt sich: Gut gefälscht ist halb gewonnen. Und erfindet kurzerhand ein komplettes Interview. Die ganze Nacht feilt er daran. Schreibt Antworten um (die Fragen gehen ihm leicht von der Hand, aber die Antworten!). Und dann, um 7.15 Uhr sendet er den Text an die Redaktion. Da ist Moretti allerdings schon tot.

Fliegt nun der ganze Schwindel auf? Ist der wahre, echte Journalismus nicht so, dass die Schurken in den Redaktionsstuben irgendwann entlarvt werden? Bei Claas Relotius hat das doch auch funktioniert. Das allerdings war „Der Spiegel“, und nicht so ein Revolverblatt wie hier. Deshalb dreht Hürtgen die Schraube noch eine Drehung weiter. Nun muss Kreutzer nach Kirching, einen Münchner Vorort mit S-Bahn-Anschluss. Dort soll er die Todesumstände Morettis recherchieren. Und dann: große Reportage. Langstrecke! Exklusiv und so. Sein Interview mit Moretti? Hat die Redaktion in Berlin längst umgeschrieben.

„Der ganze Journalismus ist im Eimer“

„Der Boulevard des Schreckens“ ist surreal und herrlich drüber. Denn Hürtgen weiß, was er tut und wie man Satire gekonnt spitz formuliert. Doch wie Hunde nicht nur spielen wollen, will Hürtgen nicht nur übertreiben. Journalist*innen müssen beim Lesen viel leiden, denn ihre Berufssparte kommt nicht gut weg. „Der ganze Journalismus ist im Eimer!“, lässt der Autor den Boulevard-Fotografen Frank Nietner wissend sagen (ohnehin eine der besten Figuren in diesem Schauspiel), „man müsste alle rauskegeln und vorn vorne anfangen.“ Die Frage wäre nur, mit wem noch?

Auch der Münchner Speckgürtel bekommt sein Fett weg. Hürtgen hat in einem Niet dieses Gürtels seine Kindheit verbracht, hat dem Menschenschlag dort vermutlich jahrelang penibel auf den Mund geschaut und kann nun authentisch die Kulisse für diesen wahnwitzigen, mediensatirischen Mysterythriller beschreiben. Da wird unnatürlich in Serie gestorben, da brennen Forellen, und ein islamophober Anführer einer Bürgerwehr patrouilliert in Zehenschuhen durchs Dorf. Und schließlich fährt bei der dörflichen Sonnwendfeier noch ein Feuerwehrauto in bester King’scher „Trucks“-Manier in die Menschenmenge. Das sind Sternstunden des Boulevard-Journalismus‘. Oder dem Volontär ist es am Ende doch zu schwer, und er verliert den Verstand. Wer weiß das schon in diesen Zeiten?

Nicht nur der Volo zeigt ein Manko

Das Garstige an diesen jungen Volontär*innen ist allerdings, dass einige von ihnen die deutsche Sprache und ihre Merksätze nicht mehr beherrschen. „Wer ‚brauchen‘ ohne ‚zu‘ gebraucht, braucht ‚brauchen‘ gar nicht zu gebrauchen“, zum Beispiel. In Hürtgens Roman ist es leider nicht nur der Volo, der dieses Manko zeigt. Auch der Autor selbst ist nicht in der Lage, das Wortfeld „sagen“ angemessen korrekt anzuwenden. Blame it on the author? Vielleicht.

Aber zu einem guten Text gehört auch immer eine gute Redigatur. Dabei sollten solche Sprachschnitzer auffallen. Leser*innen von Tageszeitungen könnten jetzt Leser*innen-Briefe schreiben und gar mit Abo-Kündigung drohen, wenn die Fehler nicht abgestellt werden. Als Roman-Leser*innen können wir nur mit Nichtlesen des nächsten Buches drohen. Das aber schreckt keinen Verlag, keinen Autor. Erst recht keinen wie Hürtgen. Und dann war dieses Debüt auch noch unverschämt gut. Deshalb folgender Vorschlag: Dem Hürtgen ist ein befristeter Vertrag in einer untertariflich bezahlten Tochtergesellschaft des Verlags anzubieten. Damit er weiter gute Romane schreibt.

