Letzte Hoffnung Harlem

Mit „The Blacker the Berry“ ist in diesem Herbst eines der meistgelesenen Werke der Harlem-Renaissance endlich erstmals auf Deutsch erschienen. Der autobiografisch geprägte Debüt-Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Wallace Thurman (1902-1934) erzählt die Geschichte der jungen Afroamerikanerin Emma Lou, die Ende der 1920er Jahre nach Harlem kommt, um dort glücklicher zu werden.

„The Blacker the Berry“ war einer der ersten Romane, die Vorurteile und Diskriminierung innerhalb der schwarzen Gemeinschaft aufgrund der Hautfarbe offen zur Sprache brachten. Denn Emma Lou wird nicht nur in der weißen Gesellschaft ihrer Heimatstadt Boise (Idaho) wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert, sondern auch in ihrer eigenen hellhäutigen Familie. An der Schule war sie die letzten vier Jahre bis zur Abschlussklasse die einzige schwarze Schülerin auf der ganzen Schule.

„Immer weißer von Generation zu Generation“

In ihrer Familie galt immer die von der Großmutter eingetrichterte Doktrin: „Immer weißer von Generation zu Generation.“ Emma Lous Großeltern waren beide hellhäutige Nachkommen von weißen Plantagenbesitzern, die mit ihren schwarzen Sklavinnen Kinder gezeugt hatten. Auch den eigenen Kindern hatte die Großmutter das Credo eingebläut, was jedoch nichts half, denn Emma Lous Mutter heiratete einen tiefschwarzen Mann und zeugte mit ihm Emma Lou. Sie hoffte, dass ihr Kind niemals so schwarz werden würde wie sein Vater.

Schon von Kindesbeinen an wurde Emma Lou zur Außenseiterin. Und diejenigen, die sie im Familienverbund am meisten beschützen sollten, ließen sie das am meisten spüren: Ihre Großmutter und ihre Mutter; der Vater war verschwunden. „So weit Emma Lou sich zurückerinnern konnte, hatte sie die Leute immer sagen hören: ‚Was für ein ungewöhnlich schwarzes Kind Wo haben Sie es adoptiert?‘ (…) Manche meinten scherzhaft vorschlagen zu müssen: ‚Versuch’s doch mal mit ’ner starken Lauge, Jane, vielleicht hilft das Ätzen, schlimmer kann’s ja nicht werden.'“

Emma hat schon in ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend viel seelischen Schmerz erlitten. Als ihr Onkel schließlich durchsetzt, dass sie auf die University of Southern California nach Los Angeles gehen darf, fühlt sich das für sie wie ein Befreiungsschlag an. In L.A. ist sie fasziniert von der großen schwarzen Community – endlich würde ihre Hautfarbe keine Rolle mehr spielen. „Onkel Joe hatte es schließlich gesagt, Schwarze waren Schwarze, ob sie nun zufällig hellgelb, braun oder schwarz waren, und diejenigen mit dunklerer Haut auszugrenzen, bewies oder verbesserte gar nichts.“ Doch auch an der Uni stößt sie wieder auf ähnliche Vorurteilsmuster. Sie flüchtet weiter nach New York und hofft, im pulsierenden Harlem endlich ihr Glück zu finden.

Verve der Jazzclubs und Tanzlokale

Der Schriftsteller Wallace Thurman, ebenfalls Person of Color und von dunklerer Hautfarbe, war selbst 1925 von der University of Southern California nach Harlem gezogen. Das Viertel in Manhattan war das Mekka der Schwarzen Kultur und berühmt für seine Jazzclubs, die afroamerikanische Kunst und Kultur. Die Harlem-Renaissance galt als einflussreichste Bewegung in afroamerikanischen literarischen Werken und kreativer Kultur, und Thurman schrieb eines ihrer bedeutendsten Bücher. Er zeigt in seinem exzellent geschriebenen Buch nicht nur detailreich den Verve der Jazzclubs und Tanzlokale in diesem legendären Viertel. Thurman beschreibt genauso intensiv den grassierenden Rassismus und welch zerstörerisches Maß diese Voreingenommenheit entwickeln kann. Seine Protagonisten sind bis in die Nebenfiguren faszinierend eindringlich porträtiert.

