Mit Parkplatzpeter in der Provinz

Der unabhängige Kanon-Verlag („die mit dem Affen“) aus Berlin ist ein Phänomen. Erst 2020 gegründet und im Herbst 2021 sein erstes Programm vorgelegt, hat der Verleger Gunnar Cynybulk entweder das richtige Näschen, Händchen oder beides, um ein Knaller-Buch nach dem nächsten an Land zu ziehen und auf den Markt zu bringen.

Pro Jahr erscheinen nur zehn Bücher, „was zählt, ist die erzählerische Kraft eines Textes“, heißt es auf der Verlagswebseite. Zuletzt erlebte die Veröffentlichung der Tagebücher von Manfred Krug Ende Januar 2022 ein großes und begeistertes Medienecho (weitere Bände sind in Planung). Zuvor sind bereits Bücher erschienen wie der grandiose Roman „Steine schmeißen“ von Sophia Fritz oder der 117 Seiten lange, herausragende Monolog „Der Termin“ von Katharina Volckmer. Und jetzt, im Februar 2022, kommt direkt der nächste Hammer hinterher – weichen Sie dem nicht aus, sondern lassen Sie sich treffen.

Bravouröses Sprachgefühl

Das Buch mit dem passenden Titel „Meter pro Sekunde“ von Stine Pilgaard wird Sie umhauen und nachhaltig beeindrucken. Der Roman der dänischen Autorin zeugt von einem bravourösen Sprachgefühl und feinsinnigen Gespür für Komik. Es ist wahnsinnig lustig und tränenreich. Letzteres, weil Sie entweder aus dem Lachen nicht mehr rauskommen oder weil dieses Buch Sie so emotional anfasst. Es ist für Eltern, Freund*innen von Eltern, Eltern von Eltern, werdende Eltern, Lehrer*innen, Freund*innen von Lehrer*innen, Fahrschüler*innen, Schweigsame, wasserfallartig Redende, Redakteur*innen, Dänemark-Fans, Kolumnenschreiber*innen und -leser*innen, für, ach – alle sollten das lesen!

Pilgaard schreibt aus Sicht der Ich-Erzählerin, die mit ihrem Freund und dem gemeinsamen Baby, das noch keinen Namen hat (!), von Kopenhagen nach Westjütland gezogen ist. Man nennt den Landstrich in Dänemark auch das „Land der kurzen Sätze“; hier wird kein Wort zu viel gesprochen. Erinnern Sie sich an die Krimiserie „Lilyhammer“ mit „Sopranos“-Star Steven Van Zandt, der als verratener New Yorker Mafioso in ein Zeugenschutzprogramm kommt und ein neues Leben im norwegischen Lillehammer beginnen will?

Einen ähnlichen Kulturschock muss auch die Ich-Erzählerin erleben, als sie ihrem Freund nach Velling folgt, der dort in der Heimvolkshochschule einen Job als Lehrer angenommen hat. Klingt provinziell? Ja, das ist es, aber wunderbar unterhaltend und warmherzig und parodistisch.

„Folkehøjskole“ ist nicht gleich Volkshochschule

Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel klärt in seinem aufschlussreichen Nachwort darüber auf, was es mit der dänischen Heimvolkshochschule auf sich hat, die nicht vergleichbar ist mit der deutschen Volkshochschule. Die dänische nicht-staatliche Institution „Folkehøjskole“ umfasst internatsähnliche Schulen mit zwei- bis zwölfmonatigen Kursangeboten. Die Schülerinnen und Schüler sind in der Regel schon erwachsen und zwischen 18 und 25 Jahren alt, meist besuchen sie die Kurse zwischen Abitur und Studium.

