Der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach ist nicht nur ein glänzender Erzähler, sondern stellt jetzt unter Beweis, dass er auch noch Theaterstücke schreiben kann. „Terror“ heißt sein erstes Werk und ist nach den Anschlägen von Paris unfreiwillig hochaktuell. Es ist für die Bühne konzipiert, wirkt aber auch als Phantasiespiel im Kopf des Lesers unmittelbar und eindringlich. „Terror“ ist die moderne Fassung der alten ZDF-Gerichtsshow „Wie würden Sie entscheiden?“ – ein Gerichtsdrama mit zwei unterschiedliche Enden, und der Leser muss das aus seiner Sicht richtige wählen.
Der Leser und der Theaterzuschauer werden zum Schöffen, ja, gar zu Richtern gemacht. Die Bühnen, die Schirachs Stück bereits spielen, lassen den Zuschauer meist nach der Pause entscheiden: Soll der Angeklagte verurteilt oder freigesprochen werden? 16 deutsche Theater haben „Terror“ auf dem Spielplan, die Uraufführung lief zeitgleich in Frankfurt und Berlin. Es besteht enormes Interesse.
Erklären lässt sich das sicher schon mit dem gewählten Sujet: Terroristen haben eine Lufthansa-Maschine mit 164 Menschen an Bord entführt und drohen, es in das vollbesetzte Münchner Fußballstadion zu fliegen. Lars Koch ist Kampfpilot der Luftwaffe, sitzt zu diesem Zeitpunkt im Cockpit seines Eurofighters und versucht erfolglos, die entführte Maschine vom Kurs abzubringen. Dann trifft der 31-Jährige eine einsame Entscheidung: Er schießt die Passagiermaschine ab, um die 70.000 Stadionbesucher zu retten. Jetzt steht er wegen 164-fachen Mordes vor Gericht und soll sich verantworten.
Was ist Menschenwürde?
Das Theaterstück stellt Fragen, die auch stets wiederkehrende Themen in Schirachs Büchern sind: Darf man Menschenleben gegeneinander aufrechnen? Was ist Menschenwürde? Was ist Schuld? Lars Koch hat für sich entschieden: Ja, man darf Menschenleben gegeneinander aufrechnen. Er hat sie abgewogen. Die Rettung von 70.000 Menschen wog schwerer, denn die 164 Menschen an Bord der Passagiermaschine wären wahrscheinlich ohnehin gestorben, rechnet er dem Gericht vor. Aber er hat damit nicht nur über Leben und Tod anderer Menschen entschieden, er hat auch gegen einen ausdrücklichen Befehl gehandelt. Denn selbst in solchen Notsituationen hat das Bundesverfassungsgericht den Abschuss von Passagiermaschinen verboten.
Die Bundesregierung hatte nach dem 11. September 2001 das neue Luftsicherheitsgesetz erlassen. Danach sollte der Verteidigungsminister in solchen Fällen entscheiden können, notfalls Waffengewalt einzusetzen und unschuldige Menschen zu töten, um andere zu retten. Doch das Bundesverfassungsgericht sah das anders und hob diesen Paragrafen wieder auf. Menschenleben dürften niemals gegeneinander abgewogen werden, das widerspreche schon der Verfassung. Lars Kochs Verteidiger erklärt, sein Mandant habe im übergesetzlichen Notstand gehandelt. Damit legt Schirach ihm das Argument des früheren Bundesverteidigungsministers Franz Josef Jung (CDU) in den Mund, der auch noch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erklärt hatte, er werde dennoch ein für einen Terroranschlag entführtes Flugzeug notfalls durch die Bundeswehr abschießen lassen.
Der Fall „Lars Koch“ ist selbstverständlich erfunden, aber er eignet sich hervorragend als juristisches Lehrstück. Da macht es auch nichts, dass wir manche Argumente Schirachs für Rechtsstaatlichkeit, Foltervervot und Menschenwürde schon aus anderen Büchern, zuletzt aus der Essay-Sammlung „Die Würde ist antastbar“, kennen. Wie würden Sie entscheiden? Ist Lars Koch schuldig oder unschuldig? Wie die Theaterbesucher in den bisherigen Aufführungen abgestimmt haben, kann man im Internet nachlesen. Bis jetzt plädierte die Mehrheit für „unschuldig“. Lars Koch würde im Namen des Volkes freigesprochen.
Entscheidung nach eigener Fasson
Man könnte argwöhnen, das Stück langweile doch sicher. Es ist nun wirklich auch nur eine Gerichtsverhandlung, wie sie sich tatsächlich abspielen könnte. Die einst in diversen Privatsendern gezeigten Gerichtsshows gehören der Vergangenheit an, auch die von 1974 bis 2000 produzierte ZDF-Sendung „Wie würden Sie entscheiden?“ ist längst Fernsehgeschichte, warum also fesselt dieses Theaterstück so sehr? Weil der Leser und der Theaterbesucher seine Entscheidung nicht juristisch begründen muss. Weil er nur danach entscheidet, wie er tickt, ganz nach seiner Fasson. Und das ist zugleich das Ungeheuerliche dieses Theaterstücks. Schirach spielt damit: Er stellt die juristischen Prinzipien dar und lässt dann das Volk richten.
Nicht völlig von der Hand zu weisen ist natürlich auch der aktuelle Rahmen, in dem „Terror“ jetzt besonders hervorsteht. Auf dem Buchrücken erklärt Schirach, er habe das Theaterstück vor dem Anschlag auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo geschrieben. „Es wird weitere Anschläge geben, weitere Morde, weiteren Schmerz.“ Aber er glaube an den „gelassenen Geist unserer Verfassung, an ihre souveräne Toleranz und ihr freundliches Menschenbild“. Das Buch enthält auch die Rede, die Schirach zur Verleihung des M100-Sanssouci-Medienpreises an Charlie Hebdo geschrieben und noch vor den Anschlägen von Paris gehalten hat. Wer das Buch bis zur letzten Seite gelesen hat, wird es aufgewühlt zuschlagen und sich bis dahin selbst besser kennengelernt haben, wenn und soweit es um Fragen von Recht, Moral, Terrorbekämpfung und die Grenzen des Grundgesetzes geht. Nie zuvor hat Ferdinand von Schirach eine solch persönliche Vereinnahmung des Rezipienten erreicht. Lesen Sie es!
Ferdinand von Schirach: Terror, Piper Verlag, München, 2014, 176 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 16 Euro, ISBN 978-3492056960, Leseprobe
Ich würde mich gerne mit dir darüber unterhalten, vor allem über sein Essay in dem Band ‚ Die Würde des Menschen…‘, der den realen Fall der in Seenot geratenen Seeleute behandelt.