Die stets glaubwürdig gezeichnete Emma Lou, die den Snobismus ihrer Familie angenommen hat, wird in Harlem desillusioniert, erlebt furchtbare Liebesbeziehungen, kommt in die Mühlen der Arbeitsvermittlung, muss Frauenverachtung ertragen, wird aber von Tag zu Tag selbstbewusster und stärker und entwickelt Rückgrat. Vor allem von ihrem unsäglichen Lover, einem Schlawiner vor dem Herrn, sagt sie sich endlich los. „Das erste Mal in ihrem Leben war ihr ganz klar, dass sie es selbst war, die entscheiden musste, was sie aus ihrem Leben machen wollte, und sich dann entsprechend verhalten musste. (…) Was jetzt anstand, war, dass sie ihre schwarze Hautfarbe endlich als reale, unabänderliche Gegebenheit akzeptierte, so wie manches, das in der Vergangenheit geschehen war und in Zukunft wieder geschehen würde.“ Emma Lou war so lange bestrebt, endlich als Mensch akzeptiert zu werden, dass sie dabei völlig vergessen hatte, sich selbst zu akzeptieren. Die Erkenntnis kommt spät, aber nicht zu spät.

Thurman hat mit „The Blacker the Berry“ auch moderne Künstler wie Kendrick Lamar und Tupac Shakur beeinflusst. Es ist gut, dass dieser verlorene Klassiker der schwarzen amerikanischen Literatur, der damals so mutig und ehrlich und so bahnbrechend den Colourism thematisierte und bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat, jetzt endlich auch auf Deutsch erschienen ist. Die Präferenz weißer Haut und das Gefühl, deshalb als Schwarze diskriminiert, beleidigt und als Außenseiter an den Rand gedrängt zu werden, sind nicht nur in Amerika zeitlose Themen. People of Color sind damit weltweit leider noch immer konfrontiert.

Wallace Thurman: The Blacker the Berry, ebersbach & simon, Berlin, 2021, 224 Seiten, mit einem Nachwort von Karl Bruckmaier, gebunden, Halbleinen. mit Lesebändchen, 22 Euro, ISBN 978-3869152462

Seitengang dankt dem Verlag ebersbach & simon für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Buch Wien: New York, New York

Die "Buch Wien" 2016 von oben. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Die „Buch Wien“ 2016 von oben. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Auch der zweite Messetag der „Buch Wien“ 2016 stand für mich erneut unter dem Eindruck von zwei herausragenden Lesungen. Zunächst stellte am Nachmittag der Schweizer Schriftsteller und Psychologe Catalin Dorian Florescu seinen bereits im Februar veröffentlichten Auswanderer-Roman „Der Mann, der das Glück bringt“ vor. Der C. H. Beck-Verlag bewirbt ihn als „Roman voller Komik und Tragik, der gleichzeitig eine literarische Reverenz an die Kraft des Menschen ist, sein Glück zu suchen und zu überleben“. Der Autor mit den rumänischen Wurzeln, 1967 wird er im westlichen Rumänien geboren, erzählt von Ray und Elena, deren Wege sich in einer dramatischen Nacht treffen. Den Leser führt der Roman sowohl ins New York des Fin-de-Siècle als auch ins magische Donaudelta.

Von dort nämlich stammt die Fischerstochter Elena. Sie ist nach New York gekommen, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Ray dagegen ist ein erfolgloser Künstler, der noch immer auf den Durchbruch hofft. Insgeheim versucht er den Lebensweg zu nehmen, den sein Großvater für sich selbst erhoffte, als der 1899 nach Amerika auswanderte. Ausgerechnet am 11. September 2001 treffen Elena und Ray zufällig in einem Kellertheater aufeinander. „Sie nutzen die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich ihre Familiengeschichten zu erzählen und Nähe zu finden“, erklärte Florescu. Ob die Nacht damit zur Stifterin einer Beziehung werde, lasse er offen, aber sie müssten zunächst zu erzählen beginnen. Im Roman wechseln sich beide Figuren kapitelweise ab, jede Figur spricht für sich, für ihre Geschichte, aber auch für die ihrer Eltern und Großeltern.

