Schon seit Jahren steht das Foto seines verstorbenen Vaters im Bücherregal seines Zimmers, aber erst an einem Mittwoch in den Herbstferien wird der 17-Jährige neugierig, wer sein Vater war und warum er Selbstmord beging. Der Anfang einer Spurensuche zur Zeit einer verbohrten Gesellschaft.
Kurz nach seiner Geburt begeht der Vater Selbstmord. Das einzige, was ihm von seinem Vater bleibt, ist eine gerahmte Fotografie, die in seinem Bücherregal steht. Als der Junge sie an jenem Tag in den Herbstferien genauer betrachtet, entdeckt er nicht nur, das sein Vater am Handgelenk eine Uhr trägt, die er noch nie gesehen hat, sondern dass die Zeiger der Uhr auf Viertel nach sieben stehen – für einen Fototermin eine unübliche Zeit, sowohl am Morgen als auch am Abend. Der Junge löst den Rahmen und entdeckt auf dem Rücken der Fotografie einen Namen: André Gros aus Paris – sein eigener Patenonkel, den er ebenfalls noch nie gesehen hat.
„André Gros war der Mann, den wir aus den Augen verloren hatten, von dem ich nur drei Dinge wußte, daß er seine Kindheit und Jugend in der Schweiz verbracht hatte, daß er ein Schulfreund meines Vaters gewesen war und daß er sich nach dessen Beerdigung nicht mehr gemeldet hatte.“ Als der Junge mit seiner Mutter Veronika über den Verbleib der Armbanduhr spricht, erfährt er noch ein viertes Detail über seinen Patenonkel: Er besitzt die Uhr seines Vaters. Seine Mutter hatte sie ihm nach dem Tod ihres Mannes geschickt, weil sie für sie keine Bedeutung hatte.
Der Junge ist fassungslos. Er hebt all sein Geld ab, das er auf Sparbüchern und Bankkonten hat, und reist nach Paris, um seinen Patenonkel zu treffen. Der ist nicht wenig überrascht und dennoch bereit, dem Jungen Hinweise darauf zu geben, warum dessen Vater sich das Leben nahm: „Man kann sich über vieles hinwegsetzen, vor allem über die Blicke der anderen. Man muß es nur verstehen, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Mir ist es gelungen. Ich glaube, es ist mir gelungen. Deinem Vater nicht.“
Lange Zeit ist das Buch ein Roman der Andeutungen. Man muss schon zwischen den Zeilen lesen, um zu erahnen, was wirklich schiefgelaufen ist im Leben des Emil Ott, als er sich kurz nach der Geburt seines ersten Kindes das Leben nimmt. Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat sich eines Themas angenommen, über das schon so vieles geschrieben worden ist, auch über die Suche der Nachkriegsgeneration, die zu wenig über ihre Eltern weiß. Und trotzdem ist „Zur falschen Zeit“ kein weiteres dieser schon so oft geschriebenen Bücher.
Sulzer schreibt feinsinnig und stilsicher, mit einer Sprache und Wortgewandtheit, die an Max Frisch erinnert. Man legt es nicht aus der Hand, dieses Buch. Hier wird nicht rasant geschrieben, sondern die Geschichte tickt langsam, aber stetig voran wie das Räderwerk einer Uhr. Schon bald greift Sulzer zu verschiedenen Erzählebenen, die dem Leser eine Vorausschau ermöglichen. Es ist ein gekonntes Hin und Her zwischen Vor- und Rückblenden und den Erlebnissen aus der Sicht des Jungen. Und es entsteht das Portät eines Mannes, der „zur falschen Zeit“ und in einer kleinbürgerlichen Welt lebte und liebte. Ein Buch, das man gelesen haben sollte.
Alain Claude Sulzer: Zur falschen Zeit, Galiani Verlag, Berlin, 2010, 231 Seiten, gebunden, 18,95 Euro, ISBN 978-3869710198