Es kann nur einen geben

Manche Menschen wünschen sich die perfekte Liebe, den perfekten Partner, der wie beim biologischen Schlüssel-Schloss-Prinzip zu einem anderen Menschen passt. Zeitschriften, Bücher, TV-Serien und Filme nähren diese Sehnsucht nach Vollkommenheit. Auch Singlebörsen leben davon, dass manch einer nie zufrieden ist.

In der nicht ganz so fernen Zukunftsversion von John Marrs Roman „The One“ hat die Suche nach dem perfekten Partner ein Ende. Denn mit dem Online-Angebot „Match your DNA“ ist es möglich, den allereinzigen Partner zu finden, der aufgrund der DNA zu einem anderen Partner passt. Das perfekte Match. Was man dafür tun muss? Einfach nur einen Gentest machen und dann: warten. Millionen von Menschen weltweit haben diesen Test gemacht und „sind glücklich geworden“. Journalisten würden schreiben: „Nach eigenen Angaben des Unternehmens.“ Denn kann wirklich unsere DNA darüber entscheiden, wie glücklich wir mit einem Partner werden? Oder ist es nicht vielmehr die Hoffnung, die ein Mensch darauf setzt, dass das jetzt aber nun wirklich mal der richtige Deckel zum Topf ist?

Nicht  nur diesen Fragen geht der britische Journalist und Autor in seinem Buch nach, sondern entwickelt auch Szenarien, wie sehr es unter dem Deckmäntelchen des DNA-Glücks brodeln kann. Welche kriminelle Energie möglich ist. Und wie Glück dann doch wieder zu Unglück führt. Willkommen in der Spirale der Suche nach dem perfekten Partner! Oder wie Albert Camus formuliert: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Christopher, der Serienmörder

Das Setting und die Idee sind hervorragend, die Umsetzung allerdings dürfte nur denjenigen gefallen, die seichte Unterhaltung schätzen und in Buchhandlungen zielsicher zu pinkfarbenen Büchern greifen. In kurzen Cliffhanger-Kapiteln folgen wir fünf Hauptpersonen, die ihre teilweise fiesen Erfahrungen mit „Match your DNA“ machen: Es beginnt mit Mandy (ja, der Ohrwurm drängt sich auf), die unter anderem aufgrund mehrerer Fehlgeburten ihre Ehe in den Sand gesetzt hat und jetzt beginnt, die Social-Media-Profile des „schönen Fremden“ zu stalken. Problem: Ihr perfektes Match ist vor kurzem verstorben. Dann hätten wir noch Christopher, den Serienmörder, der allerdings, soviel darf verraten werden, nicht für den Tod von Mandys Match verantwortlich ist. Seine perfekte Partnerin arbeitet bei der Polizei. Das muss man wollen.

Nick wiederum möchte den DNA-Test gar nicht machen, aber seine Verlobte Sally will sicher gehen, dass sie in biologischer Hinsicht füreinander bestimmt sind. Denn ihre Eltern sind mittlerweile zum dritten (Mutter) und vierten Mal (Vater) verheiratet. „Und ich will nicht genauso enden.“ Das Unheil nimmt seinen Lauf, als Nicks perfekter Partner ein Mann ist. Und auch die unsichere Jade hat ein Match, allerdings nicht in England, sondern in Australien. Einigermaßen naiv lässt sie alles stehen und liegen und fliegt zu ihm. Als sie vor seiner Tür steht, ist Kevin nicht allein zu Haus. Am Telefon sagt er: „Tut mir leid, du hättest nicht kommen sollen.“ Und legt auf. Traumtyp!