Die Auswanderung und die Reise nach New York – immer wieder ist der Mensch in Florescus Büchern auf der Suche nach einem Platz, wo er ohne Angst und mit Würde leben kann. Sein sechster Roman scheint deshalb zur rechten Zeit zu erscheinen, denn auch jetzt sind wieder Hunderttausende auf der Flucht, um in Europa Schutz zu suchen. Damals dagegen, und das spielt in Rays Geschichte eine wesentliche Rolle, waren es Millionen aus Europa, die nach Amerika flüchteten. Hinter den Themen Flucht und Migration steht aber auch die persönliche Erfahrung des Autors, als der damals 15-Jährige im Jahr 1982 mit seiner Familie aus dem kommunistischen Rumänien floh.

Inbrünstig und mit Herzensliebe

Florescu war es deutlich anzusehen, wie sehr er seine Figuren und deren Geschichten liebt. Während er das zweite Kapitel des Buches las, in dem Elena zum ersten Mal zu Worte kommt, saß er recht weit vorne auf der Stuhlkante, dem Publikum nah, der Rücken gerade, als hebe er zum Rezitieren, nicht nur zum Vorlesen an. Wohl selten hat man einen Autor derart inbrünstig und mit Herzensliebe seinen Text vortragen sehen und hören. Vier Jahre hat er für seinen Roman recherchiert. Alles auf Englisch, sagte er und lachte, als er ein deutsches Wort versehentlich mit englischem Akzent aussprach.

Florescu sprudelt, er ist ein wahrer Erzähler, nicht nur in seinen Büchern. Die Lesung hatte noch nicht begonnen, da sprach er schon vorbeihastende Messebesucher an, sie mögen doch Platz nehmen, hier reise man nach New York. Die vorderen Plätze seien die erste Klasse, die hinteren die zweite und dritte Klasse. Er sprach davon, dass er zwar in Zürich lebt, aber in einem Multi-Kulti-Eck von Rumänien aufgewachsen sei, und dieses „Durcheinander der Kulturen“ habe auch seine Art zu schreiben beeinflusst. Florescu sieht den Künstler, den Schriftsteller als „guten Zeugen seiner Zeit“, der literarisch Zeugnis ablege, mit Gefühlen und großem Herzen. Das war ihm deutlichst anzumerken, denn dieser Autor trägt sein Herz auf der Zunge.

Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt, C. H. Beck, München, 2016, 327 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3406691126, Leseprobe

Am Abend las nicht nur die US-amerikanische Autorin Cynthia D’Aprix Sweeney (Loriot hätte an diesem Namen seine Freude gehabt!) aus ihrem zum Bestseller gewordenen Debütroman „Das Nest“, sondern sie hatte auch noch den deutschen Schauspieler Johann von Bülow („Nach fünf im Urwald“, „Tatort“, „Mord mit Aussicht“) im Schlepptau. Der las die deutsche Übersetzung in einer Vortrefflichkeit, dass es eine Wonne war, ihm zu lauschen. Nicht umsonst hat von Bülow (der übrigens ein entfernter Verwandter von Loriot ist) die Hörbuchfassung des Romans eingelesen.

Das Buch handelt von den vier Geschwistern Melody, Jack, Bea und Leo. Sie alle sind in den Vierzigern, stehen mitten im Leben und haben immer gewusst, dass sie eines Tages erben würden. Also, sagen wir es so: sie haben damit gerechnet. Was aber, wenn die Erbschaft ausbleibt? Was geschieht mit den Träumen, die sie hatten? Was ist mit dem Geld, das sie bereits ausgegeben haben, weil sie sich zu sicher waren? Denn ihre Mutter hat das Geld kurzerhand gebraucht, um dem Playboy Leo aus einer Notlage zu helfen. Die Geschwister sind außer Rand und Band und lassen erzürnt den alten Groll untereinander wieder aufleben. Agatha Christie hätte daraus vermutlich einen Fall für Miss Marple oder Hercule Poirot gemacht. D’Aprix Sweeney aber schreibt damit den Roman einer dysfunktionalen Familie, legt genüsslich den Finger in so manche Wunde, ein bisschen böse, aber vor allem scharfsinnig und sehr humorvoll.

