Die Außenseiterbande

„Zwiebel, leuchtende Phiole, Blütenblatt um Blütenblatt formte deine Schönheit sich“, heißt es am Anfang von Pablo Nerudas „Ode an die Zwiebel“. Und später: „Zwiebel, hell wie ein Planet und zu leuchten bestimmt.“ Kaśka Brylas zweiter Roman „Die Eistaucher“ ist wie eine solche Zwiebel, die strahlt und voller Schönheit ist. Und nicht umsonst beginnt diese Rezension mit etwas Poesie. Denn bei all dem Leid, von dem das Buch „Die Eistaucher“ auch erzählt, ist es die Macht der Poesie, die dort viel Gutes hervorbringt, wo die handelnden Personen glauben, im Schatten zu wandeln. Die Werke von Ingeborg Bachmann, Arthur Rimbaud und ganz besonders Guy de Maupassants Erzählung „Horla“ spielen wichtige Rollen.

„Die Eistaucher“ ist wie der Vorgänger ein Roman, der mit den Grenzen der Literatur spielt und sich nicht einordnen lässt. Ist er Coming-of-Age? Ist es queere Literatur? Ein Krimi? Ein Thriller? Ein Sittenbild gar? Es ist das alles und wird dem Buch doch nicht gerecht. Das war schon bei „Roter Affe“ so, Brylas fulminantem Debüt aus dem Jahr 2020.

„Die Eistaucher“, das ist eine Jugendclique, wie sie vermutlich Stephen King mit seinem unerschütterlichen Herz für Heranwachsende nicht besser hätte konzipieren können: Da ist zum einen die Longboard fahrende Iga, die zum dritten Mal die Schule wechseln und sich jetzt in einer neuen Umgebung einleben muss. Sie ist intelligent und schafft den Schulstoff spielend, ist aber ein Wildfang, der sich nichts sagen lässt, schon gar nicht von verknöcherten Lehrern. Doch über ihr hängt das Damoklesschwert, dass sie zu ihrem Vater nach Polen ziehen muss, sollte sie sich einen weiteren Schulverweis einhandeln.

Ein zärtlicher Verehrer von Poesie

Neu an der katholischen Privatschule ist auch der ebenfalls migrantische Rasputin, der sich lieber Ras nennt, und schnell von den Halbstarken der Schule zum Mobbingopfer auserkoren wird, weil er ein bisschen pummelig ist und ein zärtlicher Verehrer von Poesie. Zu Iga und Ras gesellt sich schließlich noch die hübsche und queere Halbwaise Jess, die zum Schulanfang mit den Gedanken noch in Südfrankreich und bei ihrer Sommerliebe Tifenn weilt. Die aber macht wenig später – immerhin romantisch mit einem Brief – wieder Schluss.

Dieser Brief ist die Geburtsstunde der „Eistaucher“. Denn während die drei zuvor nur in einfacher Koexistenz zueinander standen, verändert Tifenns Brief die Lage. Jess ist am Boden zerstört, sucht Trost bei Iga und hofft, dass die ihr die Rätsel des Geschriebenen entwirren kann. Tatsächlich aber ist es Ras, der jetzt mit seinem Wissen glänzen kann.

Und dann geht es erst richtig los, die Ereignisse überschlagen sich, Iga verliebt sich zum ersten Mal in eine Frau, und Ras, ja, Ras ist plötzlich Teil einer literarischen Avantgarde und beginnt, bestärkt durch die Freundschaft, selbst Gedichte zu verfassen. Es könnte so schön sein, wenn das Leben immerzu so wundervoll bliebe. Doch eines Nachts wird die Clique Zeuge einer Tat, die vertuscht werden sollte, und nimmt die Rache selbst in die Hand.

Einer für alle, alle für einen

Bryla beschreibt mit ihrer bemerkenswert sensiblen Erzählstimme, ihrer eigenen poetischen Sprache und anhaltender Spannung eine jugendliche Bande. Nicht im kriminellen, sondern im freundschaftlichen Sinn. So hätte man es früher genannt, und das Wort selbst drückt aus, was es ist: Einander zugewandt und miteinander verbunden zu sein, ein unsichtbares Band zu haben, das durch alle Hände führt. Einer für alle, alle für einen. Das Gefühl, einander vertrauen zu können. Aber auch: die Welt mit unerschütterlichen Idealismus zu sehen.

„Die Eistaucher“ beginnen mit Kapitel 9; und es ist gut, dass dem ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt ist, das die kunstvolle Verwebung der Kapitel unter- und gegeneinander verdeutlicht. Denn nach 9 kommt 1, dann 8 und 2. Was zunächst nach nicht gekonntem Zahlenraum bis 10 aussieht, ist einmal mehr die Art, wie Kaśka Bryla Literatur zu schreiben versteht: experimentell, abseits von gängigen Regeln, jedoch ohne sperrig zu sein, aber mit der Lust, es mal anders zu machen. Und so handeln zehn der 19 Kapitel von der Jetztzeit, und 9 Kapitel spielen als Coming-of-Age-Story in der Jugend der „Eistaucher“, kurz vor der Jahrtausendwende. Während im einen Teil die Geschichte fast kontinuierlich voranschreitet, erfahren wir im zweiten Teil nur häppchenweise, was am Fixpunkt der beiden Erzählstränge in der Vergangenheit passiert sein könnte. Raffiniert!