Und zuletzt ist da noch die schwerreiche Ellie, ein „irrer Kontrollfreak“, wie sie ein Exfreund offenbar zurecht bezeichnet hatte, die, aus zu großer Angst vor den Boulevardmedien und deren Interesse, ihr Privatleben nach außen zu kehren, keinen Mann an sich heranlässt. Umso argwöhnischer ist diese klischeehaft gezeichnete Frau mit ihren Miu-Miu-Highheels, der Bettwäsche aus Mako-Baumwolle und dem Kronleuchter aus Swarovski-Kristallen, als auch sie plötzlich ein DNA-Match hat. Ärgerlicherweise entstammt Timothy Hunt (nomen est omen?) nicht ihrer Gesellschaftsriege und entspricht äußerlich nicht ihrem Typ. (Der Mann steht auf Coldplay, die Foo Fighters und die Stereophonics und hat so gut wie alle Filme mit Matt Damon oder Leonardo DiCaprio gesehen.) „Kurz gesagt war Timothy Hunt allem Anschein nach ein unauffälliger Mann, mit dem Ellie jedoch auf ganz besondere Weise verbunden war.“ Es kann nur einen geben – und das zieht sogar bei Ellie.

Kaum raffinierte Cliffhanger

Alle fünf nicht besonders einfallsreich gezeichneten Figuren begegnen sich nie. Die mäßige Spannung entwickelt sich durch die kurzen Kapitel und die kaum raffinierten Cliffhanger. Weil die Abfolge der Figuren immer dieselbe bleibt, muss man also vier andere Kapitel lesen, bevor man weiterlesen kann und weiß, ob Christopher die Frau jetzt wirklich umgebracht hat oder nicht (bei seinem Ziel, 30 Frauen zu töten, kann man sich die Chancen ausrechnen).

Wer sich die äußere Aufmachung anschaut, kann ahnen, dass der Roman nicht in literarischen Höhen schwebt. Wir sind nicht nur auf dem Niveau von Privatsender-Vorabend-Seifenopern, sondern befinden uns zudem auf einem simplen Romantiklevel  von Bella und Edward aus der Twilight-Saga oder Anastasia Steele und Christian Grey aus der „Shades of Grey“-Reihe. Allerdings entsteht beim Lesen von „The One“ kein Schmerz durch Schläge mit der Hand, sondern durch Tiefschläge mit dem literarischen Können. Dem Roman ist noch ein geistreiches Zitat aus Victor Hugos Roman „Die Elenden“ vorangestellt, danach geht’s triefend bergab – das Problem der Fallhöhe von literarischen Mottos. Einige Beispiele:

Fünf Beispiele literarischer Tiefschläge

„‚Oh mein Gott‘, flüsterte sie. Ohne es zu bemerken, hatte sie den Atem angehalten. In ihren Fingerspitzen kribbelte es, und sie spürte, dass sie rot wurde. Wenn sie schon so auf ein Foto reagierte – was würde dann erst in ihrem Körper passieren, wenn er leibhaftig vor ihr stand?“

„Indem sie jedoch zugelassen hatte, dass unter ihrem dicken Fell ihre warme, liebevolle Seite hervorleuchtete, hatte sie sich verwundbar gemacht. Wegen ihrer Entdeckung hatte sie so vieles verloren, doch diese Opfer, so schwor sie sich, sollten nicht vergebens sein.“

„Ein Teil von ihr wollte Mark ohrfeigen, ein anderer dagegen sich nur so fest wie möglich an ihn drücken.“

„Jade hatte sich noch nie so herzlos gefühlt wie in den Moment, als sie, halb nackt und noch immer ganz erhitzt, vor ihrer Schwiegermutter stand, mit deren Sohne sie gerade geschlafen hatte – der allerdings nicht der war, den sie geheiratet hatte.“

„‚Es zerreißt mir das Herz, das so zu sagen, aber wenn ich nicht durchdrehen will, muss ich dich gehen lassen. Wenn es jemand wäre, der nicht dein Match ist, würde ich um dich kämpfen. Aber mich mit den Genen anzulegen, ist aussichtslos.'“

Wer in diesen Zeiten seichte Unterhaltung sucht und den Kopf nicht zu sehr anstrengen mag, kann hier zugreifen. Allen anderen sei geraten: unterstützen Sie Buchhandlungen in Ihrer Stadt und bestellen Sie dort etwas anderes. In der Seitengang-Rubrik „Vortreffliches“ finden Sie Anregungen. „The One“ landet dagegen in der Rubrik „Werke, die das Regal nicht braucht“.