„Das Nest“ ist D’Aprix Sweeneys erster Roman. Im Literaturhaus Wien erzählte sie, wie sie in den späten 20er Jahren ihres Lebens eine vage Idee vom Romaneschreiben hatte. Sie sei immer eine große Leserin gewesen, habe auch Autoren und Journalisten gekannt, aber was sie selbst damals zu Papier gebracht habe, seien allenfalls halbherzige Versuche gewesen. „Ich dachte, es sei eher meine Rolle, andere Autoren zu unterstützen und zu ihren Lesungen zu gehen und ihre Bücher zu kaufen, nicht aber, selbst zu schreiben.“

Studium im kreativen Schreiben

Erst als die Kinder im College-Alter waren und die Familie nach Los Angeles zog, wollte sie eine andere Arbeit haben (zuvor hat sie 27 Jahre als PR-Beraterin in New York City gearbeitet) und versuchte es dann mit dem Schreiben. Sie nahm ein Studium im kreativen Schreiben am Bennington College auf, das sie mit dem Master of Fine Arts (MFA) abschloss. Während des Studiums begann sie bereits mit dem „Nest“. Das Wichtigste, was sie am College gelernt habe, seien das Einhalten von Abgabeterminen und Struktur gewesen. „Und eine gewisse Priorisierung im Leben, denn wenn man auch noch familiäre Verpflichtungen hat, kann das Schreiben auf der To-do-Liste ganz schnell auf dem letzten Platz landen – ich aber habe gelernt, es ganz nach oben zu setzen.“

Der Erfolg gibt ihr Recht. „Das Nest“ (der Originaltitel heißt unglaublicherweise „The Nest“ – ein Glücksgriff in der Titelübersetzung!) ist ein wahrer Verkaufshit. Seit es im Frühjahr in Amerika und nun auch auf Deutsch erschienen ist, erklimmt es die Bestsellerlisten, auch die der New York Times (Platz 3). Auch in Deutschland wird es bejubelt: „Die Amerikanerin Cynthia D’Aprix Sweeney hat einen hinreißenden und klugen Familienroman geschrieben … glänzende Unterhaltung und ein literarischer Wurf“, urteilt etwa Denis Scheck in der ARD-Sendung Druckfrisch.

D’Aprix Sweeney reagiert bescheiden, wenn sie gefragt wird, warum sie glaube, dass das Buch so einschlage. In Wien sagte sie, es sei ein Glücksfall gewesen und es treffe offenbar einen Nerv: „Dieses Buch gibt den Menschen die Möglichkeit, mit den Menschen, die sie mögen, über Geld zu reden.“ An der Schnittstelle zwischen Familien und Geld komme es unweigerlich zu Streitigkeiten, wenn die Geschwister sich nicht leiden können. „Und man muss seine Familie nicht lieben, nur weil sie Familie ist. Natürlich haben wir eine Verantwortung als Menschen, uns zu kümmern und freundlich zueinander zu sein, aber nicht nur deshalb, weil man sich die DNA teilt.“

„Tradition des zivilen Ungehorsams“

Zum Ende der Lesung sprach Moderator Klaus Nüchtern D’Aprix Sweeney auf die US-Wahl an. Für sie sei es seltsam gewesen, erklärte sie, weil sie zu der Zeit in Deutschland auf Lesereise gewesen sei. „Ich finde, etwas Schlimmes passiert in der Welt. Die Wahl von Donald Trump ist für mich sehr erschütternd, und das Ereignis hängt zusammen mit der Brexit-Entscheidung und den Hassäußerungen in Deutschland, Österreich und Frankreich. Es macht mir Angst.“ Aber: „Meine Hoffnung als US-Bürgerin und als Weltbürgerin ist, dass die Leute Angst genug bekommen, um dagegen zu protestieren und sich dem zu widersetzen. Wir haben in den USA eine Tradition des zivilen Ungehorsams, und ich hoffe, wir stehen jetzt wieder an der Schwelle dazu.“

Cynthia D’Aprix Sweeney: Das Nest, Klett-Cotta, Stuttgart, 2016, 410 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3608980004, Leseprobe

Mit Capote um die Welt

Truman Capote, Auf ReisenAuf Haiti tönen die Trommeln tumm-ti-tumm-ti, in New York begegnet man der Garbo und auf Ischia wartet das Zimmermädchen Gioconda auf einen Brief aus Argentinien. Mit Truman Capotes Reisereportagen ist man in 172 Seiten um die Welt. Der Verlag Kein & Aber hat sie zu einem feinen Bändchen zusammengeschnürt, das in jede Westentasche passt. Der perfekte Begleiter für Kurzurlaube und Fernreisen!