Die Jetztzeit erleben wir durch die Augen und die teilweise sehr unangenehme strunzmännliche Innensicht von Saša, der einst Igas bester Freund war. Er hat einen Campingplatz in einem Naturschutzgebiet, von Wäldern und kleinen Bergen umgeben, manch einer würde sagen: in der Einöde. Iga und Jess wohnen in einem Dorf in der Nähe, und einmal im Jahr kommt Ras zu Besuch. Die Poesie von damals aber ist gewichen.

„Immer ist da jemand, dem Unrecht angetan wird, und immer ist da jemand, der zusieht, ohne einzuschreiten. Als Kind stellt man sich die Frage, wer man lieber wäre. Das Opfer oder der Feigling. Als Kind habe ich mich nie gefragt, wie es wäre, der Täter zu sein.“ Als Saša und die Eistaucher zu Tätern werden, ist ihre Kindheit schlagartig vorbei. Wie steht es um ihre Schuld? Was heißt es, die individuelle Verantwortung zu tragen? Was ist Gerechtigkeit, Strafe, Sühne? Auch Brylas zweiter Roman beschäftigt sich mit den großen, schweren Themen. Und wieder gelingt es ihr, sie fast leichtfüßig in das Sujet einzubetten.

Die Verbindungen, für die wir uns entscheiden

Was die Eistaucher ausmacht, damals und heute, das finden wir in Kapitel 7. Fast beiläufig steht da dieser Absatz: „Die Verbindungen, für die wir uns entscheiden, und die Risiken, die wir für sie einzugehen bereit sind. Das oder etwas Ähnliches hatte Iga einmal gesagt, und Jess hatte es damals lächerlich gefunden, aber jetzt begriff sie, dass sie recht hatte, dass eben nur das wirklich zählte.“

Und dass alles glückt, dass alles Bestand hat und nicht etwa den Bach runter geht, sich nichts vermeintlich Gutes in etwas Schlechtes verkehrt, das ist so zufällig, wie es gelingt, beim Würfeln eine Sechs zu würfeln: „‚Hast du gewusst‘, sagte Iga ruhig, „dass die Wahrscheinlichkeit, eine Sechs zu würfeln, immer ein Sechstel ist? (…) Jedes Mal, wenn du mit dem Würfel zum Wurf ansetzt, ist die Wahrscheinlichkeit wieder ein Sechstel. (…) Aber trotzdem‘, fuhr Iga fort, ‚musst du würfeln. Wenn du nicht würfelst, kannst du auch keine Sechs würfeln.'“ Die Eistaucher haben ohne Furcht versucht, eine Sechs zu würfeln, aber die Wahrscheinlichkeit spielte gegen sie.

Kaśka Bryla: Die Eistaucher, Residenz-Verlag, Salzburg/Wien, 2022, 320 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3701717514, Leseprobe

Seitengang dankt dem Residenz-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Von den flatterigen Launen der Liebe im alten Frankreich

Sie war mit Antoine de Saint-Exupéry verlobt, in zweiter Ehe ein paar Monate mit dem österreichisch-ungarischen Playboy Pál Graf Pálffy de Erdöd verheiratet und genoss Liebesaffären mit Jean Cocteau, Thomas Maria Graf Paul Esterházy de Galántha und mit dem britischen Botschafter Alfred Duff Cooper. Die Rede ist von Louise de Vilmorin, der heute leider ein wenig in Vergessenheit geratenen französischen Autorin.

Am 4. April wäre sie 120 Jahre alt geworden – Anlass genug, um ihre Romane endlich neu zu entdecken. Seit einigen Jahren bringt der Dörlemann-Verlag in Zürich ihre Bücher in wunderbaren Neuübersetzungen heraus. Zuletzt ist in diesem Jahr „Belles Amours“ (im französischen Original: „Les Belles Amours“, 1954) erschienen, ein überwältigender, tragikomischer Roman über Liebe, Versuchung, Freundschaft, Untreue und Rache in einer verzwickten Dreiecksbeziehung. Für Sammler*innen von Aphorismen und Bonmots ist das Buch zugleich eine wahre Fundgrube.

Angelt sich der Sohn die falsche Frau?

Der 30-jährige Samenhändler Louis Duville führt mit seinem Vater ein alteingesessenes Geschäft in der französischen Provinz. Zum Leidwesen seiner Eltern gibt der Filius das sauer verdiente Geld mit vollen Händen in Paris wieder aus, mit Frauen und Freunden, für schnelle Autos, Pferderennen und amouröse Abenteuer, aber ohne dass sich eine der vielen Damen an seiner Seite dauerhaft verfestigen würde. Die elterliche Sorge ist deshalb groß, dass sich der Luftikus die falsche Frau angelt, noch dazu möglicherweise von anrüchiger Herkunft.

