Fury, Black Beauty und der Kleine Onkel – alle tot

Der Schotte Greg Buchanan hat ursprünglich als Drehbuchautor für Videospiele gearbeitet. Unter anderem trug er zum Erfolg von „Metro: Exodus“ und „No Man’s Sky“ bei. Jetzt hat Buchanan seinen ersten Roman veröffentlicht, und er ist dunkel, verstörend, brillant – ein überzeugender Erstling.

„Sechzehn Pferde“ erzählt von einem mysteriösen und erschreckenden Fund auf einer Farm des englischen Küstenorts Ilmarsh. Dort entdeckt ein junges Mädchen auf einer morastigen Wiese sechzehn Pferdeköpfe, abgeschlachtet und kreisförmig zueinander vergraben bis auf jeweils ein Auge pro Kopf, das leer in den Himmel blickt.

Die marode Kleinstadt, die in ihrer Bruchbudenhaftigkeit – und der allgegenwärtig wehmütigen Reminiszenz an einst goldene Zeiten – an das „Joyland“ von Stephen King erinnert, erbebt unter dem Schrecken der offenbar tierquälerischen Grausamkeit.

Kein Mord, sondern allenfalls Sachbeschädigung

Detective Sergeant Alec Nichols ermittelt widerstrebend. Es sei ja eigentlich kein Mord, sondern Sachbeschädigung, sagt er. Andererseits kribbelt das detektivische Interesse. Wer würde 16 Pferde töten, und woher nehmen, wenn nicht stehlen? Waren hier Okkultisten am Werk? Ist es was Persönliches? Für die Obduktion und weitere Tataufklärung wird die Veterinärforensikerin Dr. Cooper Allen hinzugezogen. Vier Tage soll sie bleiben, dann, so die Hoffnung, sei das Verbrechen sicher aufgeklärt.

Doch davon sind Nichols und Allen weit entfernt. Die Ermittlungen ziehen sich hin, denn es bleibt nicht bei diesem einen Verbrechen. Es brennt, jemand hat einen Unfall, ein Junge verschwindet, eine abgetrennte Fingerkuppe findet sich, eine Mutter verlässt Mann und Tochter. Und dann, ja, dann werden die Menschen krank. Denn die Pferdeköpfe waren mit einer Anthrax-Variante verseucht. Sie meinen, jetzt kann es ja nicht noch ärger kommen? Doch.

Gehört zu den besten literarischen Krimis des Jahres

Was Greg Buchanan da komponiert hat, gehört zu den besten literarisch hochwertigen Kriminalromanen dieses Jahres. Obgleich es sich spannend liest, ist es kein Pageturner im eigentlichen Sinne einfach gestrickter Krimi-Massenware. Als Leser*in braucht es viel Konzentration und Aufmerksamkeit. An manchen Stellen ist es sperrig und unwirtlich wie der dort beschriebene düstere November an der englischen Ostküste. An anderen Stellen spielt der Autor mit den Ängsten und Erwartungen seiner Leser*innen, zieht sie an unsichtbaren Fäden mal in die eine Richtung, dann wieder abrupt in die andere, und oft ist es dort sehr, sehr dunkel.

Seine Figuren zeichnet er hervorragend. Er hat ein feinsinniges Gespür für Menschen, denen alles genommen wird, für die Abgehalfterten, Abgehängten, die Unsichtbaren. Seine beiden Hauptpersonen lässt er ungeschützt in die Welt. Beide ähneln sich, laufen aber auf unterschiedlichen Spuren und kollidieren manchmal. Nichols ist der knurrige Eigenbrötler, der sich nicht vom Krebs-Tod seiner Frau erholt hat. Allen ist den Menschen immerhin ein wenig zugewandt, aber wortkarg und reserviert. Humor suchen Sie in diesem Roman vergeblich, hier erstickt jede Fröhlichkeit.

Greg Buchanan, der 1989 geboren wurde und in Cambridge Englisch studiert hat, ist weltweit erfolgreich mit seinem Debüt. Der Roman wurde in 17 Sprachen verkauft, und auch die Film- und Fernsehrechte sind schon vergeben. Derzeit schreibt Buchanan an zwei weiteren Romanen, in mindestens einem davon wird Cooper Allen wieder auf der Bildfläche auftauchen.

Das Pferdegemetzel von Ilmarsh wird sicherlich auf Dauer einen Fixpunkt in der literarischen Arbeit von Greg Buchanan einnehmen. Alle Nachfolger werden sich daran messen lassen müssen. Denn den Schrecken des Höhepunkts vergisst niemand, der diesen Roman gelesen hat.

