Mit Parkplatzpeter in der Provinz

Der unabhängige Kanon-Verlag („die mit dem Affen“) aus Berlin ist ein Phänomen. Erst 2020 gegründet und im Herbst 2021 sein erstes Programm vorgelegt, hat der Verleger Gunnar Cynybulk entweder das richtige Näschen, Händchen oder beides, um ein Knaller-Buch nach dem nächsten an Land zu ziehen und auf den Markt zu bringen.

Pro Jahr erscheinen nur zehn Bücher, „was zählt, ist die erzählerische Kraft eines Textes“, heißt es auf der Verlagswebseite. Zuletzt erlebte die Veröffentlichung der Tagebücher von Manfred Krug Ende Januar 2022 ein großes und begeistertes Medienecho (weitere Bände sind in Planung). Zuvor sind bereits Bücher erschienen wie der grandiose Roman „Steine schmeißen“ von Sophia Fritz oder der 117 Seiten lange, herausragende Monolog „Der Termin“ von Katharina Volckmer. Und jetzt, im Februar 2022, kommt direkt der nächste Hammer hinterher – weichen Sie dem nicht aus, sondern lassen Sie sich treffen.

Bravouröses Sprachgefühl

Das Buch mit dem passenden Titel „Meter pro Sekunde“ von Stine Pilgaard wird Sie umhauen und nachhaltig beeindrucken. Der Roman der dänischen Autorin zeugt von einem bravourösen Sprachgefühl und feinsinnigen Gespür für Komik. Es ist wahnsinnig lustig und tränenreich. Letzteres, weil Sie entweder aus dem Lachen nicht mehr rauskommen oder weil dieses Buch Sie so emotional anfasst. Es ist für Eltern, Freund*innen von Eltern, Eltern von Eltern, werdende Eltern, Lehrer*innen, Freund*innen von Lehrer*innen, Fahrschüler*innen, Schweigsame, wasserfallartig Redende, Redakteur*innen, Dänemark-Fans, Kolumnenschreiber*innen und -leser*innen, für, ach – alle sollten das lesen!

Pilgaard schreibt aus Sicht der Ich-Erzählerin, die mit ihrem Freund und dem gemeinsamen Baby, das noch keinen Namen hat (!), von Kopenhagen nach Westjütland gezogen ist. Man nennt den Landstrich in Dänemark auch das „Land der kurzen Sätze“; hier wird kein Wort zu viel gesprochen. Erinnern Sie sich an die Krimiserie „Lilyhammer“ mit „Sopranos“-Star Steven Van Zandt, der als verratener New Yorker Mafioso in ein Zeugenschutzprogramm kommt und ein neues Leben im norwegischen Lillehammer beginnen will?

Einen ähnlichen Kulturschock muss auch die Ich-Erzählerin erleben, als sie ihrem Freund nach Velling folgt, der dort in der Heimvolkshochschule einen Job als Lehrer angenommen hat. Klingt provinziell? Ja, das ist es, aber wunderbar unterhaltend und warmherzig und parodistisch.

„Folkehøjskole“ ist nicht gleich Volkshochschule

Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel klärt in seinem aufschlussreichen Nachwort darüber auf, was es mit der dänischen Heimvolkshochschule auf sich hat, die nicht vergleichbar ist mit der deutschen Volkshochschule. Die dänische nicht-staatliche Institution „Folkehøjskole“ umfasst internatsähnliche Schulen mit zwei- bis zwölfmonatigen Kursangeboten. Die Schülerinnen und Schüler sind in der Regel schon erwachsen und zwischen 18 und 25 Jahren alt, meist besuchen sie die Kurse zwischen Abitur und Studium.