Madame Duville wird deshalb selbst aktiv, mustert auf Hochzeiten die Brautjungfern und lädt passende Frauen in das familiäre Landhaus nach Valronce ein. Doch alle verlassen das Anwesen wieder, ohne eine Liebe zu entfachen. Da will es das Schicksal eines Tages wohl gut meinen mit der verzweifelten Madame Duville, denn ein Cousin schaut mit seiner Nichte in Valronce vorbei.

„Er küsste sie, sie blickten sich an, und es war alles gesagt“

Die 25-Jährige ist schon Witwe, ihr Mann 1918 im Krieg gefallen. Durch einen kleinen Zufall, eine zeitliche Koexistenz an einem Ort, begegnet Louis Duville der jungen Witwe und schlägt lang hin. Es braucht nur einen kurzen Spaziergang, wenige Liebesschwüre, einen Kuss und den gemeinsamen Traum vom Leben zu zweit, dann ist alles besiegelt: „Er küsste sie, sie blickten sich an, und es war alles gesagt.“ Sie sind verliebt, verlobt, und verheiratet sollen sie auch bald sein. Doch damit fängt der Trubel erst richtig an.

Denn zur Hochzeit im Herbst 1925 kommt auch ein guter Freund der Familie, der 54-jährige weltmännische Monsieur Zaraguirre aus Südamerika, ein Prachtkerl, der mit seiner Ausstrahlung und im lockeren Plauderton Frauen für sich begeistert, ein Frauenheld, wie Louis Duville selbst einer war, bis er seine Braut traf. Doch Duvilles Glück währt nicht lang, denn auch Monsieur Zaraguirre verliebt sich in die Braut und macht als Mann von Welt kurzen Prozess: Noch am Abend vor der Hochzeit flieht er mit der Braut – und heiratet sie selbst.

Könnte jetzt zu Ende sein, der Roman? Nix da – der wird jetzt noch besser und dreht die nächsten Twists! Denn der düpierte Louis Duville sinnt auf Rache.

Herrlich beißender Sarkasmus

Die beiden Frauenhelden kommen in „Belles Amours“ nicht gut weg, aber auch den Frauenfiguren widmet sich Vilmorin mit herrlich beißendem Sarkasmus, vor allem der naiven Braut, aber auch der ebenso schlichten, aber immerhin herzensguten Madame Duville. Die Mutter des Bräutigams lässt sich etwa zu sinnstiftenden Sätzen hinreißen wie: „Will man Ordnung schaffen, muss man zunächst Chaos stiften.“ Zur Hochzeit ihres Sohnes wünscht sie sich Vollmond, denn „das macht immer besonders viel her“. Und als ihr Mann ihr wenig Hoffnung macht, dass ihr Wunsch zu erfüllen sei, gibt sie munter zurück: „Manche wissen sich immer zu helfen. Man braucht einfach nur zu beten. Du vergisst, dass es Wunder gibt.“

Hinreißend beschrieben ist auch Madame Dajeu, eine entzückend direkte und fortschrittliche Pariserin, die sich mit Madame Zaraguirre anfreundet und ihr das flirrende Paris zeigt. Madame Dajeu ist eine Bereicherung, auch für den Roman. Über die Ehe sagt sie: „Die Ehe hat zwar viele Nachteile, aber sie liefert uns Frauen wenigstens ehrenwerte Vorwände. So kann eine Frau ihren Mann betrügen, weil sie ihn liebt, und wenn sie ihr Ziel erreicht hat, wird sie, gerade weil sie ihn liebt, jede etwaig eigennützige Verbindung kappen, durch die sie sich schuldig machen würde.“

Louise de Vilmorin weiß, wovon sie schreibt, sie war selbst zweimal verheiratet und bei amourösen Abenteuern auch kein Kind von Traurigkeit. Sie lässt Madame Dajeu sagen: „Ein vernünftiger Mann gibt sich mit den Lügen seiner Frau zufrieden.“ Und weiter: „Eine Frau sollte vor allem das Gewissen und das Mitgefühl eines Mannes erobern. Das wird ihn nicht unbedingt davon abhalten, sie zu betrügen, aber so muss er sein Tun wenigstens hinterfragen und wird meistens Skrupel haben, die Betrogene zu verlassen. Damit ist ihre Ehre gerettet, und das ist das Wichtigste.“ Und über Männer sagt sie: „Männer haben es besser. Selbst wenn sie halbtot sind, merkt man ihnen nichts an. Sie sehen immer gleich aus.“

Mit viel Witz und Herzenswärme geschrieben

Vilmorin hat diesen teuflischen Roman über die flatterigen Launen der Liebe mit viel Witz und Herzenswärme geschrieben, und Patricia Klobusiczky hat ihn gekonnt in ein vorzügliches Deutsch übersetzt. „Belles Amours“ ist leichte, nicht aber seichte Lektüre. Der Roman zeigt uns vortrefflich, wie schwierig zu finden ist, wovon schon der französische Schriftsteller Honoré de Balzac 1839 in der Erzählung „Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan“ („Les secrets de la princesse de Cadignan“) schrieb: „Wir können lieben, ohne glücklich zu sein; wir können glücklich sein, ohne zu lieben, aber lieben und glücklich sein – diese beiden, so großen menschlichen Genüsse zu verbinden, dazu bedarf es eines Wunders.“ Vielleicht aber hat Madame Duville recht: Man vergisst, dass es Wunder gibt.