Während ihr Mann den neuen Schülerinnen unabsichtlich den Kopf verdreht, beschreibt die Ich-Erzählerin in Kapiteln, die selten länger sind als zwei Seiten, kurz und heiter ihr neues Leben. Da ist natürlich ihr Sohnemann, für den es gilt, eine gute und passende Tagesmutter zu finden. Die Auserwählte heißt Maj-Britt, von der die Erzählerin glaubt, dass Maj-Britt sie nicht so sehr leiden mag wie andere Eltern, „eher so, als ob ich eine hilflose und etwas begriffsstutzige Asylbewerberin wäre, die sie in die dänische Gesellschaft integrieren soll“. Hier zeichnen sich nicht nur die Probleme ab, in dem neuen Ort Fuß zu fassen, sondern auch der eigenen Mutterrolle gerecht zu werden. Manchmal hat es den Anschein, sie betrachte ihren Sohn als einen Außerirdischen, der die Finger ausstreckt, um nach Hause zu telefonieren. „Muh, sagt mein Sohn und winkt, und ich finde, sein Tonfall hat etwas Aufforderndes an sich.“

Aber es wird noch besser. Die Erzählerin fängt an, Fahrstunden zu nehmen, denn um mobil zu sein, braucht man ein Auto in Westjütland. Sie nimmt Fahrstunde um Fahrstunde, die frustrierten Fahrlehrer wechseln sich bald ab, und die Erzählerin nimmt weiterhin Fahrstunde um Fahrstunde. Sie hat Angst. Vor Baustellen, plötzlich auftauchenden Schulkindern und davor, die Fahrstunde einfach nicht zu überleben. Die Fahrprüfung rückt in weite Ferne. „Parkplatzpeter“, einer ihrer Fahrlehrer, geht pädagogisch wertvoll an den schwierigen Fall ran: „Er wirkt aufrichtig beeindruckt, wenn ich in einen anderen Gang schalte.“ Das ist das Niveau, auf dem wir von der Rückbank und in den Sitz gekrallt an den Fahrstunden teilnehmen.

Voller Liebe und Zärtlichkeit

Dabei plaudert die Erzählerin in ihren Episoden so mitreißend, ist eine so lebensbejahende Frau, die das Herz am rechten Fleck hat und so wunderbar über sich selbst lachen kann, dass es nur so eine Freude ist. Voller Liebe und Zärtlichkeit baut Stine Pilgaard ihrer Hauptperson eine Bühne, die sie in ihrer Tiefe voll ausschöpft.

Doch auch Pilgaard versteht es, die Bühne zu nutzen, die ihr zwischen den zwei Buchdeckeln gegeben ist. Der Roman wechselt die Textformen: Zum einen sind da die kurzen Kapitel. Zum anderen nimmt die Erzählerin einen Job als Kolumnenschreiberin beim Lokalblatt an, und ihre „Kummerkasten“-Texte fügen sich in den Roman. Als dritte Form dichtet die Erzählerin Liedtexte aus dem Heimvolkshochschulen-Liederbuch auf ihre persönliche Situation um (der Übersetzer hat sie für den deutschsprachigen Markt an hier bekannte Lieder umgetextet). Alle drei Textformen wechseln sich ab, umschließen und ergänzen sich und manifestieren den ständig im Wechsel begriffenen Tagesablauf einer berufstätigen Mutter.

Schon Pilgaards Debüt, das 2023 im Kanon-Verlag erscheinen soll, wurde in Dänemark mit mehreren Preisen ausgezeichnet und machte die Autorin in ihrem Land schlagartig bekannt. In Dänemark wird das Buch ab März verfilmt – und es spricht für den Humor der Dänen, dass sich der Fernsehmoderator Anders Agger, der in Stine Pilgaards Roman eine besondere Rolle einnimmt, in dem Film selber spielen wird.

„Meter pro Sekunde“ ist nicht nur ein herzerwärmendes Buch über das Elternsein, sondern vor allem eine wundervolle Komödie über den schwierigen Zutritt einer Städter-Familie in eine lokale Gemeinschaft aus glückstrunkenen Menschen in der tiefsten Provinz. Ohne Frage dürfte „Meter pro Sekunde“ hierzulande eines der heitersten und unterhaltsamsten Bücher dieses Bücher-Frühjahrs werden!

Stine Pilgaard: Meter pro Sekunde, Kanon-Verlag, Berlin, 2022, 255 Seiten, gebunden, 23 Euro, ISBN 978-3985680115, Buchtrailer

Seitengang dankt dem Kanon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Aus der Zauber

Joanne K. Rowling ist mit ihren „Harry Potter“-Büchern zur Bestseller-Autorin geworden. In ihrem neuen Werk „Ein plötzlicher Todesfall“ aber, ausdrücklich ein Roman für Erwachsene, fehlt der Zauber. Stattdessen serviert die Autorin dem Leser eine klischeehafte, reißbrettartig geplante Sozialkritik, für die es keine 576 Seiten gebraucht hätte.