Greg Buchanan: Sechzehn Pferde, Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 2022, 444 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3103974881, Leseprobe

Die Traumtänzer vom Abgrund

Wir schreiben den 16. November 1925. Mitten im Berliner Amüsierviertel der Friedrichstraße dümpelt eine männliche Leiche in der Spree, Hinterkopf nach oben. Kein Schwimm- oder Tauchunfall, sondern: Mord. Das Opfer ist ein Journalist, der für das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ geschrieben hat. Im Ausklang des Jahres, in dem in München die NSDAP neu gegründet wurde, Hitler den ersten Band von „Mein Kampf“ veröffentlichte und die SS ins Leben gerufen wurde, lässt die Autorin Kerstin Ehmer ihren sympathischen Kommissar Ariel Spiro in einem Fall ermitteln, in dem er oft einen Schritt zu spät zu kommen scheint.

Der dritte (und bisher beste) Roman mit dem Titel „Der blonde Hund“ knüpft nahtlos an den Vorgänger an, in dem Spiro Boxunterricht genommen hatte, um den nationalsozialistischen Schlägertrupps etwas entgegensetzen zu können, und in dem die Ausbreitung des Antisemitismus beschrieben wird.

Die Spirale beginnt nun, sich schneller zu drehen. Die Nazis treten selbstbewusster auf, versammeln Geldgeber um sich und vertreiben ihre hirnlosen Schläger in die zweite Reihe. Wer ihnen dort vor die Füße fällt, dem gnade Gott.

Der Judenhass bricht sich Bahn, und auch Ariel Spiro bekommt nun häufiger antisemitische Vorurteile um die Ohren gepfeffert. Er trägt zwar einen jüdischen Namen, ist aber kein Jude. Im ersten Roman „Der weiße Affe“ hatte Spiro noch immerzu betont, seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel sei ein Luftgeist. Mittlerweile hat Spiro die Erklärungen aufgegeben. Sein Umfeld weiß Bescheid, und den Nazis ist in ihrer erbitterten Ideologie ohnehin nicht zu helfen.

„Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn“

Spiros Ermittlungen führen ihn zunächst in die Villa des bekanntesten Berliner Pianofabrikanten Eduard Bachmann („Ihre Klimperkästen sind der Stolz der Stadt“). Er und seine Frau Helena hatten sich mit dem Verleger-Ehepaar Feldstein aus München im Hotel Adlon zum Dinner getroffen. Zugegen war auch ein weiterer Herr aus München, den die Kellner als „fleischlos“ bezeichnen, als Vegetarier. Helena Bachmann beschreibt ihn hingegen so: „Oh, das ist ein überaus interessanter Mann, ein aufstrebendes, politisches Talent mit großem Potenzial. Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn.“ Der Name des Mannes wird an keiner Stelle des Romans benannt; aber es dürfte sich bei ihm um Adolf Hitler gehandelt haben.

Zurück zum Mordfall: Spiros Spur bringt ihn schließlich nach München, wo der sogenannte „Blonde Hund“ abgetaucht sein soll, ein junger Mann, der im Verdacht steht, eine Verbindung zum Mordopfer gehabt zu haben. Spiro schleicht sich unter falschem Namen im deutsch-nationalen Salon der Feldsteins ein und ermittelt im Kreis der höchsten Gesellschaftsschichten Münchens. Er begegnet dem Vater von Heinrich Himmler, wird auf der Reise zum nächsten Fixpunkt seiner Ermittlungen von einem Trupp Nazis aufgemischt, und recherchiert bei den Artamanen, wo der „Blonde Hund“ untergekommen sein soll. Die Artamanen wollten im Osten des Deutschen Reiches möglichst autark von bäuerlicher Tätigkeit leben („Fast jeden Tag ein Ei, das ist schon was“), auch um polnische Saisonarbeiter aus dem Land zu drängen. Sie verfochten eine völkische, agrarromantische Blut-und-Boden-Ideologie, 1934 gingen sie in der Hitlerjugend auf. Heute gibt es sie übrigens wieder, die völkischen Siedler: Neo-Artamanen nennen sie sich.1)

Äußerst penibel recherchiert

In Ehmers brillantem Kriminalroman ist wie immer viel drin, und dennoch wirkt er an keiner Stelle überfrachtet. Die Autorin recherchiert für ihre Romane stets äußerst penibel und schafft mit ihrem Fachwissen die prächtige Bühne für ihre Figuren. Natürlich schwingt auch immer viel Lokalkolorit mit: Die Männer trinken sich abends ihre Molle, die Damen gießen sich das Likörchen aus der Mampe-Flasche ein, und dann geht’s hinein ins pulsierende Berlin mit seinen Clubs und Bars, mit Tanz und Eleganz, mit Jazz und Klaviermusik. Dazu die Reichen und Schönen, die Arbeiter und Elenden, die Verbrecher und die ganze politische Dramaturgie der scheinbar Goldenen Zwanziger.