Ein solches wäre auch Louise de Vilmorin zu wünschen, auf dass ihre Bücher wieder einem breiteren Publikum bekannt werden. Ihre Werke wurden erstmalig 1953 bis 1962 ins Deutsche übertragen und zuletzt seit 2009 im Dörlemann-Verlag veröffentlicht, jeweils in Neuübersetzungen von Patricia Klobusiczky. Vom Verlag heißt es, es sei nicht ausgeschlossen, dass die Reihe fortgeführt wird, konkrete Planungen gibt es jedoch noch nicht. Dabei hat Vilmorin nicht nur die bereits veröffentlichten Romane geschrieben, sondern auch noch einige Gedichtbände. Im französischen Verlag Gallimard sind außerdem Briefwechsel von Louise de Vilmorin erschienen, darunter auch die Korrespondenz, die Louise de Vilmorin mit Jean Cocteau ausgetauscht hat und ein neues Licht auf die Beziehung wirft, die sie seit 1934 pflegten.1)

Doch noch einmal zurück zu „Belles Amours“: Ein Nachbar der Duvilles sagt am Schluss: „Was für eine Geschichte, mein Lieber, was für ein Roman!“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Parbleu!

Louise de Vilmorin: Belles Amours, Dörlemann-Verlag, Zürich, 2022, 254 Seiten, gebunden, Leinen, mit Lesebändchen, 22 Euro, ISBN 978-3038201021, Leseprobe

Seitengang dankt dem Dörlemann-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

1) Wer sich näher mit Louise de Vilmorin beschäftigen möchte, findet von Elodie Nel weitere Informationen zur Biografie in MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003 ff. Stand vom 12. November 2015, zuletzt abgerufen am 4. April 2022. Wer des Französischen mächtig ist, sollte sich auch die beiden Video-Interviews von 1955 und 1964 ansehen.

Buch Wien: Lebenslange Lügen und ein blutiger, blutiger Samstag

Philipp Blom stellt seinen neuen Roman vor. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Philipp Blom stellt seinen neuen Roman vor. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Am dritten Messetag der „Buch Wien“ 2016 habe ich erneut nur zwei Veranstaltungen besucht. Zunächst war der deutsche Autor, Historiker und Journalist Philipp Blom gekommen, um seinen neuen Roman „Bei Sturm am Meer“ vorzustellen. Blom ist mit Bestsellern über die europäische Kulturgeschichte bekannt geworden, viele verbinden mit seinem Namen Sachbücher über die Schlüsselmomente des 20. Jahrhunderts (so etwa „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914“). Er hat allerdings auch schon ein Sachbuch über österreichische Weine geschrieben.

„Bei Sturm am Meer“ ist sein dritter Roman. Darin schickt er einen melancholischen Mittvierziger namens Benedikt auf eine überraschungsreiche Reise zu sich selbst. Nach dem Tod seiner Mutter muss der Marketingfachmann feststellen, dass seine Familiengeschichte eine andere war, als er sein Leben lang gedacht hat. Der Roman über zerplatzte Träume und lebenslange Lügen beginnt mit einem Brief, den Benedikt an seinen vierjährigen Sohn schreibt, während er in Amsterdam auf die Urne seiner Mutter Marlene wartet, deren Lieferung sich verzögert.

Benedikt erfährt im Laufe des Buches, dass viele der Lebensgeschichten, die er zu kennen glaubt, nicht stimmen, zum Beispiel dass sein Vater, ein Journalist, im Kampf gestorben sei. Selbstverständlich verbindet Blom die Geschichten von Benedikts Mutter und Großmutter mit den historischen Ereignissen – hier kann der Historiker Realität und Fiktion vermischen. Das sei auch einer der Vorteile beim Romaneschreiben, erklärt er: „In einem Sachbuch muss immer alles so gewesen sein, in einem Roman kann es so gewesen sein.“

„Das wird dann einfach nicht gut“

Aber es gibt auch Nachteile: „Das Romaneschreiben ist nicht lukrativ.“ Außerdem rate er Menschen, die glauben, sie trügen einen Roman in sich, den sie unbedingt aufschreiben müssten, dies nicht am Abend um 23 Uhr zu tun, wenn sie erschöpft von der Arbeit und den familiären Verpflichtungen sind. „Das wird dann einfach nicht gut – man muss sich dafür Zeit nehmen.“ Das erinnert an die Lesung von Cynthia D’Aprix Sweeney („Das Nest“, Klett-Cotta) im Literaturhaus Wien. Dort erklärte sie, sie habe erst am College „eine gewisse Priorisierung im Leben“ gelernt: „Denn wenn man auch noch familiäre Verpflichtungen hat, kann das Schreiben auf der To-do-Liste ganz schnell auf dem letzten Platz landen – ich aber habe gelernt, es ganz nach oben zu setzen.“