Der vor allem durch seinen Tatsachenroman „Kaltblütig“ und die Erzählung „Frühstück bei Tiffany“ bekannt gewordene Schriftsteller macht auch in seinen Reiseberichten deutlich, dass er eine feine Beobachtungsgabe für Menschen und Orte hat. In seiner Selbstdarstellung ist er schonungslos ehrlich, seine Essays und Reportagen sind reich an Ironie, Zärtlichkeit und der lustvollen Begeisterung am Erzählen. Fast alle Texte dieser kleinen Sammlung entstammen dem Buch „Local Color“, das Capote im Herbst 1950 veröffentlichte. Darin schrieb er über New Orleans, wo er aufwuchs, über New York, wohin er mit seiner Familie zog, oder über Europa, das er Ende der 40er Jahre zum ersten Mal bereiste.

Wie er Menschen porträtiert, ist einfach fabelhaft. Miss Y. etwa aus New Orleans, an der er nur wissenschaftliches Interesse hegt, wie er bekennt: „Ich bin also, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, nicht ganz der gute Hausfreund, den sie in mir vermutet, denn einer Miss Y. kann man nicht wirklich nahe sein. Sie ist viel zu sehr Märchengestalt, irreal, unwahrscheinlich. Sie ist wie das Piano in ihrem Wohnzimmer, elegant, aber etwas verstimmt.“ Oder die eingangs erwähnte Gioconda: „Ein schönes Mädchen, auch wenn ihre Schönheit stimmungsabhängig ist. Wenn sie schlechte Laune hat, was leider viel zu oft der Fall ist, sieht sie aus wie ein Napf kalter Haferschleim, und man vergisst ihr volles Haar und ihre freundlichen mediterranen Augen.“ Capote macht aber auch keinen Hehl daraus, dass es der stressige Job des Zimmermädchens sowie ein ausbleibender Brief aus Argentinien ist, der sie so schlechtgelaunt werden lässt.

Großartig und mit hervorragendem Witz gelingt Capote der Bericht über seine Fahrt im Orient-Express und die beiden Damen aus seinem Abteil, die in ihrem Vogelkäfig Heroin schmuggeln. „Ihr ganzes Gepäck bestand offenbar nur aus einem riesigen Vogelkäfig. Darin befand sich, teilweise verdeckt von einem Seidenschal, ein scharrender, grüner, leicht angeschimmelt aussehender Papagei, der ab und zu ein dementes Lachen von sich gab.“

Obwohl Capote ein Reisewütiger war, sind seine Berichte nie schulmeisterlich. Im Gegenteil: Sie erzeugen Reiselust, unbedingte Reiselust! Man glaubt, Truman Capote nähme den Leser an der Hand, um gemeinsam Städte und Länder zu bereisen. Diese Texte sind wahrhaftig gelebter Urlaubshedonismus! Und so ganz nebenbei auch das: Literatur.

Truman Capote: Auf Reisen, Kein & Aber Verlag, Zürich, 2010, 172 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 9,90 Euro, ISBN 978-3036955612

Die Nette und Dr. Biest

Washington SquareWas kann ein Vater seiner Tochter antun, wenn er nicht glauben möchte, dass sein Kind von einem Mann um seiner selbst willen geliebt wird, sondern beharrlich davon ausgeht, der Verlobte sei nur an der Mitgift interessiert! Henry James‘ zeitlos gebliebener Roman „Washington Square“ handelt mitunter von einer solchen Misere und ist im Manesse-Verlag in vortrefflicher Art neu erschienen.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert in New York ein Dr. Austin Sloper, der als Arzt einen hervorragenden Ruf genießt. Seine Patienten nennen ihn „brillant“, der allwissende Erzähler beschreibt ihn als „zutiefst ehrenhaften Mann“. Doch auch Arztfamilien sind nicht vor dem Schicksal gefeit, und so verstirbt zunächst der erstgeborene Sohn im frühen Kindesalter und wenig später nach der Geburt der Tochter auch die eigene so innig geliebte Ehefrau.