Moritz Hürtgen: Der Boulevard des Schreckens, Verlag Antje Kunstmann, München, 2022, 301 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3956145094, Leseprobe

Fury, Black Beauty und der Kleine Onkel – alle tot

Der Schotte Greg Buchanan hat ursprünglich als Drehbuchautor für Videospiele gearbeitet. Unter anderem trug er zum Erfolg von „Metro: Exodus“ und „No Man’s Sky“ bei. Jetzt hat Buchanan seinen ersten Roman veröffentlicht, und er ist dunkel, verstörend, brillant – ein überzeugender Erstling.

„Sechzehn Pferde“ erzählt von einem mysteriösen und erschreckenden Fund auf einer Farm des englischen Küstenorts Ilmarsh. Dort entdeckt ein junges Mädchen auf einer morastigen Wiese sechzehn Pferdeköpfe, abgeschlachtet und kreisförmig zueinander vergraben bis auf jeweils ein Auge pro Kopf, das leer in den Himmel blickt.

Die marode Kleinstadt, die in ihrer Bruchbudenhaftigkeit – und der allgegenwärtig wehmütigen Reminiszenz an einst goldene Zeiten – an das „Joyland“ von Stephen King erinnert, erbebt unter dem Schrecken der offenbar tierquälerischen Grausamkeit.

Kein Mord, sondern allenfalls Sachbeschädigung

Detective Sergeant Alec Nichols ermittelt widerstrebend. Es sei ja eigentlich kein Mord, sondern Sachbeschädigung, sagt er. Andererseits kribbelt das detektivische Interesse. Wer würde 16 Pferde töten, und woher nehmen, wenn nicht stehlen? Waren hier Okkultisten am Werk? Ist es was Persönliches? Für die Obduktion und weitere Tataufklärung wird die Veterinärforensikerin Dr. Cooper Allen hinzugezogen. Vier Tage soll sie bleiben, dann, so die Hoffnung, sei das Verbrechen sicher aufgeklärt.

Doch davon sind Nichols und Allen weit entfernt. Die Ermittlungen ziehen sich hin, denn es bleibt nicht bei diesem einen Verbrechen. Es brennt, jemand hat einen Unfall, ein Junge verschwindet, eine abgetrennte Fingerkuppe findet sich, eine Mutter verlässt Mann und Tochter. Und dann, ja, dann werden die Menschen krank. Denn die Pferdeköpfe waren mit einer Anthrax-Variante verseucht. Sie meinen, jetzt kann es ja nicht noch ärger kommen? Doch.

Gehört zu den besten literarischen Krimis des Jahres

Was Greg Buchanan da komponiert hat, gehört zu den besten literarisch hochwertigen Kriminalromanen dieses Jahres. Obgleich es sich spannend liest, ist es kein Pageturner im eigentlichen Sinne einfach gestrickter Krimi-Massenware. Als Leser*in braucht es viel Konzentration und Aufmerksamkeit. An manchen Stellen ist es sperrig und unwirtlich wie der dort beschriebene düstere November an der englischen Ostküste. An anderen Stellen spielt der Autor mit den Ängsten und Erwartungen seiner Leser*innen, zieht sie an unsichtbaren Fäden mal in die eine Richtung, dann wieder abrupt in die andere, und oft ist es dort sehr, sehr dunkel.

Seine Figuren zeichnet er hervorragend. Er hat ein feinsinniges Gespür für Menschen, denen alles genommen wird, für die Abgehalfterten, Abgehängten, die Unsichtbaren. Seine beiden Hauptpersonen lässt er ungeschützt in die Welt. Beide ähneln sich, laufen aber auf unterschiedlichen Spuren und kollidieren manchmal. Nichols ist der knurrige Eigenbrötler, der sich nicht vom Krebs-Tod seiner Frau erholt hat. Allen ist den Menschen immerhin ein wenig zugewandt, aber wortkarg und reserviert. Humor suchen Sie in diesem Roman vergeblich, hier erstickt jede Fröhlichkeit.

Greg Buchanan, der 1989 geboren wurde und in Cambridge Englisch studiert hat, ist weltweit erfolgreich mit seinem Debüt. Der Roman wurde in 17 Sprachen verkauft, und auch die Film- und Fernsehrechte sind schon vergeben. Derzeit schreibt Buchanan an zwei weiteren Romanen, in mindestens einem davon wird Cooper Allen wieder auf der Bildfläche auftauchen.