Weil das Buch auch viel im Hamburg der 1970er Jahren spielt und Blom dort geboren und aufgewachsen ist, wurde er gefragt, ob „Bei Sturm am Meer“ auch ein wenig die Geschichte seiner Familie erzähle. „Nun“, antwortete Blom, „Menschen, die mich ein bisschen kennen, werden vielleicht sagen: Aha!“ Aber seine Familie sei nicht die im Roman dargestellte Familie, er selbst habe auch andere Themen als der Protagonist seines Romans. „Aber die Geschichte baut vielleicht auf Themen auf, die in unserer Familie spielen.“

Gelesen hat Blom aus seinem aktuellen Buch nicht. Dafür blieb keine Zeit mehr, denn Moderatorin Alexandra Föderl-Schmid (Chefredakteurin des Standard) fragte den Schriftsteller aus aktuellem Anlass nach seiner Meinung zum Brexit und zur US-Wahl. Dafür war Blom nicht nur als Historiker und Journalist ein versierter Gesprächspartner, sondern auch deshalb, weil er ein Jahr in den USA und neun Jahre in England gelebt hat. Teilweise schreibt er seine Bücher auch zunächst auf Englisch und übersetzt sie dann selbst ins Deutsche. „Der Brexit hat mich wirklich überrascht“, sagte er. „Und bei der Wahl von Trump habe ich mich gefühlt, als hätte man mich mit einem Baseballschläger traktiert.“ Er habe gedacht, er schlafe einfach noch und wache irgendwann auf. „Aber das war so nicht.“

Gefährlich bei Wahlen

Manche vergleichen inzwischen die heutige Zeit mit der Weimarer Republik. Das sieht Blom aber nicht so: „Nein, wir leben nicht in der zweiten Weimarer Republik, aber noch eine Wirtschaftskrise wie 2008, dann leben wir in einer Weimarer Republik.“ Gefährlich bei Wahlen und damit auch bei der US-Wahl sei dieses „Irgendetwas muss sich doch ändern“-Gefühl der Wähler. „Auch hier in Europa verlieren die Menschen zunehmend die Hoffnung in die Gesellschaft und die Demokratie“, erklärte Blom weiter.

Von Föderl-Schmid darum gebeten, als Historiker in die Zukunft zu schauen und zu sagen, wie Europa im Jahr 2030 aussähe, antwortete Blom, das gerate wohl eher wie eine Wettervorhersage, denn kleine Faktoren könnten doch alles in eine andere Richtung bringen. „Im Moment sind Kräfte am Werk, die am Zerfall Europas arbeiten. Aber eigentlich hängt alles davon ab, wann das nächste 2008 kommt.“

Philipp Blom: Bei Sturm am Meer, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2016, 224 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3552058101, Leseprobe

Thomas Raab, Bernhard Aichner, Edith Kneifl, Heinz Sichrovsky, Amelie Fried und Veit Heinichen bei der Krimi-Runde. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Thomas Raab, Bernhard Aichner, Edith Kneifl, Heinz Sichrovsky, Amelie Fried und Veit Heinichen bei der Krimi-Runde. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Am späten Nachmittag schließlich traf sich ein Teil der aktuellen Crème de la Crème der deutschsprachigen Bestseller-Krimi-Literatur zu einer kleinen, vergnüglichen Gesprächsrunde unter dem Thema „Morden wie gedruckt“. Ursprünglich waren nur Thomas Raab, Bernhard Aichner, Edith Kneifl und Veit Heinichen eingeladen. Moderator Heinz Sichrovsky (Kulturchef des österreichischen Wochenmagazins News) hatte jedoch zuvor seine Sendung „erLesen“ für den ORF aufgezeichnet und dort die Schriftstellerin und Moderatorin Amelie Fried zu Gast, die er dann kurzerhand mit in die Runde brachte. Ein Glücksgriff, wie sich später herausstellen sollte.

Was macht einen guten Krimi aus und wie schreibt man ihn? Veit Heinichen hat dafür kein Patentrezept, wohl aber durch jahrelange Recherche ein riesiges Archiv angehäuft. „Irgendwann kommt dann der Gedanke, dass ich mich mit meinen Figuren beschäftige, und dann lasse ich sie aufeinander los – richtige Arbeit ist das nicht, ich folge ja nur meinen Figuren.“

Amelie Fried, die mit ihrem Mann Peter Probst eine Reihe von Kinderkrimis („Taco und Kaninchen“) geschrieben hat, hat nur einen einzigen Krimi für Erwachsene verfasst: „Der Mann von nebenan“ (1999). Kurz zusammengefasst erledigen drei Frauen zusammen einen Nachbarn. Erst versuchen sie es in der Badewanne, doch als sie seine Leiche im Wald beseitigen wollen, ist der Mann gar nicht tot. Ein Schlag mit einem Schraubenschlüssel beendet sein Leben dann doch noch, und die drei Frauen versenken die Leiche im See. Vorlage für den Nachbarn? Frieds tatsächlicher Nachbar, der die Familie so sehr genervt hat, dass sie schon an Umzug dachten. „Dann habe ich dieses Buch geschrieben, und es war die beste Rache meines Lebens.“ Das Buch wurde mit Axel Milberg als böser Nachbar verfilmt, „und ich wohnte in diesem bayerischen Dorf, und jeder wusste, wer gemeint ist“, erzählte Fried. Der Nachbar sei kurz danach weggezogen.