Die Tochter Catherine ist für den Vater früh eine Enttäuschung, sieht er in ihr doch nur einen schlechten Ersatz für den verlorenen Sohn, den er zu einem Prachtexemplar von Mann heranziehen wollte. Catherine aber, ach!, hat nichts von der Schönheit ihrer verstorbenen Mutter geerbt. Sie sähe „nett“ aus, sagen die Leute, wenn sie Catherines Äußeres loben wollen, und auch im 19. Jahrhundert schon war nett nix für’s Bett, geschweige denn für eine Hochzeit.

Rechthaberisch bis ins letzte Detail

Catherine ist schlicht, wo andere klug sind, sie hat weder eine schnelle Auffassungsgabe noch war sie in ihrer Jugend ein Ausbund an Wildheit. Was sie jedoch von frühester Kindheit auszeichnet, ist ihre schier unerschütterliche Liebe für ihren Vater, gleichzeitig aber fürchtet sie ihn sehr. Das macht sie unterwürfig. Ihrem Vater zu gefallen, ist ihr seligster Wunsch. Der wiederum kennt keine väterliche Liebe. Kalt ist er, berechnend, ein Analytiker. Und vor allem rechthaberisch bis ins letzte Detail.

In diese schwierige Vater-Tochter-Konstellation tritt nun ein junger, gutaussehender Mann namens Morris Townsend, der Catherine den Hof macht, aber sein eigenes Vermögen durchgebracht hat. Dr. Sloper hält nichts von dem möglichen Schwiegersohn in spe, er sieht in ihm nur einen Taugenichts, der hinter dem Geld seiner Tochter her ist.

Catherine jedoch ist bereits in schüchterner Liebe entbrannt. Unglückselige Unterstützung findet sie in ihrer nicht besonders intelligenten Tante Mrs. Penniman, die hoffnungslos romantisch und sentimental ist und am liebsten selbst einen Liebhaber hätte, mit dem sie unter falschem Namen geheimnisvolle Briefe austauschen kann. Dr. Sloper erkennt bald den Ernst der Lage und verkündet, er werde seine Tochter enterben, wenn diese den Heiratsschwindler eheliche. Es beginnt ein Ziehen und Zerren zwischen zwei Männern, die nur aus blindem Egoismus handeln, nicht aus Edelmut oder zum Schutze von Catherine. Man möchte meinen, Catherine wäre dem Untergang geweiht, ein Spielball der eigensinnigen Intentionen zweier Männer. Doch Henry James entwirft mit ihr langsam die Geschichte einer stillen Heldin, die wahrhaftig liebt.

Feine Ironie und geistreiche Erzählkunst

Die Neuübersetzung von Bettina Blumenberg, die auch ein lesenswertes Nachwort verfasst hat, ist über die Maßen gelungen. Henry James‘ feine Ironie und geistreiche Erzählkunst werden hier erstmalig offenbar. Die Antiquiertheit früherer Übersetzungen sucht man vergebens. Ohnehin ist „Washington Square“ kein antiquiertes Sujet, denn auch heute noch heiratet mancher aufgrund geldwerten Vermögens.

Das Buch erscheint mit einem wunderbar handkolorierten Buchschnitt und einem passenden Lesebändchen. Dem Manesse-Verlag ist es damit gelungen, einmal mehr ein besonderes Stück Literatur herauszugeben. Eine wahre Wiederentdeckung!

Henry James: Washington Sqaure, Manesse Verlag, Zürich, 2014, 275 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 24,95 Euro, ISBN 978-3717523109, Leseprobe

Das perfide Verbrechen

Gone GirlEs gibt Bücher, über die ein Leser zuvor nicht zu viel wissen sollte. So können sie ihn unvorbereitet und mit voller Wucht treffen. Der Roman „Gone Girl“ ist ein solches Buch. Wer es nicht gelesen hat, hat eines der aufregendsten Bücher des Jahres 2013 verpasst. Das perfekte Verbrechen ist überholt. Es lebe das perfide Verbrechen!