John Marrs: The One – Finde dein perfektes Match, Heyne Verlag, München, 2019, 496 Seiten, broschiert, 15,99 Euro, ISBN 978-3453320611, Leseprobe

Zwischen allen Rollen

Erst im Juni 2018 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO festgestellt, dass Transmenschen nicht psychisch krank sind. Es ist also erst wenige Wochen her, dass Transsexualität offiziell nicht mehr als Störung gewertet wird. Weltweit leiden Transmenschen jedoch nach wie vor unter einem gesellschaftlichen Stigma, werden diskriminiert und Opfer von Gewalt. Sehr berührend und sensibel beschreibt das die Fotoreportage „Trans*visit“ des Schweizer Fotografen Martin Bichsel. Er hat elf Transmenschen in Ländern wie der Türkei, Griechenland, Tunesien oder der Ukraine getroffen und sie einfühlsam porträtiert.

Transmenschen haben vor allem eins gemeinsam: ihr inneres Wissen, welches Geschlecht sie haben (die Geschlechtsidentität), stimmt nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesen Geschlecht überein. Sie leben ihr Geschlecht jedoch ganz unterschiedlich. Egal, ob sie eindeutig wie ein Mann oder wie eine Frau aussehen, ob sie operiert sind oder sie sich besonders „männlich“ oder „weiblich“ verhalten. Sie alle sind Transmenschen, und nicht nur diejenigen, die  geschlechtsangleichende Operationen machen lassen. Oder wie Nyke Slawik im November 2017 in ihrem Kommentar bei ze.tt so treffend titelte: „Trans* Menschen sind mehr als: ‚Hast du noch/schon deinen Penis?'“

Bichsels Neugier war geweckt

Bichsels berührendes Fotoprojekt begann 2005 in Istanbul durch einen Zufall. Bichsel war mit einem befreundeten Journalisten in der Stadt unterwegs, um über die alternative Musikszene und das Nachtleben zu berichten. Dann aber trafen sie eines Nachts auf Michelle, eine Frau mit deutlich kantigem Kinn und markantem Gesicht, „was beides nicht so recht zum Rest ihrer ausgesprochen weiblichen Aufmachung passen wollte“. Bichsels Neugier war geweckt, und Michelle war eine dankbare Interviewpartnerin, die dem Fotografen erlaubte, ihren Alltag zu begleiten.

Wir sehen Michelle bei der Arbeit und bei der Laserepilation, auf dem Taksim-Platz und früh morgens, wenn sie sich fertig macht für den Tag. Wir erfahren, dass Gewalt und Unverständnis gegenüber Transmenschen in der Türkei, aber auch in vielen anderen Ländern der Welt, keine Seltenheit ist. Von der Polizei können sie keine Hilfe erwarten, Straftaten gegen Transmenschen werden oft gar nicht erst aufgeklärt.

Eine sichtbare und deutliche Aktivistin

Viele von Michelles Freundinnen arbeiten in der Prostitution, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Einen regulären Arbeitsplatz zu ergattern, ist für Transmenschen aufgrund der Ächtung fast unmöglich. Michelle aber betont immer wieder, dass sie ihren Körper nicht verkaufen will, dass sie auf andere Weise Geld verdienen möchte. Wir erleben die damals 30-Jährige als eine starke Persönlichkeit, die, obwohl Angst ihr ständiger Begleiter ist, eine sichtbare und deutliche LGBT-Aktivistin ist (LGBT = Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender). Ihr Glaube daran, dass vor allem Bildung zu mehr gegenseitigem Verständnis führt, verhilft ihr schließlich zu einem Job als Reporterin bei einem Fernsehsender.