Die einzige sympathische Figur des Romans stirbt bereits auf Seite 11 – Barry Fairbrother. Er kippt auf dem Parkplatz des Golfclubs um und erliegt einem Aneurysma. Durch seinen Tod wird ein Platz im Gemeinderat frei, eine plötzliche Vakanz, „The casual vacany“, wie das Buch im Original heißt. Laut Klappentext ist das der „Nährboden für den größten Krieg, den die Stadt je erlebt hat“ – so lassen sich 576 Seiten schnell begründen.

Barry Fairbrother war – wie der Name schon sagt – die gute Seele des englischen Städtchens Pagford. Aufopferungsvoll kümmerte sich der Banker um die sozial Schwachen, insbesondere um das aufmüpfige Mädchen Krystal Weedon, die mit ihrer drogenabhängigen und zeitweise der Prostitution nachgehenden Mutter und ihrem kleinen Bruder in einer verwahrlosten Wohnung in der Sozialsiedlung Fields wohnt. Fairbrother unterstützte Krystal, holte sie in die Rudermannschaft der Schule und warb im Rat dafür, die Siedlung weiterhin in der Zuständigkeit Pagfords zu belassen. Diesem Plan aber standen und stehen einige andere Ratsmitglieder ablehnend gegenüber, weil die dort wohnende Unterschicht nicht in ihr Bild einer idyllischen, wohlhabenden Kleinstadt passt. Und so entbrennt mit Fairbrothers Tod nicht nur ein Kampf um den frei gewordenen Platz im Gemeinderat, sondern auch um das Für und Wider der Integration sozial Schwächerer.

Wie aus dem Synonymwörterbuch abgeschrieben

Die Sprache ist so einfach dahergeschrieben, wie sie schon beim Kinderbuch „Harry Potter“ funktionierte. Die anstößigen Begriffe, die dem neuen Roman den „Nur für Erwachsene“-Stempel aufdrücken sollen, klingen wie aus dem Synonymwörterbuch abgeschrieben und in den Text gewürfelt. Und von Literatur lässt sich hier nun wirklich nicht sprechen. Weniges mag auch der schnellen Übertragung ins Deutsche zugeschrieben werden, mussten die beiden Übersetzerinnen den Stoff doch in vier Wochen in einem geheimniskrämerischen Akt im Londoner Verlag Little Brown übersetzen.

Doch es ist wohl der Autorin geschuldet, dass sie die Unterschicht ganz klischeehaft fluchen und sich mit „dämliche scheiß Junkie-Bitch“ oder „verkackte blöde Fixerkuh“ beschimpfen lässt, während die Mittelschicht ganz andere Probleme hat. Da ist die Mutter, die sich heimlich die Boy-Band-Videos ihrer Tochter ansieht und von einer Sexnacht mit einem Jüngling träumt, und der stellvertretende Schulleiter, der offensichtlich pädophile Gedanken hegt. Da ist die Schülerin aus Indien, die gemobbt wird und sich ritzt, während ihr Vater so perfekt aussieht, dass er als Filmschauspieler arbeiten könnte. Und natürlich ist da auch noch Krystal, die nach Fairbrothers Tod in ein Milieu und ein Leben zurückfällt, in dem sie kaum noch Unterstützung erfährt.

Das allerdings versteht Rowling: Die Welt der Kinder und Jugendlichen zu beschreiben. Doch keiner dieser jungen Leute hat ein allzu herrliches Leben. Der erste Sex, nun gut, der ist sowieso meistens nicht herrlich, vor allem aber nicht in Pagford. Dort haben die Jugendlichen Sex hinter einer Hecke auf dem Friedhof oder an einem reißenden Fluss, während der kleine Bruder wenige Meter entfernt auf einer Bank sitzt und wartet. Ein Mädchen wird vergewaltigt, zwei Jungen regelmäßig von ihrem Vater vertrimmt. Das ist eine Welt, in der Kinder und Jugendliche heutzutage aufwachsen. Das ist weder lebensfern noch übertrieben. Und es sind die eindringlichsten Szenen des Romans. Das macht ihn deshalb aber noch nicht zu einem Stück Literatur.