„Ein Traum von Mann“

Die österreichische Autorin Edith Kneifl baut beim Krimischreiben stets eine enge Bindung zu ihren Protagonisten auf. Als ehemalige Tischtennis-Landesmeisterin sei es ihr mal in den Sinn gekommen, dass einer der Männer doch bei einem Tischtennisturnier sterben könnte. „Ich habe eine Figur entworfen, einen Traum von Mann, sage ich Ihnen, der hat mir dann so gut gefallen, dass ich ihn nicht mehr umbringen konnte. Er wurde nur schwer verletzt.“ Und nach einer kurzen Pause: „Aber es sind andere Männer umgekommen.“ Dass ein Autor seine Figuren liebgewinnt, bestätigte auch Bernhard Aichner: „Ich liebe zum Beispiel meine Bestatterin Brünhilde Blum – sie bringt Menschen um.“ Ja, zuweilen ist es recht makaber, wenn sich Krimi-Autoren unterhalten.

Alle fünf Autoren sind zudem Serientäter, ihre Helden oder Mörder tummeln sich also in mehreren Büchern. „Aber wann bekommen diese Kerle ein Ablaufdatum?“, wollte Sichrovsky wissen. Für Thomas Raab hängt das mehr damit zusammen, ob ein Buch seine Leser findet: „Bei meinem ersten Buch habe ich nicht gedacht, dass das jemand lesen würde.“ Für Aichner dagegen war es klar, dass seine Bestatterin nur eine Überlebenszeit von drei Büchern haben würde: „Die kann ich jetzt auch gut ziehen lassen. Es ist zwar reizvoll, das weiterzumachen, weil es sich gut verkauft, aber ich wusste vor dem ersten Buch, wie das dritte aufhört, und danach ist Schluss.“ Kneifl: „Vor allem das Publikum und die Verlage wollen doch Serien – aber ich gebe zu, auch ich kann mich manchmal nicht trennen.“

Und Veit Heinichen? Dem schien eine Frage nicht aus dem Kopf zu gehen: „Ich glaube nicht, dass Amelies Nachbar weggezogen ist.“ Schon hatte Heinichen die Lacher wieder auf seiner Seite. Fried parierte und erzählte, sie und ihr Mann hätten ein Gartenhaus bauen lassen. „Kein Scherz, und die beiden polnischen Bauarbeiter, die von dem nervigen Nachbarn gehört hatten, haben uns angeboten, ihn für 2.000 Euro umzubringen. Und für 4.000 Euro auch die Leiche zu beseitigen.“ Heinichen: „Irgendwer muss mal das Beton-Fundament dieses Gartenhauses überprüfen…“ Wieder Gelächter.

Kürzlich das erste Grab ausgehoben

Auch über die Recherchearbeit für ihre Bücher sprechen die Autoren. Während Kneifl mit einem Arzt verheiratet ist und ihn gern schon am Frühstückstisch fragt, an welchen Körperstellen das meiste Blut spritzt („Mein Mann passt bei meinen Leichen immer auf!“), hat Aichner kürzlich sein erstes Grab ausgehoben: „Das war eine tolle Erfahrung, aber richtig harte Arbeit.“ Und in der Rechtsmedizin in Hamburg sei er bei einer Obduktion dabeigewesen, auch das sei sehr faszinierend gewesen. Raab wiederum recherchiert „Problemfälle“, wie er das nennt. „Ich habe beim Skifahren Schnee von einer Schneekanone ins Gesicht bekommen und dann beim Hersteller angerufen und gefragt, ob das, was vorne rauskommt, rot würde, wenn man hinten jemanden reinsteckt.“ Interessant sei auch gewesen, beim örtlichen Schwimmbad anzurufen und zu fragen, wie lange die Filteranlage braucht, um das Wasser nach einem Haiangriff wieder klar zu bekommen. „Danach wusste ich die ganze Lebensgeschichte des Mann, den ich da angerufen hatte.“ Heinichen: „Die Frage ist, woher wusste der Mann, wie lange die Filteranlage brauchen würde…“

Und welche Krimis würden die Autoren empfehlen, ihre eigenen ausgenommen? Veit Heinichen legt den Lesern Fjodor Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ bzw. „Schuld und Sühne“ (ältere Übersetzungen) ans Herz, Edith Kneifl nennt Patricia Highsmiths „Die zwei Gesichter des Januars“, Bernhard Aichner mag gern die Adamsberg-Reihe von Fred Vargas und Thomas Raab empfiehlt den „Kameramörder“ von Thomas Glavinic.

Bernhard Aichner: Interview mit einem Mörder. Ein Max-Broll-Krimi, Haymon Verlag, Innsbruck, 2016, 288 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3709971338, Leseprobe

Amelie Fried: Ich fühle was, was du nicht fühlst, Heyne-Verlag, München, 2016, 400 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3453265905, Leseprobe

Veit Heinichen: Die Zeitungsfrau, Piper-Verlag, 2016, 352 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3492057585, Leseprobe

Edith Kneifl: Totentanz im Stephansdom, Haymon Verlag, Innsbruck, 2015, 264 Seiten, Taschenbuch, 12,95 Euro, ISBN 978-3709978337, Leseprobe

Thomas Raab: Der Metzger, Droemer Knaur, München, 2016, 336 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3426281369, Leseprobe

Die „Buch Wien“ 2016 war damit für mich beendet, am Sonntag, dem letzten Messetag, habe ich bereits die Heimreise angetreten. Wie in den vergangenen Jahren werde ich in den nächsten Tagen noch ein persönliches Fazit liefern. Einigermaßen sicher aber ist schon, dass ich auch im nächsten Jahr wieder von der „Buch Wien“ berichten werde. Bleiben Sie mir gewogen!