Es gibt in diesem Buch viele glückliche Transmenschen. Aber ihre Geschichten sind es oft nicht, denn sie erzählen auch von persönlichen Schicksalen, von Diskriminierung und Gewalt. Da ist zum Beispiel Angela. Sie wohnt in der muslimisch geprägten albanischen Hauptstadt Tirana und arbeitet als Prostituierte. In der Öffentlichkeit wird sie angefeindet – sie fällt auf wie ein bunter Hund, will sich auch nicht verstecken. In vielen Cafés wird sie gar nicht erst bedient, manchmal sogar direkt rausgeworfen, erzählt sie Bichsel.

Menschen werfen mit Steinen nach ihr, Ärzte lachen sie aus

Als sie von einem Freier derart verprügelt wird, dass sie ins Krankenhaus muss, wird sie dort nicht behandelt, sondern zu allem Übel auch noch von den Ärzten ausgelacht. Menschen werfen mit Steinen nach ihr, und von der Polizei kann sie auch keine Hilfe erwarten. Im Gegenteil: Einmal wurde sie auch von der misshandelt. In Italien, hofft Angela, wird es ihr einmal besser gehen. Deshalb spart sie ihr weniges Geld, um bald einen Pass beantragen und nach Italien ausreisen zu können.

Bichsel zeigt Transmenschen aus ganz verschiedenen Kulturen und von unterschiedlichen Kontinenten. Seine Fotografien kommen den Menschen nahe und sind doch aus einer vorsichtigen Distanz, die nie die Grenze zum Voyeuristischen überschreiten. „Trans*visit“ ist ein eindrückliches Buch, das verstehen hilft, auch und gerade für Leser, die bisher Berührungsängste oder keinen Zugang zu Transmenschen hatten.

Wie ein Spaziergang mit zufälligen Begegnungen

Das Inhaltsverzeichnis des Buches lässt zunächst die Seitenzahlen vermissen. Genannt werden nur die Namen, Wohnorte sowie Jahre, in denen Bichsel den Menschen begegnet ist. Mit Glück schlägt man die richtige Seite mit dem gewünschten Porträt auf, andernfalls aber, und das ist das viel größere Glück und der bessere Zugang, ziehen die Fotografien beim Blättern nach dem gesuchten Porträt den Leser in eine andere Geschichte, zu einem anderen Menschen. „Trans*Visit“ lässt sich lesen wie ein Spaziergang mit zufälligen Begegnungen. Nicht anders erging es Bichsel damals 2005 in Instanbul, als er auf der Straße plötzlich Michelle gegenüberstand.

Im August 2018 berichtete die Zeitschrift Stern Crime (Nr. 20) über das Projekt der beiden Fotografen Andrew Mroczek und Juan José Barboza-Gubo, die in Peru Tatorte fotografierten, wo Lesben, Schwule, Bisexuelle und vor allem Transmenschen ermordet wurden oder nur knapp mit dem Leben davon kamen. Die Behörden sehen dort bei homo- und transphoben Verbrechen weg, Opfer sind unverhohlenem Hass ausgesetzt, Morde bleiben ungesühnt. In Peru wurde über die Ausstellung der beiden homosexuellen Fotografen kaum berichtet. Mittlerweile wurden ihre Fotos in Havanna, La Paz, New York und Houston gezeigt.

Nur Aufklärung kann den Hass vermindern und das Verstehen fördern. Fotografen wie Mroczek, Barboza-Gubo und Bichsel lassen uns erste, aber längst überfällige Schritte gehen. Es wird noch viele weitere brauchen, bis Homo- und Transphobie weltweit überwunden sind. Oder wie Bichsel in seinem aufschlussreichen Vorwort schreibt: „Bevor sich die Lebensumstände für Transmenschen ändern, muss es der gesamten Gesellschaft ermöglicht werden, ein Leben in Freiheit und Würde zu leben.“ Fotoprojekte wie das seine sorgen für die notwendige Aufmerksamkeit und Aufklärung in unserer Gesellschaft, wo LGBT-Themen noch zu oft tabuisiert werden.