Ausgerechnet an ihrem fünften Hochzeitstag verschwindet Nicks Frau Amy. Die Haustür steht sperrangelweit offen, im Wohnzimmer liegt der Couchtisch in Scherben, Möbelstücke sind umgeworfen, alles sieht nach einem Kampf aus. Und Amy ist nicht da. Sie ist weg, verschwunden.

Die Polizei entdeckt in der Küche Reste von Blutspuren. Sie sind fortgewischt worden, nachdem dort jemand viel Blut verloren haben muss. Schnell konzentrieren sich die Ermittlungen auf Nick, der teilweise erschreckend dümmlich reagiert. Amys Eltern, die einst Millionen mit einer Kinderbuchserie über ihre Tochter verdient haben, fangen an, ihrem Schwiegersohn zu misstrauen. Und auch der Leser hat es schwer mit Nick.

Eine der Größen dieses Romans

Gerade das aber ist eine der Größen dieses Romans, der weniger Thriller oder Krimi, als vielmehr die erschreckende psychologische Studie einer Ehe ist. Die Autorin Gillian Flynn lässt Nick und Amy abwechselnd erzählen. Von Nick erfährt der Leser den aktuellen Fortgang der Geschichte, angefangen mit Amys Verschwinden.

Amy aber lässt den Leser ihre Tagebucheinträge vom Beginn ihrer Beziehung lesen. Anfangs sprüht aus ihren Zeilen die unbedingte Verliebtheit, die Schwärmerei, das Glück. Nick und Amy leben und arbeiten in New York und genießen den angenehmen Mittelklassen-„way of life“.

Doch dann geraten Leben und Liebe in Schieflage. Beide verlieren ihre Jobs als Journalisten, und Nicks Mutter liegt im Sterben. Der beschließt für Amy gleich mit, dass sie in seine Heimatstadt ziehen. Nach North Carthage, Missouri, in ein Haus direkt am Mississippi River.

Weder Glück noch Freunde

Dort findet Amy weder Glück noch Freunde. Das geht auch nicht spurlos an der Beziehung vorbei. Beide reiben sich aneinander und gegenseitig auf. Und plötzlich ist Amy weg. Nachbarn berichten der Polizei von lauten Streitereien. Der Verdacht fällt unweigerlich auf Nick.

Doch das Verschwinden Amys ist nicht das einzige Mysterium des Romans. Rätselhaft ist auch, wie sich ein auf den ersten Blick so perfektes Paar nach nur wenigen Jahren derart voneinander entfernen kann. Die Bezeichnung „Entfremdung“ wäre noch euphemistisch. Der Roman berührt damit auch die ureigenen Ängste, die jeder romantischen Beziehung zugrundeliegen, ohne dass man sie offen zu Tage treten lässt: Können wir das anfängliche Glück, die Liebe, das unbedingte Vertrauen über Jahre hinweg erhalten? Oder sind die Geheimnisse, die wir voreinander haben, wie ein schwarzes Loch, das uns unaufhaltsam ins Nichts zieht?

In den USA war Flynns Roman ein Bestseller. Die Rezensenten der großen Zeitungen überboten sich in ihren begeisterten Lobeshymnen. Regisseur David Fincher verfilmt das Buch derzeit mit Ben Affleck und Rosamunde Pike. Schon 2014 soll es in die Kinos kommen.

Auch in Deutschland wurde das Buch bereits sehr hofiert. Der Fischer Verlag begleitete das Erscheinen mit einer großen Werbekampagne. In den meisten Fällen mutet ein solcher Aufwand seltsam an. Der Verdacht liegt nahe, dass es dieses Buch ohne Werbung niemals in die Hände deutscher Leser schaffen würde. Doch in diesem Fall ist das Brimborium berechtigt. „Gone Girl“ ist eine Wucht.

Gillian Flynn: Gone Girl – Das perfekte Opfer, Fischer Scherz Verlag, Frankfurt, 2013, 576 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3502102229, Leseprobe

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