Während Spiro durch Deutschland fährt, bleibt seine eigenwillige Geliebte Nike Fromm in Berlin. Neugierig nimmt sie an Séancen teil, geht zu einem Wahrsager und versucht auf eigene Faust, das Rätsel um einen schwer verletzten jungen Mann zu lösen, der offenbar von einem brutalen Nazi-Offzier bei ausartenden SM-Spielen misshandelt wurde. Um Näheres herauszufinden, besucht sie eine Pension, in der Menschen mit dieser besonderen sexuellen Neigung im wahrsten Sinne des Wortes verkehren und in der niemand Fragen stellt.

Ja, es ist viel drin zwischen den beiden Buchdeckeln, und Kerstin Ehmer gelingt es auch in ihrem dritten Roman, gekonnt und mit viel Feingefühl die Spannung zu halten. Es ist ein geschickter Schachzug der Autorin, ihren Kommissar durchs Land reisen zu lassen, in einer Zeit, an der Deutschland langsam an den Scheitelpunkt gerät. Hervorragend stellt sie dar, wie die nationalsozialistische Ideologie auf der einen Seite bei immer mehr Menschen verfängt, während sie auf der anderen Seite abgetan oder gar unterschätzt wird. Der Oberkommissar der Politischen Polizei etwa verkennt die Lage völlig und sagt zu Spiro: „Meine Abteilung ermittelt überwiegend am linken Rand des politischen Spektrums, wo ich persönlich die größere Gefahr für unsere Republik sehe. Die Nationalsozialisten sind so gut wie tot.“

Nur eine ist hellsichtig und klug

Der Abgrund nähert sich, und selbst Spiro sieht es nicht. Für ihn sind die Bachmanns und Feldsteins alle „Traumtänzer, die mit Scheuklappen die Gegenwart ausblenden“. Nur eine in diesem Roman ist hellsichtig und klug: Nike Fromm. Sie sagt zu Spiro: „Etwas geschieht. Aber es ist viel größer als dein Fall. Es geschieht gleichzeitig an verschiedenen Orten. Der Aberglaube ist zurück. Unwissen und Dummheit sind wiederauferstanden und der Hass auf die Juden. Wir gehen nicht mehr vorwärts. Wir gehen zurück.“

Weniger als ein Jahr ist Spiro jetzt in Berlin. Er hat ein Mädchen gefunden, liebe Freunde und eine neue Heimat. Man hofft so sehr, dass die wandelnden Zeiten ihm das Glück nicht zerstören, aber wir gedanklich Zeitreisenden wissen es vermutlich besser: Das wird arg und ärger. Ja, fürwahr, der Abgrund nähert sich. Spiro, was wirst du tun?

Kerstin Ehmer: Der blonde Hund, Pendragon-Verlag, Bielefeld, 2022, 460 Seiten, broschiert, 22 Euro, ISBN 978-3865327635, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

1) Der „Deutschlandfunk Kultur“ hat 2017 in der Sendung „Zeitfragen“ über die neuen völkischen Siedler im ländlichen Raum berichtet. Der Beitrag ist hier nachzulesen.

Anlauf in Richtung Abgrund

Wenn Sie an historische Kriminalromane denken, die in Berlin zur Zeit der späten Weimarer Republik und des Nationalsozialismus spielen, kommt Ihnen sicher sofort die Reihe von Volker Kutscher um den nach Berlin versetzten Kommissar Gereon Rath in den Sinn. Es gibt eine Comic-Adaption sowie die sehenswerte Verfilmung als Kriminalserie „Babylon Berlin“. Aber kennen Sie auch Kerstin Ehmer und ihre Reihe über den Kriminalkommissar Ariel Spiro? 2017 ist der phänomenale erste Band mit dem Titel „Der weiße Affe“ erschienen, 2019 folgte „Die schwarze Fee“, und bereits Mitte Februar 2022, früher als ursprünglich vom Verlag geplant, kommt der dritte Fall mit dem Titel „Der blonde Hund“.