Erinnert an einen russischen Roman

Vom Inhalt abgesehen hätte dem Buch ein Lesebändchen gut zu Gesicht gestanden. Eine Karte könnte dem Leser einen groben Überblick über Pagford bieten, schränkt aber auch die Phantasie ein, die ohnehin kaum Raum erhält. Letztlich hätte eine vorherige Auflistung der Personen das Werk komplettiert, erinnert es mit den weitverzweigten Beziehungs- und Verwandschaftsgraden und der Vielzahl der mitunter sogar ähnlich klingenden Namen an einen russischen Roman. Gut gelöst hat das etwa der Antje Kunstmann Verlag bei Paul Murrays lesenswertem Roman „Skippy stirbt“ – auf dem Lesezeichen hat man ein „Who is who“ stets parat, um die handelnden Personen auseinanderzuhalten.

Es bleibt zu hoffen, dass Joanne K. Rowling nicht bereits an einer Fortsetzung arbeitet und sich kein Regisseur an eine Verfilmung des Stoffes wagt. Dann darf die Zeit kommen, in der die „Harry Potter“-Schöpferin sich auf ihr Können besinnt und vielleicht wieder etwas Begeisterndes schafft.

Joanne K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall, Carlsen Verlag, Hamburg, 2012, 576 Seiten, gebunden, 24,90 Euro, ISBN 978-3551588883

Fälschen will gelernt sein, Schreiben auch

Mark Trace will Schriftsteller werden und entdeckt schon früh ein seltenes Talent: Er kann sich den Stil berühmter Literaten aneignen und schreiben wie sie. „Der Hochstapler“ von David Belbin wartet mit einigen vergnüglichen Szenen auf: So bricht Mark während der Beerdigung von Roald Dahl in dessen Gartenlaube ein, um auf seiner Schreibmaschine eine Kurzgeschichte zu fälschen, während Dahls Enkel vor der Tür stehen und sich vor dem Geist ihres Großvaters gruseln. Einige schöne Ideen folgen, doch zum Ende wird das Buch fade. Sprachlich ist es ohnehin keine Wucht.

Alles beginnt in der Schule, als der 14-jährige Ich-Erzähler Mark ein Kapitel des „David Copperfield“ im Stil von Charles Dickens schreiben soll. Er imitiert dessen Stil so perfekt, dass der Lehrer glaubt, er habe geschummelt und den Text aus einem unbekannteren Werk abgeschrieben. Rund vier Jahre später zieht es den begabten jungen Mann hinaus in die Welt. Er will in London Literatur studieren und zuvor in Paris auf den Pfaden berühmter Schriftsteller wandeln.

Dort trainiert er seine Gabe, indem er Kurzgeschichten von Ernest Hemingway fälscht, deren Original-Manuskripte einst verloren gegangen sein sollen. Mark gerät an den windigen Paul Mercer, dem er erzählt, er habe eine Geschichte auf dem Flohmarkt zwischen den Seiten einer Zeitschrift entdeckt. Mercer ist sofort Feuer und Flamme, kauft Mark die Geschichte ab und stellt sie dem Fachpublikum vor. Die Geschichte wird als literarische Sensation gefeiert.

Einfach, lapidar, dann aber auch schwülstig und antiquiert

Mark ist inzwischen in London eingekehrt und arbeitet neben dem Studium bei einer einst renommierten Literaturzeitschrift – der perfekte Arbeitsplatz, um weitere Geschichten zu fälschen und unterzubringen. Jetzt ist Mark in seinem Element. Doch was der englische Autor Belbin in seinem Roman mit solch schönen Ideen beginnt, lässt sich nicht bis ins Unermessliche treiben. Und so ist es kaum verwunderlich, dass der Schluss des Buches wenig überzeugen kann. Bis dahin aber ist es zumindest nette Unterhaltung. Die Sprache lässt sich jedoch nicht mit der Brillianz der von Mark imitierten Schriftsteller vergleichen. Oft ist sie einfach, lapidar, dann aber auch schwülstig und antiquiert. Beispiel gefällig? „Das war alles etwas zu viel für mich: Vernichtung, Tod, Geburt rings um mich her. Ich wünschte ihnen aus der Tiefe meines zittrigen Herzens alles nur erdenklich Gute.“ (S. 249) Das hätte selbst Hedwig Courths-Mahler, Inbegriff der Trivialliteratur, so nicht geschrieben.