Martin Bichsel: Trans*Visit, Kommode Verlag, Zürich, 2014, 96 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3952411469

Seitengang dankt dem Kommode-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Im Modder und Zauber von Berlin

Die Mode- und Porträtfotografin Kerstin Ehmer hat sich in Berlin besonders wegen ihrer „Victoria Bar“ einen Namen gemacht. Seit 2001 führt sie mit ihrem Mann diesen Hort für alle Connaisseure der gepflegten und ernsthaften Trinkkultur. Jetzt hat sie ihren ersten Kriminalroman geschrieben. „Endlich!“, möchte man rufen, denn was Ehmer da unter dem Titel „Der weiße Affe“ vorgelegt hat, ist ein wahrlich kluges und raffiniertes Kriminalstück aus der Zeit der Weimarer Republik, sprachlich umwerfend dazu.

Der junge Kommissar Ariel Spiro ist soeben aus dem brandenburgischen Wittenberge nach Berlin gezogen. Noch nicht einmal seinen Koffer kann er auspacken, da ermittelt er schon in seinem ersten Fall in dieser berauschenden Großstadt. Der jüdische Bankier Eduard Fromm liegt mit eingeschlagenem Kopf auf der Stiege im Hinterhaus, kurz vor der Tür seiner Geliebten. Mund offen, Blick starr geradeaus, als habe ihn der Schlag getroffen.

Kurz zuvor hatte er noch seine Hilde besucht. Viermal in der Woche kam er und war der ehemaligen Tänzerin ein Gönner und Geliebter. Hatte ihr nach seinen peniblen Vorstellungen die Wohnung eingerichtet und ein ganz besonderes Schmuckstück als Dauerleihgabe gebracht: einen weißen Porzellan-Affen. Und allzu gern überfraß der Bankier sich an Schweinewürsten, erzählt man sich.

Zeit der nationalsozialistischen Emporkömmlinge

Nicht nur Spiro ist bass erstaunt, sondern auch Fromms Ehefrau Charlotte, eine zartgliedrige Konzertpianistin, sowie die beiden Kinder Ambros und Nike, beide nicht weniger anmutig. Spiro, der sonst immer wieder betont, er sei kein Jude – seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel ein Luftgeist – verschweigt das vor der Familie geflissentlich. Es ist die Zeit, wo mit den nationalsozialistischen Emporkömmlingen auch der Antisemitismus erstarkt. Spiro ist kein Antisemit; er erhofft sich mehr Offenheit, wenn die Familie glaubt, auch er sei Jude.

Spiro verfolgt so manche falsche Fährte, die ihn tief in den Morast der zwanziger Jahre der deutschen Hauptstadt bringt, in die Bars und Spelunken, auf die grellen Prachtstraßen und in die finsteren Gassen mit ihrem löcherigen Kopfsteinpflaster. „Diese Stadt ist ein Sumpf“, sagt ihm ein Kollege der Berliner Polizei. „Wo immer Sie hier hintreten, Spiro, da ist Modder.“

Eine Schönheit par excellence

Kerstin Ehmer vermag diesen Modder und Zauber der Großstadt und der damaligen Zeit so grandios einzufangen, dass es eine Freude ist. Trotz düsterem Sujet sind die Worte, ist die Sprache eine Schönheit par excellence. Schon der Duktus führt den Leser in die damalige Zeit. Die Phantasie eines jeden tut ihr übriges.