Während Kommissar Spiro in seinem ersten Fall den Mord an einem jüdischen Bankier aufklären musste, der mit eingeschlagenem Schädel im Treppenhaus seiner Geliebten zu liegen kam, hat er es in „Die schwarze Fee“ mit einem doppelten Giftmord zu tun. Es beginnt damit, dass an einem Sonntag bei bestem Sommerausflugswetter eine männliche Leiche auf dem Oberdeck eines Dampfers sitzt, und keiner der 70 Fahrgäste hat gesehen, wann sie vom Leben in den Tod hinüberfuhr.

Berlin von allen Seiten, und dabei oft von unten

In hervorragender (und niemals: billiger) Cliffhanger-Manier wechselt Kerstin Ehmer ständig die Perspektiven und beleuchtet den Fall und die Hauptstadt des Vergnügens und Verderbens von allen Seiten, und dabei oft von unten. Denn während die feine Gesellschaft ihr Auskommen hat und die schillernde Schönheit von Berlin in vollen Zügen auskosten kann, erleben wir in den dunklen Gassen und Gossen, in den Hinterhöfen, auf den Industrieflächen, an den Bahnlinien und in den Kneipen mit den Menschen die kalte Realität.

Ein besonderes Augenmerk liegt auf den russischen Emigrant*innen, die nach der Oktoberrevolution 1917 nach Berlin geflohen sind. Bis zu 350.000 Russinnen und Russen lebten damals in Berlin, der „Stiefmutter der russischen Städte“, wie man die Stadt nannte.

In der Stadt unterwegs ist auch die gefürchtete Tscheka, die sowjetische Geheimpolizei, die auf der Suche nach möglichen Gegner*innen der neuen russischen Machtstrukturen gnadenlos durchgreift. Heute kennt man die Verbrechen der Tschekisten unter dem Begriff „Roter Terror“. Genaue Opferzahlen gibt es nicht. Schätzungen gehen von 250.000 bis 1.000.000 Opfern aus.

Zeitgeschichtlich hochpolitischer Stoff

Es ist also ein zeitgeschichtlich hochpolitischer Stoff, den Kerstin Ehmer hier gut recherchiert zu Papier gebracht hat. Sie verwebt die politisch-gesellschaftliche Brisanz geschickt mit der Hintergrundgeschichte und den Nebenschauplätzen dieses Romans. So hatte Kommissar Ariel Spiro im ersten Roman eine kurze Liebelei mit Nike Fromm, der Tochter des ermordeten Bankiers. In „Die schwarze Fee“ ist Ariel nun trauriger Single mit wundem Herzen, während Nike mit dem Werkzeugmacher Anton Kraftschick angebandelt hat, einem Sozialisten, der sich nach Feierabend um Familien in Not kümmert. Doch nun ist Anton verschwunden; und wer sollte Nike besser helfen können, als Ariel Spiro? Den Rest könnte man sich fast denken. Tatsächlich ist es aber bei Kerstin Ehmers Romanen nie so, wie man sich das denkt.

Zu den grandiosen Szenen dieses Romans gehören etwa jene, in denen sich Antons Mutter, eine der starken Frauenfiguren, einen Ober-Nazi schnappt, den sie für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich macht, sowie die screwballartige Begebenheit, als mehrere Männer versuchen, unbemerkt eine Leiche verschwinden zu lassen. Nicht nur hier wird Ehmers besonderer Blick für Zwischentöne und Nuancen deutlich. Ihre Art zu schreiben, ist ohnehin eine Wucht.

Nazis klatschen oder: Wie boxt man eigentlich richtig?

Es ist viel los in diesem zweiten Roman, und das spiegelt so hervorragend den vielfältigen Trubel in Berlin wider: die Arbeiter, die Nazis, die Russen, und die Kinderbanden, die Tanzpaläste und Kneipen, die Anarchisten, die SPD und die Frage, wie boxt man eigentlich richtig; Armut, Reichtum und die Syphilis, die nicht nach arm und reich unterscheidet.

Hatte der erste Roman noch ein euphemistisches Flair der Goldenen Zwanziger, verliert Berlin diese Leichtigkeit nun langsam. Die Nazis verdreschen unverhohlen politische Gegner, und der Umgang auf den Straßen wird ruppiger. Tendenzen von Antisemitismus werden erkennbar, und wir wissen: Das ist der Anlauf in Richtung Abgrund.