Wer nun erwartet, Mark Trace würde den Leser an seinen literarischen Finessen teilhaben, der irrt. Allenfalls Zusammenfassungen seiner Fälschungen bekommt der Leser geliefert, nicht aber eine Kostprobe der Hemingway-Plagiate oder des Dahl-Falsifikats. Und sein Schöpfer David Belbin hätte wohl auch gleich den Beruf des Fälschers ergreifen können, wenn er den Stil berühmter Schriftsteller so perfekt imitieren könnte wie seine Figur Mark Trace. Eine literarische Sensation ist „Der Hochstapler“ indes nicht. Nett zu lesen, aber eine Offenbarung sieht anders aus.

David Belbin: Der Hochstapler, Kindler Verlag, Reinbek, 2010, 284 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,95 Euro, ISBN 978-3463405803
David Belbin: Der Hochstapler, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 2011, 288 Seiten, Taschenbuch, 8,99 Euro, ISBN 978-3499254116

Oh, du mein arg romantisch pochendes Herz

Wir schreiben die siebziger Jahre. In einer Moorlandschaft im Süden Englands hat sich eine Künstlerkolonie angesiedelt, deren Bewohner das freie Leben genießen. Auch Cecilia wächst dort auf. Ihre Eltern Dora und Patrick haben ein altes Gehöft gekauft, in den Ställen kommen andere Hippies unter, bezahlt wird mit Naturalien oder handwerklichen Dingen. Das alles geht Cecilia gehörig auf den Keks. Am schlimmsten für sie ist aber die antiautoritäre Erziehung an ihrem Internat, einer Reformschule, wo sie auch das Töpfern und Flechten erlernt. Welch ein Lichtblick, als der ernsthafte Englischlehrer James Dahl an die Schule kommt, und die 15-jährige Cecilia und ihre Freundinnen sich reihenweise in den Mann verlieben.

„Gefährliche Nähe“, das ist Joanna Briscoes aktueller Roman, der in Deutschland jetzt bei Bloomsbury Berlin erschienen ist. Und wie der Vorgänger „Schlaf mit mir“ ist auch dieses Buch sehr emotional, schwülstig und für das romantische Herz geschrieben. Kaum vorstellbar, dass ein Mann an diesem Buch Gefallen finden kann. Jedoch: Freundinnen von tiefromantischen Liebes- und Familiensagas werden wahrscheinlich ihre helle Freude daran haben.

Es kommt, wie es kommen muss: Die belesene Cecilia entbrennt in tiefer Liebe zu ihrem Lehrer, weil er die klassische Bildung verkörpert. Auch er liest Bücher, weiß daraus zu zitieren und ist ansonsten unnahbar ernsthaft. In der Beschreibung erinnert Mr. Dahl an Matthew Macfadyen und seine meisterhafte Darstellung des Mr. Darcy in der Joe-Wright-Verfilmung von „Stolz und Vorurteil“.

Vom zarten Band zur gefährlichen Nähe

Zwischen Cecilia und James Dahl entwickelt sich ein zartes Band, das sich mehr und mehr zur titelgebenden gefährlichen Nähe entwickelt. Die wird zwar von Cecilias Mutter Dora gesehen, aber nicht wirklich erkannt. Dafür ist keine Zeit, denn Dora fühlt sich zum anderen Part der Dahls hingezogen, Elisabeth, James‘ bi-interessierte Ehefrau.

Rund zwanzig Jahre später kehrt Cecilia mit ihrer eigenen Familie in das Haus ihrer Kindheit zurück, um näher bei ihrer krebskranken Mutter zu sein. Die Erinnerungen an die Erlebnisse in ihrer Kindheit prasseln auf sie ein, und schnell wird deutlich: Auch jetzt noch lauert an diesem Ort eine gefährliche Nähe.

Es wird viel gefühlt und geliebt in diesem Roman, dafür fehlt es an derb-deftigen Sexszenen, wie man sie noch in „Schlaf mit mir“ lesen konnte. Wer also zumindest darauf hofft, wird enttäuscht werden. Insgesamt bleibt es ein Liebesroman durch und durch, der sich durch die verbotene Liebe zwischen Lehrer und Schülerin etwas Reiz verspricht, ihn aber nicht halten kann. Wieder mal ein Buch für den Urlaub, sofern man ein arg romantisch pochendes Herz besitzt.