Das Pferdegemetzel von Ilmarsh wird sicherlich auf Dauer einen Fixpunkt in der literarischen Arbeit von Greg Buchanan einnehmen. Alle Nachfolger werden sich daran messen lassen müssen. Denn den Schrecken des Höhepunkts vergisst niemand, der diesen Roman gelesen hat.

Greg Buchanan: Sechzehn Pferde, Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 2022, 444 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3103974881, Leseprobe

Die Traumtänzer vom Abgrund

Wir schreiben den 16. November 1925. Mitten im Berliner Amüsierviertel der Friedrichstraße dümpelt eine männliche Leiche in der Spree, Hinterkopf nach oben. Kein Schwimm- oder Tauchunfall, sondern: Mord. Das Opfer ist ein Journalist, der für das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ geschrieben hat. Im Ausklang des Jahres, in dem in München die NSDAP neu gegründet wurde, Hitler den ersten Band von „Mein Kampf“ veröffentlichte und die SS ins Leben gerufen wurde, lässt die Autorin Kerstin Ehmer ihren sympathischen Kommissar Ariel Spiro in einem Fall ermitteln, in dem er oft einen Schritt zu spät zu kommen scheint.

Der dritte (und bisher beste) Roman mit dem Titel „Der blonde Hund“ knüpft nahtlos an den Vorgänger an, in dem Spiro Boxunterricht genommen hatte, um den nationalsozialistischen Schlägertrupps etwas entgegensetzen zu können, und in dem die Ausbreitung des Antisemitismus beschrieben wird.

Die Spirale beginnt nun, sich schneller zu drehen. Die Nazis treten selbstbewusster auf, versammeln Geldgeber um sich und vertreiben ihre hirnlosen Schläger in die zweite Reihe. Wer ihnen dort vor die Füße fällt, dem gnade Gott.

Der Judenhass bricht sich Bahn, und auch Ariel Spiro bekommt nun häufiger antisemitische Vorurteile um die Ohren gepfeffert. Er trägt zwar einen jüdischen Namen, ist aber kein Jude. Im ersten Roman „Der weiße Affe“ hatte Spiro noch immerzu betont, seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel sei ein Luftgeist. Mittlerweile hat Spiro die Erklärungen aufgegeben. Sein Umfeld weiß Bescheid, und den Nazis ist in ihrer erbitterten Ideologie ohnehin nicht zu helfen.

„Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn“

Spiros Ermittlungen führen ihn zunächst in die Villa des bekanntesten Berliner Pianofabrikanten Eduard Bachmann („Ihre Klimperkästen sind der Stolz der Stadt“). Er und seine Frau Helena hatten sich mit dem Verleger-Ehepaar Feldstein aus München im Hotel Adlon zum Dinner getroffen. Zugegen war auch ein weiterer Herr aus München, den die Kellner als „fleischlos“ bezeichnen, als Vegetarier. Helena Bachmann beschreibt ihn hingegen so: „Oh, das ist ein überaus interessanter Mann, ein aufstrebendes, politisches Talent mit großem Potenzial. Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn.“ Der Name des Mannes wird an keiner Stelle des Romans benannt; aber es dürfte sich bei ihm um Adolf Hitler gehandelt haben.

Zurück zum Mordfall: Spiros Spur bringt ihn schließlich nach München, wo der sogenannte „Blonde Hund“ abgetaucht sein soll, ein junger Mann, der im Verdacht steht, eine Verbindung zum Mordopfer gehabt zu haben. Spiro schleicht sich unter falschem Namen im deutsch-nationalen Salon der Feldsteins ein und ermittelt im Kreis der höchsten Gesellschaftsschichten Münchens. Er begegnet dem Vater von Heinrich Himmler, wird auf der Reise zum nächsten Fixpunkt seiner Ermittlungen von einem Trupp Nazis aufgemischt, und recherchiert bei den Artamanen, wo der „Blonde Hund“ untergekommen sein soll. Die Artamanen wollten im Osten des Deutschen Reiches möglichst autark von bäuerlicher Tätigkeit leben („Fast jeden Tag ein Ei, das ist schon was“), auch um polnische Saisonarbeiter aus dem Land zu drängen. Sie verfochten eine völkische, agrarromantische Blut-und-Boden-Ideologie, 1934 gingen sie in der Hitlerjugend auf. Heute gibt es sie übrigens wieder, die völkischen Siedler: Neo-Artamanen nennen sie sich.1)