Die Geschichte um Ariel Spiro geht weiter. Bereits in wenigen Tagen erscheint der dritte Teil, der im November 1925 spielen soll. Aus einem Berliner Kanal wird die Leiche eines Journalisten gezogen, der für das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ geschrieben hat. Ariel Spiro wird dafür nicht nur in Berlin ermitteln, sondern in ganz Deutschland, das in diesem Jahr deutlicher unter nationalsozialistischem Eindruck steht: In München ist die NSDAP neu gegründet worden, Hitler veröffentlicht den ersten Band von „Mein Kampf“, und die SS wird ins Leben gerufen. Der Abgrund nähert sich.

Kerstin Ehmer: Die schwarze Fee, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2019, 397 Seiten, broschiert, 18 Euro, ISBN 978-3865326560, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Die blutrote Fahne, ihr Seeleut, habt acht!

„Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel. Der Teufel verändert dich.“ Dieses Bonmot aus dem thematisch überhaupt nicht passenden Kinofilm „8mm“ ist für sich genommen die treffendste Umschreibung für den neusten Wurf von Stuart Turton. Nachdem er mit „Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle“ debütierte und das Buch in mehr als 30 Sprachen übersetzt und international ein Bestseller wurde (völlig zurecht übrigens), durfte man gespannt sein, was Turton mit dem zweiten Roman vollbringen würde.

Kurz gesagt: Es ist eines der besten Bücher des Jahres 2021 geworden, ein Schmöker, der seinen Namen verdient hat, und ein Buch, das man am liebsten nicht zu Ende gehen lassen möchte. Wenn Sie in diesem Jahr nur noch ein Buch lesen können oder wollen, lesen Sie dieses.

Erneut eine klar umrissene Bühne

Während wir uns in Turtons Erstling auf einem herrschaftlichen Anwesen befanden und das Grundstück kaum verließen, wählte der britische Autor, der mit seiner Frau und seiner Tochter in London lebt, für seinen zweiten Roman erneut eine klar umrissene Bühne aus. Auch hier ist ein Entkommen nur schwer möglich.

Man schreibt das Jahr 1634. Im Hafen von Batavia, heute bekannt unter dem Namen Jakarta, liegt ein Ostindienfahrer namens „Saardam“ vertäut. Mit Schiffen wie diesem bringt die Vereinigte Niederländische Ostindien-Kompanie regelmäßig Gewürze und Seidenstoffe aus den Kolonien nach Europa. Der Seeweg nach Amsterdam ist lang und gefährlich. Es lauern Piraten, Pest und pöbelnde Stürme auf See, und noch weist kein Radar sicher den Weg. Wer also von der Route abweicht, findet mitunter nicht mehr das Land, was er ansteuern wollte.

Essensrationen können knapp werden, wenn die Strecke länger ist als erwartet. Und ein Kapitän muss in manch ausweglos scheinenden Situation die Meuterei befürchten. „Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön“, das galt zumindest nicht für die Seefahrt im Jahr 1634.

Im Bann seiner Fabulierkunst

Turton schreibt „Der Tod und das dunkle Meer“ mit cineastischem Blick. Schon mit den Eingangsszenen, bei der die handelnden Personen nach und nach den Hafen von Batavia betreten, ist man im Bann von Turtons Fabulierkunst, der man sich nicht entziehen kann. Das geschäftige Treiben hier, das Beladen des Schiffes dort; Schweine, Hühner, Kühe, Fährboote kommen an und fahren wieder. Wohlhabende Passagiere stehen unter weißen Schirmen in der sengenden Sonne und warten darauf, die „Saardam“ betreten zu dürfen. Ja, fast meint man, sogar die Gerüche in der Nase zu haben, die durch den Hafen wehen.

Menschen jubeln einer Prozession zu, die einige der wichtigsten Personen dieses Romans zum Schiff bringt: Vorne weg der stolze Generalgouverneur Jan Haan auf einem weißen Hengst, hinter ihm in einer Sänfte seine Frau Sara und Tochter Lia, die körperlich und seelisch unter ihm leiden. Beide aber sind stark und selbstbewusst unter dem Deckmäntelchen des scheinbaren Gehorsams, und beide werden sich emanzipieren, wie man es nicht erwartet, aber umso mehr feiert. Das ist eine der vielen raffinierten Wendungen.