Joanna Briscoe: Gefährliche Nähe, Bloomsbury Verlag, Berlin, 2012, 495 Seiten, gebunden, 22,90 Euro, ISBN 978-3827010490

Ein Albtraum

Ein Lehrer geht in eine Schulvollversammlung und erschießt drei Schüler sowie eine Kollegin. Danach richtet er sich selbst. Das Motiv ist rätselhaft. Was wie der Beginn eines Krimis klingt, ist ein zutiefst erschütterndes menschliches Drama. Man sollte es gelesen haben.

Samuel Szajkowski ist der neue Geschichtslehrer an einer renommierten Londoner Schule. Dort hat er es von Anfang an schwer. Der ignorante Schulleiter, der ihn einstellt, weil er „der am wenigsten unterqualifizierte einer wahrlich nicht begeisternden Truppe“ von Bewerbern war, hält ihn zunächst für wichtigtuerisch und arrogant, später ist er nur noch genervt von ihm, lässt sich verleugnen, nur um nicht mehr von Szajkowski behelligt zu werden.

Eine ganz üble Figur von Lehrerpersönlichkeit an der Schule ist der Sportlehrer TJ, der schon beim ersten Kennenlernen an die Decke geht, als Szajkowski vermutet, er unterrichte Physik oder Latein und nicht etwa Sport. Schon bald schikaniert er Szajkowski, wo es nur geht. TJ versteht auch nicht, warum der Neue sich partout nicht Sam nennen lassen wollte. Denn TJ lässt sich selbst von seinen Schülern ganz kumpelhaft mit seinem Spitznamen ansprechen, sieht dabei aber nicht, dass die dessen Masche durchschaut haben. Für die Schüler ist TJ nur eine Abkürzung für illustre Spitznamen wie TittenJones und TeJakulator.

Mit Szajkowski aber gehen auch die Schüler nicht gerade zimperlich um. Schon in der ersten Schulstunde schlägt Ober-Rowdy Donovan den neuen Geschichtslehrer in die Flucht – weinend. Man kann sicherlich behaupten, dass Szajkowski der Lehrerrolle nicht unbedingt gewachsen ist und er wahrscheinlich den falschen Beruf ergriffen hat, aber was den Leser wirklich tief erschüttert, ist nicht nur Szajkowskis Hilflosigkeit, sondern vor allem das Versagen der Schule, das sich nach und nach entrollt. Und hier ist dem Autor wirklich ein Glanzstück gelungen: Es wechseln sich die Tonbandaufnahmen der Zeugenaussagen mit den Erzählungen über die Ermittlungen der Polizistin Lucia May ab, und so entspannt sich vor den Augen der Leser die ganze grauenhafte Geschichte, ohne jemals blutig zu werden.

May selbst wird im Büro von einem Kollegen drangsaliert und gemobbt, der Chief Inspector schaut zu und tut nichts – ein Spiegel zur Schule, denn dort ist es Szajkowski, dem das Leben zur Hölle gemacht wird, während der Schuldirektor wegschaut, weil ihm sein Posten und die Zukunft der Schule wichtiger sind. Und es ist nicht Szajkowski allein, der Opfer eines Systems wird. Es ist ungeheuerlich, so ungeheuerlich.

Mehr als die unbedingte Aufforderung auszusprechen, dieses Buch zu lesen, kann man als Rezensent nicht tun. Warum der Verlag allerdings den englischen Original-Titel „Rupture“ trivial mit „Ein toter Lehrer“ übersetzt hat, ist befremdlich. Auch für einen deutschen Titel wäre ein Wort wie „Bersten“ oder „Platzen“ treffender gewesen.

Von dem 1976 geborenen Simon Lelic dürfen wir indes bald mehr erwarten. Laut Angaben des Verlags schreibt er derzeit an seinem dritten Buch. „Ein toter Lehrer“ ist sein Debüt. Was für ein Wurf!

Simon Lelic: Ein toter Lehrer, Droemer Verlag, München, 2011, 349 Seiten, gebunden, 16,99 Euro, ISBN 978-3426198698
Knaur Taschebuch Verlag, München, 2012, 352 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro, ISBN 978-3426505199

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