Die Figuren sind bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt. Spiros Mitbewohner Jack etwa, den man sich wirklich ans Herz liest, arbeitet in der Bar „La Cocotte“ und nennt einen Hund namens „Erbse“ sein Eigen. Oder die grünäugige Bankierstochter Nike, der Spiro blauäugig verfällt, die Medizin studiert und nebenbei als Sexualtherapeutin im berühmten Hirschfeld-Institut arbeitet. Und dann sei auch noch die rätselhafte Figur erwähnt, der wir in kursiv gesetzter Schrift dann und wann folgen, einem Kind, das unter Drogen gesetzt irgendwo in Berlin in einem Verschlag sein Leben fristet und 14 Jahre keine Schule von innen gesehen hat.

Eine Fährte, eine Fährte!

Dieser Fall, dieser Roman ist spannend gewoben, fürwahr – und man darf nicht mehr erzählen, um nicht Gefahr zu laufen, zu viel zu verraten. Sie wollen wissen, was es mit dem titelgebenden weißen Affen auf sich hat? Eine Fährte, eine Fährte. Wie so viele!

Die Zeit der Goldenen Zwanziger findet seit einigen Jahren wieder zurück in die heutige Kultur. Maßgeblichen Anteil daran hat Volker Kutscher mit seinen Romanen um den Kriminalkommissar Gereon Rath. Ihm folgten etwa eine ebenso lesenswerte Graphic-Novel-Bearbeitung von Arne Jysch sowie die gefeierte Serien-Adaption „Babylon Berlin“. Kerstin Ehmers Krimi sollte man jedoch nicht als kleinen Nachen sehen, der im Fahrwasser von Kutschers Romanen im Landwehrkanal dümpelt. „Der weiße Affe“ schlägt seine ganz eigenen Wellen. So sehr, dass wir am Ende nur hoffen und bitten, dass Ariel Spiro zurückkommen möge und „Der weiße Affe“ der phänomenale Auftakt einer neuen Krimi-Reihe ist. Darauf einen Charleston!

Kerstin Ehmer: Der weiße Affe, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2017, 280 Seiten, broschiert, 17 Euro, ISBN 978-3865325846, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

„Sie rümpfen die Nase über uns“ – Sexarbeit im Porträt

Halbe Stunde„Früher konnte ich mich auch mal ausruhen, aber jetzt muss ich immer stehen und kucken, ob die Polizei kommt“, sagt Faghira. Sie ist 23 Jahre alt und arbeitet in einem Stundenhotel im Hamburger Stadtteil St. Georg. Die Fotografin Tanja Birkner hat sich dort drei Jahre lang mit Menschen aus der Prostitution getroffen und sie interviewt. Daraus ist das überzeugende Fotoprojekt „Halbe Stunde“ entstanden, eine Sammlung aus nahe gehenden Porträts in Text und Foto, vorurteilsfrei, respektvoll und nie voyeuristisch. Zunächst war es nur eine Ausstellung, jetzt sind die sensiblen Porträts auch als Buch erschienen.

Faghira heißt nicht wirklich Faghira. Es stimmt aber, dass sie aus Bulgarien kommt, dass sie erst seit zwei Jahren in Hamburg ist, und dass sie nicht nur in einem Stundenhotel arbeitet, sondern auch dort wohnt. Sie hat keine Papiere, denn dazu braucht sie eine Adresse, eine Wohnung. Dafür aber hat sie kein Geld, denn das wenige, das sie verdient, gibt sie für Verpflegung und ihr Zimmer aus. 40 Euro kostet das pro Tag. „Ich finde diese Arbeit nicht gut, aber ich weiß keine andere“, sagt sie.

Tanja Birkner hat ihr Gesicht von der Seite fotografiert. Hinter den langen dunklen Haaren lassen sich Mund und Nase erahnen, in der Hand hält Faghira eine Zigarette. Zwei Seiten weiter steht sie auf einer hölzernen Hängebrücke eines leeren Kinderspielplatzes, dem Betrachter hat sie den Rücken zugewandt. Das nächste Foto zeigt Faghiras Arbeitsplatz: Ein karges Zimmer, ein quadratisches Bett mit rosa Laken, darüber ein kleineres, weißes Laken, darauf ein rosa Handtuch. Am Kopfende ein aufgestelltes, weiß bezogenes Kissen, am Fußende eine Schachtel mit Taschentüchern. Links und rechts ein Nachttisch.