Der frühe Sherlock Holmes

Mit der Prozession kommen auch Arent Hayes und Samuel „Sammy“ Pipps, besser bekannt unter ihren Spitznamen „der Bär und der Spatz“, zum Schiff. Arent ist groß wie ein Bär und Sammy klein wie ein Spatz. Sammy ist sozusagen der frühe Sherlock Holmes, der knifflige Kriminalfälle löst, und Arent der frühe Dr. Watson, der Sammys Fälle aufschreibt und ihm ein Freund und ständiger Begleiter ist. Die Geschichten von Sammy und Arent sind in allen Teilen der zivilisierten Welt bekannt – doch jetzt ist Sammy in Ungnade gefallen und soll in Amsterdam hingerichtet werden.

Dabei hat er gerade noch für den Generalgouverneur die geheimnisvolle Phantasterei wiedergefunden – die kostbarste Fracht der „Saardam“. Was sie kann und wer sie erfunden hat (nein, es waren nicht die Schweizer), wird man später erfahren. So viel aber ist sicher: Kostbarste Fracht bleibt nie unbeobachtet, im Guten wie im Bösen.

Und das Böse ist mit an Bord. Ob es schon da war, oder der Teufel erst in Batavia als blinder Passagier auf die „Saardam“ geschmuggelt wurde, ist lange nicht klar. Wandelt der Teufel in Menschengestalt oder ist er unsichtbar? Im 17. Jahrhundert glauben die Seeleute ohnehin an vielerlei übersinnliches Unheil und versuchen, sich bestmöglich zu schützen. Sei es mit einem Talisman um den Hals, einer glücksbringenden Münze in der Hosentasche oder einem hoffnungsmachenden, ewige Liebe versprechenden Brief einer Frau in der Brusttasche über dem Herzen. Und ein jeder fasst sich an den gewählten Glücksbringer oder murmelt Gebete, als die „Saardam“ die Taue löst und die Mannschaft die Segel setzt. Denn als das Großsegel gehisst wird, prangt auf dem weißen Tuch plötzlich das Zeichen eines Auges mit einem Teufelsschwanz. Schockschwerenot!

Der Teufel verändert die Bühne immerzu

Mit der Ankunft des Teufels geschehen seltsame Dinge an Bord, Menschen und Tiere sterben unnatürliche Tode, und immer wieder taucht dieses Teufelszeichen auf. Der Teufel verändert die von Wasser und Gezeiten umgebene Bühne immerzu. Und wir sind gefühlt überall dabei: Ob an der frischen Luft auf dem Achterdeck oder dem dicht gefüllten Orlopdeck für die Passagiere, ob in den großen Kabinen für die reichen Leute oder auf Deck bei den Matrosen. Wir sind im Frachtraum, in der Pulverkammer, rund um den Großmast und ganz vorne an der Galionsfigur. Und an keiner Stelle engt der begrenzte Raum die Geschichte ein, denn Turton gelingt es meisterhaft, diese Bühne bis in die letzte Ecke, wo keiner mehr putzt, zu nutzen.

Seine Figuren, vor allem aber die unvergesslichen Held*innen, zeichnet Turton sehr raffiniert. Wie beim Häuten einer Zwiebel oder dem Öffnen einer Matroschka erfährt man erst nach und nach mehr über die handelnden Personen – und das kann schon mal ein paar hundert Seiten dauern.

Erst auf Seite 248 etwa erfahren wir, wie groß der Hochbootsmann Johannes Wyck ist, eines der wichtigsten Besatzungsmitglieder, das zugleich eine zentrale Rolle in der Aufklärung um die seltsamen Vorfälle an Bord der „Saardam“ spielt. Und seine Größe ist alles andere als unwichtig für die Geschichte.

Turton aber gelingt es hervorragend, die Figuren in den Augen der anderen Protagonisten spiegeln zu lassen, so dass die scheibchenweise Charakterbeschreibung nicht unangenehm auffällt – eher im Gegenteil. Seine Figuren entwickeln so Licht und Schatten. Und den Rest übernimmt die Phantasie.

Das einzige Manko

Die Übersetzung ins Deutsche durch Dorothee Merkel, auch das muss man lobend erwähnen, ist ausgezeichnet. Das einzige Manko, was der Rezensent auch hier nicht müde wird zu erwähnen, ist, dass „lachen“ kein Wort aus dem Wortfeld „sagen/sprechen“ ist. Das ist eine eigentümliche Angewohnheit von immer mehr Autor*innen und Übersetzer*innen, Personen in Büchern in der wörtlichen Rede etwas lachen zu lassen. Hier etwa der Satz: „‚Ich werde gegen Arent wetten‘, lachte dieser.“ Das zeugt leider nicht von einem guten Verständnis der deutschen Sprache.