Stalking in Stockholm – Kepler kann’s doch

Ich jage dichRund ein Jahr lang hat Lars Kepler seine Leser warten lassen. Jetzt endlich ist der fünfte Kriminalroman mit dem eigensinnigen Ermittler Joona Linna erschienen – und das Rätsel um seinen möglichen Tod gelöst. Anfangs noch etwas wacklig auf den Beinen sucht er diesmal einen brutalen Serienmörder und Stalker, der offenbar ein heftiges Problem mit Frauengesichtern hat. Glücklicherweise ist der fünfte Band durchdachter und spannender als sein Vorgänger.

Stellen Sie sich vor, es ist Abend und Sie sitzen allein mit einem Glas Wein auf dem Sofa und schauen Fernsehen. In einer Werbepause blicken Sie gedankenverloren aus dem Fenster und entdecken plötzlich ein Gesicht an der Scheibe. Im nächsten Augenblick ist es verschwunden, und Sie können sich nicht mehr sicher sein, ob Sie es wirklich gesehen haben. Sie stehen auf und treten näher ans Fenster, doch dort spiegelt sich nur das hell erleuchtete Zimmer, in dem Sie stehen. Hat Ihnen die eigene Müdigkeit ein Schnippchen geschlagen? Sie lächeln über ihre Angst und kehren zum Sofa zurück. Doch jetzt haben Sie ein Geräusch gehört und fragen sich: Bin ich wirklich allein?

Die Frauen, die in Stockholm dem Stalker begegnen, stellen sich diese Frage nicht lange, denn schon im nächsten Moment bringt er sie auf blutrünstige und bestialische Art und Weise um. Er entstellt ihre Gesichter und lässt die Leichen in rätselhaften Positionen zurück. Der Polizei mailt er zuvor ein Video, das das Opfer noch zu Lebzeiten zeigt, gefilmt durch die hell erleuchteten Fenster. Die Informationen reichen jedoch nie aus, um den Mord zu verhindern.

Großteil der Spuren vernichtet

Gerade der letzte Mord aber hat es noch besonders in sich, denn der Ehemann des Opfers findet seine Frau kurz nach der Tat und reagiert panisch. Er putzt das Haus und trägt seine Frau ins Bett. Für die Kriminalpolizei ist es ein Fiasko, weil er damit den Großteil der Spuren vernichtet hat. Hinzu kommt, dass der Ehemann unter der traumatischen Erfahrung einbricht und sich nur noch bruchteilhaft daran erinnert, was er gesehen hat. Die Landeskriminalpolizei unter Leitung der hochschwangeren Kommissarin Margot Silverman beauftragt den Psychiater Erik Maria Bark damit, den Ehemann unter Hypnose zu befragen.

Kepler-Leser kennen Bark schon seit dem Debüt-Roman „Der Hypnotiseur“. Inzwischen ist er von seiner Frau geschieden, hat hin und wieder Frauenbekanntschaften und frönt immer noch seinem Laster, der Tablettensucht. Die Hypnose des Ehemanns führt ihn zurück zu einem alten Fall, bei dem der Tatort ähnlich aussah. Bark verschweigt der Polizei dieses Detail, offenbart sich aber gegenüber seinem besten Freund Joona Linna. Gemeinsam ermitteln sie auf eigene Faust, aber auch sie können das Morden nicht aufhalten. Und plötzlich steht Bark selbst direkt in der Schusslinie.

Mit dem neuen Roman hat das schwedische Autoren-Ehepaar Alexandra Coelho Ahndoril und Alexander Ahndoril alias Lars Kepler zu seiner alten Klasse zurückgefunden. Die liebgewonnenen Charaktere Joona Linna und Erik Maria Bark entwickeln sich entscheidend weiter, und auch andere Figuren aus der Reihe tauchen wieder auf. Neu in dem Gefüge ist die schwangere Kommissarin Margot Silverman, die trotz weit vorgeschrittener Schwangerschaft noch arbeitet und unter der zusätzlichen Belastung leidet, einen schnellen Ermittlungserfolg vorweisen zu müssen. Lars Kepler lässt sie deshalb leicht aus der Haut fahren, sie ist oft genervt, ähnlich starrköpfig wie Linna und wirkt über weite Strecken des Buches eher unsympathisch. Sie ist für den Leser nicht leicht zu nehmen, und gerade das macht sie zu einer der interessantesten Figuren.