Während ihr Mann den neuen Schülerinnen unabsichtlich den Kopf verdreht, beschreibt die Ich-Erzählerin in Kapiteln, die selten länger sind als zwei Seiten, kurz und heiter ihr neues Leben. Da ist natürlich ihr Sohnemann, für den es gilt, eine gute und passende Tagesmutter zu finden. Die Auserwählte heißt Maj-Britt, von der die Erzählerin glaubt, dass Maj-Britt sie nicht so sehr leiden mag wie andere Eltern, „eher so, als ob ich eine hilflose und etwas begriffsstutzige Asylbewerberin wäre, die sie in die dänische Gesellschaft integrieren soll“. Hier zeichnen sich nicht nur die Probleme ab, in dem neuen Ort Fuß zu fassen, sondern auch der eigenen Mutterrolle gerecht zu werden. Manchmal hat es den Anschein, sie betrachte ihren Sohn als einen Außerirdischen, der die Finger ausstreckt, um nach Hause zu telefonieren. „Muh, sagt mein Sohn und winkt, und ich finde, sein Tonfall hat etwas Aufforderndes an sich.“

Aber es wird noch besser. Die Erzählerin fängt an, Fahrstunden zu nehmen, denn um mobil zu sein, braucht man ein Auto in Westjütland. Sie nimmt Fahrstunde um Fahrstunde, die frustrierten Fahrlehrer wechseln sich bald ab, und die Erzählerin nimmt weiterhin Fahrstunde um Fahrstunde. Sie hat Angst. Vor Baustellen, plötzlich auftauchenden Schulkindern und davor, die Fahrstunde einfach nicht zu überleben. Die Fahrprüfung rückt in weite Ferne. „Parkplatzpeter“, einer ihrer Fahrlehrer, geht pädagogisch wertvoll an den schwierigen Fall ran: „Er wirkt aufrichtig beeindruckt, wenn ich in einen anderen Gang schalte.“ Das ist das Niveau, auf dem wir von der Rückbank und in den Sitz gekrallt an den Fahrstunden teilnehmen.

Voller Liebe und Zärtlichkeit

Dabei plaudert die Erzählerin in ihren Episoden so mitreißend, ist eine so lebensbejahende Frau, die das Herz am rechten Fleck hat und so wunderbar über sich selbst lachen kann, dass es nur so eine Freude ist. Voller Liebe und Zärtlichkeit baut Stine Pilgaard ihrer Hauptperson eine Bühne, die sie in ihrer Tiefe voll ausschöpft.

Doch auch Pilgaard versteht es, die Bühne zu nutzen, die ihr zwischen den zwei Buchdeckeln gegeben ist. Der Roman wechselt die Textformen: Zum einen sind da die kurzen Kapitel. Zum anderen nimmt die Erzählerin einen Job als Kolumnenschreiberin beim Lokalblatt an, und ihre „Kummerkasten“-Texte fügen sich in den Roman. Als dritte Form dichtet die Erzählerin Liedtexte aus dem Heimvolkshochschulen-Liederbuch auf ihre persönliche Situation um (der Übersetzer hat sie für den deutschsprachigen Markt an hier bekannte Lieder umgetextet). Alle drei Textformen wechseln sich ab, umschließen und ergänzen sich und manifestieren den ständig im Wechsel begriffenen Tagesablauf einer berufstätigen Mutter.

Schon Pilgaards Debüt, das 2023 im Kanon-Verlag erscheinen soll, wurde in Dänemark mit mehreren Preisen ausgezeichnet und machte die Autorin in ihrem Land schlagartig bekannt. In Dänemark wird das Buch ab März verfilmt – und es spricht für den Humor der Dänen, dass sich der Fernsehmoderator Anders Agger, der in Stine Pilgaards Roman eine besondere Rolle einnimmt, in dem Film selber spielen wird.

„Meter pro Sekunde“ ist nicht nur ein herzerwärmendes Buch über das Elternsein, sondern vor allem eine wundervolle Komödie über den schwierigen Zutritt einer Städter-Familie in eine lokale Gemeinschaft aus glückstrunkenen Menschen in der tiefsten Provinz. Ohne Frage dürfte „Meter pro Sekunde“ hierzulande eines der heitersten und unterhaltsamsten Bücher dieses Bücher-Frühjahrs werden!

Stine Pilgaard: Meter pro Sekunde, Kanon-Verlag, Berlin, 2022, 255 Seiten, gebunden, 23 Euro, ISBN 978-3985680115, Buchtrailer

Seitengang dankt dem Kanon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

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