Sprachlich ist „Der Tod und das dunkle Meer“ eine Wucht. Das cineastische Auge, die ungewöhnliche Art der Personenbeschreibung und das bestechende Gespür für Situationsbeschreibungen ergeben eine wunderbare Mixtur für dieses Wunderwerk an Fiktion. „Eine kaum merkliche, filigrane, aber dennoch entscheidende Balance hatte sich auf der ‚Saardam‘ verschoben.“ Merken Sie sich diesen Satz – er wird Ihnen irgendwann im Buch begegnen, und Sie werden wissen, dass er stimmt. Wer Stimmungen beiläufig scheinend, aber so treffend mit nur einem Satz einfangen kann, ist ein Meister der Worte. Stuart Turton ist ein Meister der Worte.

Die Genre-Frage

Lässt sich Turtons Buch einem Genre zuordnen? Kurze Antwort: Nein. In seinem mit britischem Humor verfassten Nachwort, das den Titel „Eine Entschuldigung an die Geschichte und das Schifffahrtswesen“ trägt, schreibt er: „Ich mache mir ein wenig Sorgen, die Leute könnten es als ein Buch über Schiffe oder als historischen Roman bezeichnen.“ Seine Angst ist vermutlich nicht unbegründet. Menschen wollen Ordnung und stecken Dinge gerne in Schubladen. Doch „Der Tod und das dunkle Meer“ passt in keine.

Für einen historischen Roman passen manche Ereignisse in diesem Buch nicht, auch die Sprache ist nicht angepasst. Für einen Roman über Schiffe sind die Details der „Saardam“ zu ungenau. Die Kleidung der Passagiere und der Besatzung sind nicht bis zum letzten Knopf recherchiert, die technischen Errungenschaften waren 1634 teilweise noch nicht erfunden. „Ich habe gründlich recherchiert, und dann habe ich alles wieder verworfen, was meiner Geschichte hinderlich war.“ Vielleicht ist es genau das, was Turtons zweiten Roman so lesenswert macht: dass die Phantasie hier das Ruder übernehmen darf.

Stuart Turtons Roman ist ein Buch zum Lachen, denn es hat Witz. Es ist zum Weinen, denn es hat sehr anrührende und traurige Passagen. Es ist zum Mitfiebern und Miträtseln. Es ist zum Fürchten und zum Bangen und Hoffen. Es bringt hinreißende Menschen hervor, die einem so sehr ans Herz wachsen, dass sie die Tage und Nächte bestimmen und man sich keine Leseminute ohne sie vorstellen mag. Es macht süchtig und es bringt einen dazu, das Ende hinauszuzögern. Was will man denn mehr?

Deshalb: Egal, welches Buch Sie gerade lesen – legen Sie es beiseite und schlagen Sie diesen Roman auf. Er wird Ihre Zeit beglücken und Sie an das köstliche Lesegefühl erinnern, als Sie das erste Mal „Moby Dick“ oder „Die Schatzinsel“ gelesen haben.

Stuart Turton: Der Tod und das dunkle Meer, Tropen-Verlag, Stuttgart, 2021, 608 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3608504910, Leseprobe

Seitengang dankt dem Tropen-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Im Modder und Zauber von Berlin

Die Mode- und Porträtfotografin Kerstin Ehmer hat sich in Berlin besonders wegen ihrer „Victoria Bar“ einen Namen gemacht. Seit 2001 führt sie mit ihrem Mann diesen Hort für alle Connaisseure der gepflegten und ernsthaften Trinkkultur. Jetzt hat sie ihren ersten Kriminalroman geschrieben. „Endlich!“, möchte man rufen, denn was Ehmer da unter dem Titel „Der weiße Affe“ vorgelegt hat, ist ein wahrlich kluges und raffiniertes Kriminalstück aus der Zeit der Weimarer Republik, sprachlich umwerfend dazu.

Der junge Kommissar Ariel Spiro ist soeben aus dem brandenburgischen Wittenberge nach Berlin gezogen. Noch nicht einmal seinen Koffer kann er auspacken, da ermittelt er schon in seinem ersten Fall in dieser berauschenden Großstadt. Der jüdische Bankier Eduard Fromm liegt mit eingeschlagenem Kopf auf der Stiege im Hinterhaus, kurz vor der Tür seiner Geliebten. Mund offen, Blick starr geradeaus, als habe ihn der Schlag getroffen.