Spannend und dramatisch

Litt der Vorgänger noch an zahlreichen Ungereimtheiten, so merkt man diesem Roman an, dass er besser recherchiert worden ist. Nach wie vor schreibt Lars Kepler sehr brutal und blutig; für zarte Gemüter ist auch der neue Roman deshalb nicht geeignet. Als Schwedenkrimi-Leser ist man einiges gewöhnt, aber hier legt Kepler nochmal eine Psycho-Schippe nach. Es ist spannend und dramatisch, und die kurzen Kapitel sorgen für einen ganz eigenen Lese-Sog. Es bleibt zu hoffen, dass die restlichen Bände der auf acht Bücher ausgelegten Serie weiterhin auf diesem Niveau bleiben.

Fraglich ist aber erneut, warum der Bastei Lübbe Verlag den passenden Titel der schwedischen Originalausgabe („Stalker“) nicht übernommen, sondern ihn mit „Ich jage dich“ übersetzt hat. Die Umschlaggestaltung mit einem auf den Betrachter gerichteten Fotoapparat unterfüttert die Deutungsmöglichkeit, dass nicht Stalking das Thema des Buches ist, sondern vielleicht ein Paparazzo. Der Mörder aber fotografiert seine Opfer nicht, sondern filmt sie. Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass der Verlag weiterhin seiner Linie treu bleibt und die Bücher der Serie mit farblich passenden Lesebändchen versieht.

Lars Kepler: Ich jage dich, Bastei Lübbe Verlag, Köln, 2015, 687 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,99 Euro, ISBN 978-3785725115, Leseprobe

Hercule Poirot wäre lieber tot geblieben

Die Monogramm-MordeIhre Autoren liegen unter der Erde, aber die einst erfundenen Helden sind einfach nicht totzukriegen: Sherlock Holmes ermittelt noch immer, obwohl Arthur Conan Doyle längst das Zeitliche gesegnet hat. James Bond ist weiter im Dienste Ihrer Majestät unterwegs, Ian Fleming aber hat das Schreiben todesbedingt aufgeben müssen. Und jetzt ist auch noch Hercule Poirot, der wohl berühmteste belgische Privatdetektiv, wiederbelebt worden – eine Exhumierung, die man besser sein gelassen hätte.

Auch Agatha Christie ist tot, aber sie hat – wenn man ihren Erben glauben soll – eine würdige Nachfolgerin in der britischen Thrillerautorin Sophie Hannah gefunden. Der 43-Jährigen, die in England auch wegen ihrer preisgekrönten Lyrik bekannt ist, erlaubte man deshalb, Poirots 34. Fall zu schreiben. Was ist es geworden? Ein possierliches Krimistück, dem man die Ehrfurcht vor dem großen Vorbild anmerkt und das nicht richtig in Gang kommt.

Die Arroganz in Person sitzt in den 1920er Jahren in einem Londoner Kaffeehaus, als eine junge Frau in den kleinen Laden hastet. Augenscheinlich wird sie verfolgt, denn sie blickt sich ständig nach der Tür um. Poirot wird auf das Schauspiel aufmerksam und bietet selbstverständlich seine Hilfe an – wer sonst könnte der Dame helfen, wenn nicht der Meister selbst? Doch Mademoiselle Jennie ist sich gewiss: Sie wird schon bald das Opfer eines Mordes, der sogar gerechtfertigt sei. Poirot aber möge auf keinen Fall nach dem Mörder suchen.

Prädestinierter Sidekick

Der hat bald auch ganz andere Sorgen, denn im Hotel Bloxham sind drei Leichen gefunden worden, zwei Frauen und ein Mann, jeweils in einem anderen Zimmer. Jede Leiche hat einen Manschettenknopf mit dem Monogramm PIJ im Mund, und das ist noch längst nicht das letzte Rätsel, dem sich Poirot gegenübersieht. Begleitet wird er von seinem Freund von Scotland Yard, Edward Catchpool, einem nicht besonders hellen Burschen und deshalb prädestinierten Sidekick.

Wie Catchpool selbst gerät der Leser aber immer mehr in gründliche Verwirrung, während Poirot fortlaufend erklärt, er habe schon Lunte gerochen und man würde schon bald verstehen, was er selbst längst durchschaut habe. Der Fall ist nicht nur kompliziert, sondern wird immer unübersichtlicher. Hannah scheint es zusätzliche Freude zu bereiten, ihren Helden selbstbeweihräuchernd über die Strenge schlagen zu lassen. Er ist auch bei Christie immer ein eitler Geck gewesen, aber Hannah versucht offenbar zu zeigen, wie gut sie Christies Poirot imitieren kann. Das nervt und trägt nicht zum Lesegenuss bei.

Stattdessen hätte dem Roman etwas mehr Spannung gut getan. Aber leider zieht die Geschichte dahin wie ein vergessener Teebeutel im lauwarmen Wasser. Es mag Leser geben, die dem Plot aus Eifersüchteleien auf dem Land und einer späten Rache dennoch etwas abgewinnen können. Die Mimi, die ohne Krimi nie ins Bett geht, hat „Die Monogramm-Morde“ aber gewiss nicht unterm Arm.

Sophie Hannah: Die Monogramm-Morde – Ein neuer Fall für Hercule Poirot, Atlantik Verlag, Hamburg, 2014, 338 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3455600162, Leseprobe

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