Äußerst penibel recherchiert

In Ehmers brillantem Kriminalroman ist wie immer viel drin, und dennoch wirkt er an keiner Stelle überfrachtet. Die Autorin recherchiert für ihre Romane stets äußerst penibel und schafft mit ihrem Fachwissen die prächtige Bühne für ihre Figuren. Natürlich schwingt auch immer viel Lokalkolorit mit: Die Männer trinken sich abends ihre Molle, die Damen gießen sich das Likörchen aus der Mampe-Flasche ein, und dann geht’s hinein ins pulsierende Berlin mit seinen Clubs und Bars, mit Tanz und Eleganz, mit Jazz und Klaviermusik. Dazu die Reichen und Schönen, die Arbeiter und Elenden, die Verbrecher und die ganze politische Dramaturgie der scheinbar Goldenen Zwanziger.

Während Spiro durch Deutschland fährt, bleibt seine eigenwillige Geliebte Nike Fromm in Berlin. Neugierig nimmt sie an Séancen teil, geht zu einem Wahrsager und versucht auf eigene Faust, das Rätsel um einen schwer verletzten jungen Mann zu lösen, der offenbar von einem brutalen Nazi-Offzier bei ausartenden SM-Spielen misshandelt wurde. Um Näheres herauszufinden, besucht sie eine Pension, in der Menschen mit dieser besonderen sexuellen Neigung im wahrsten Sinne des Wortes verkehren und in der niemand Fragen stellt.

Ja, es ist viel drin zwischen den beiden Buchdeckeln, und Kerstin Ehmer gelingt es auch in ihrem dritten Roman, gekonnt und mit viel Feingefühl die Spannung zu halten. Es ist ein geschickter Schachzug der Autorin, ihren Kommissar durchs Land reisen zu lassen, in einer Zeit, an der Deutschland langsam an den Scheitelpunkt gerät. Hervorragend stellt sie dar, wie die nationalsozialistische Ideologie auf der einen Seite bei immer mehr Menschen verfängt, während sie auf der anderen Seite abgetan oder gar unterschätzt wird. Der Oberkommissar der Politischen Polizei etwa verkennt die Lage völlig und sagt zu Spiro: „Meine Abteilung ermittelt überwiegend am linken Rand des politischen Spektrums, wo ich persönlich die größere Gefahr für unsere Republik sehe. Die Nationalsozialisten sind so gut wie tot.“

Nur eine ist hellsichtig und klug

Der Abgrund nähert sich, und selbst Spiro sieht es nicht. Für ihn sind die Bachmanns und Feldsteins alle „Traumtänzer, die mit Scheuklappen die Gegenwart ausblenden“. Nur eine in diesem Roman ist hellsichtig und klug: Nike Fromm. Sie sagt zu Spiro: „Etwas geschieht. Aber es ist viel größer als dein Fall. Es geschieht gleichzeitig an verschiedenen Orten. Der Aberglaube ist zurück. Unwissen und Dummheit sind wiederauferstanden und der Hass auf die Juden. Wir gehen nicht mehr vorwärts. Wir gehen zurück.“

Weniger als ein Jahr ist Spiro jetzt in Berlin. Er hat ein Mädchen gefunden, liebe Freunde und eine neue Heimat. Man hofft so sehr, dass die wandelnden Zeiten ihm das Glück nicht zerstören, aber wir gedanklich Zeitreisenden wissen es vermutlich besser: Das wird arg und ärger. Ja, fürwahr, der Abgrund nähert sich. Spiro, was wirst du tun?

Kerstin Ehmer: Der blonde Hund, Pendragon-Verlag, Bielefeld, 2022, 460 Seiten, broschiert, 22 Euro, ISBN 978-3865327635, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

1) Der „Deutschlandfunk Kultur“ hat 2017 in der Sendung „Zeitfragen“ über die neuen völkischen Siedler im ländlichen Raum berichtet. Der Beitrag ist hier nachzulesen.

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