Kurz zuvor hatte er noch seine Hilde besucht. Viermal in der Woche kam er und war der ehemaligen Tänzerin ein Gönner und Geliebter. Hatte ihr nach seinen peniblen Vorstellungen die Wohnung eingerichtet und ein ganz besonderes Schmuckstück als Dauerleihgabe gebracht: einen weißen Porzellan-Affen. Und allzu gern überfraß der Bankier sich an Schweinewürsten, erzählt man sich.

Zeit der nationalsozialistischen Emporkömmlinge

Nicht nur Spiro ist bass erstaunt, sondern auch Fromms Ehefrau Charlotte, eine zartgliedrige Konzertpianistin, sowie die beiden Kinder Ambros und Nike, beide nicht weniger anmutig. Spiro, der sonst immer wieder betont, er sei kein Jude – seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel ein Luftgeist – verschweigt das vor der Familie geflissentlich. Es ist die Zeit, wo mit den nationalsozialistischen Emporkömmlingen auch der Antisemitismus erstarkt. Spiro ist kein Antisemit; er erhofft sich mehr Offenheit, wenn die Familie glaubt, auch er sei Jude.

Spiro verfolgt so manche falsche Fährte, die ihn tief in den Morast der zwanziger Jahre der deutschen Hauptstadt bringt, in die Bars und Spelunken, auf die grellen Prachtstraßen und in die finsteren Gassen mit ihrem löcherigen Kopfsteinpflaster. „Diese Stadt ist ein Sumpf“, sagt ihm ein Kollege der Berliner Polizei. „Wo immer Sie hier hintreten, Spiro, da ist Modder.“

Eine Schönheit par excellence

Kerstin Ehmer vermag diesen Modder und Zauber der Großstadt und der damaligen Zeit so grandios einzufangen, dass es eine Freude ist. Trotz düsterem Sujet sind die Worte, ist die Sprache eine Schönheit par excellence. Schon der Duktus führt den Leser in die damalige Zeit. Die Phantasie eines jeden tut ihr übriges.

Die Figuren sind bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt. Spiros Mitbewohner Jack etwa, den man sich wirklich ans Herz liest, arbeitet in der Bar „La Cocotte“ und nennt einen Hund namens „Erbse“ sein Eigen. Oder die grünäugige Bankierstochter Nike, der Spiro blauäugig verfällt, die Medizin studiert und nebenbei als Sexualtherapeutin im berühmten Hirschfeld-Institut arbeitet. Und dann sei auch noch die rätselhafte Figur erwähnt, der wir in kursiv gesetzter Schrift dann und wann folgen, einem Kind, das unter Drogen gesetzt irgendwo in Berlin in einem Verschlag sein Leben fristet und 14 Jahre keine Schule von innen gesehen hat.

Eine Fährte, eine Fährte!

Dieser Fall, dieser Roman ist spannend gewoben, fürwahr – und man darf nicht mehr erzählen, um nicht Gefahr zu laufen, zu viel zu verraten. Sie wollen wissen, was es mit dem titelgebenden weißen Affen auf sich hat? Eine Fährte, eine Fährte. Wie so viele!

Die Zeit der Goldenen Zwanziger findet seit einigen Jahren wieder zurück in die heutige Kultur. Maßgeblichen Anteil daran hat Volker Kutscher mit seinen Romanen um den Kriminalkommissar Gereon Rath. Ihm folgten etwa eine ebenso lesenswerte Graphic-Novel-Bearbeitung von Arne Jysch sowie die gefeierte Serien-Adaption „Babylon Berlin“. Kerstin Ehmers Krimi sollte man jedoch nicht als kleinen Nachen sehen, der im Fahrwasser von Kutschers Romanen im Landwehrkanal dümpelt. „Der weiße Affe“ schlägt seine ganz eigenen Wellen. So sehr, dass wir am Ende nur hoffen und bitten, dass Ariel Spiro zurückkommen möge und „Der weiße Affe“ der phänomenale Auftakt einer neuen Krimi-Reihe ist. Darauf einen Charleston!

Kerstin Ehmer: Der weiße Affe, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2017, 280 Seiten, broschiert, 17 Euro, ISBN 978-3865325846, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

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