„Ich wusste, alles ist besser als zu Hause“

In „Halbe Stunde“ kommen die Porträtierten selbst zu Wort. Es ist nicht Tanja Birkner, die über sie schreibt, sondern die Menschen erzählen in der Ich-Form von ihrem Leben, ihrer Arbeit, ihren Wünschen und Ängsten sowie von ihrem Blick auf die Welt. So lernt man auch Mariam kennen, die beschreibt, wie sie mit 15 Jahren nach St. Georg gekommen ist, geflüchtet aus einer Familie, in der beide Elternteile schwere Alkoholiker waren. „Ich wusste, alles ist besser als zu Hause. Ich bin dann direkt in die Szene.“ Sie nimmt Drogen, ihr Leben klettert auf und ab, sie infiziert sich mit HIV.

Um sie herum hat sich die Prostitution verändert. Der Hamburger Senat erklärte St. Georg im Jahr 1980 zum Sperrbezirk. Straßenprostitution ist dort nicht mehr erlaubt. Wer dennoch von der Polizei erwischt wird, muss heute mit Bußgeldern von mindestens 200 Euro rechnen. Seit 2012 gilt ein zusätzliches Kontaktverbot. Seitdem kann die Polizei auch die Freier empfindlich bestrafen. Die Folge: Viele bleiben weg, die Preise sinken, das Arbeitsumfeld für die Prostituierten wird schwieriger und gefährlicher. Derweil wandelt sich auch der Stadtteil, der Hansaplatz wird renoviert, immer mehr neue Wohnungen entstehen. Mariam sagt: „Die Stundenhotels sind in Wohnungen umgewandelt worden, und die neu Hinzugezogenen rümpfen die Nase über uns.“

In ihrer Freizeit geht Mariam gerne ins Gewächshaus im Park Planten und Blomen, sie liest dort oder spielt mit ihrem Gameboy. „Im Gewächshaus gibt es eine Agave, die wächst aus dem Dach. Sie ist jetzt vierzig Jahre alt, wird diesen Sommer blühen und dann sterben“, erzählt sie. Mariam ist nicht mehr Vierzig geworden. Birkner notiert am Ende des Porträts: „Mariam starb im Januar 2015 an den Folgen ihrer Erkrankung.“

Veröffentlichung im Sinne der Beteiligten

Alle Porträtierten haben ihre Texte gegengelesen und konnten sie auch noch ändern, bevor sie veröffentlicht wurden. Auch bei den Fotos gab es ein Mitspracherecht. „So konnte ich sicher sein, dass die Veröffentlichung im Sinne der Beteiligten und der Idee des Projektes ist“, erklärt Tanja Birkner auf Anfrage von Seitengang. Voraussetzung für die Auswahl der porträtierten Menschen sei zunächst ein erstes Gespräch gewesen, in dem über die Idee, Zweifel und die Tragweite des Projektes gesprochen worden sei. „Dafür brauchte es dann manchmal auch die Unterstützung von Sozialpädagogen oder Dolmetschern.“

„Halbe Stunde“ ist konzeptionell hervorragend gestaltet. Auffällig ist zunächst der nur leicht durchsichtige Schutzumschlag, der die Farben des darunter liegenden Fotos abschwächt und ins Diffuse stellt. Wer den Band dann öffnet und zum ersten Porträt blättert, entdeckt auf der rechten Seite ein erstes Foto, auf der linken Seite nur den Namen, das Alter und ein Zitat. Darunter verweist eine Seitenzahl auf das Gesagte, das sich stets im hinteren Teil des Buches finden lässt. So gerät man unweigerlich in andere Fotos und andere Porträts, bevor man schließlich das Gesuchte liest. Von dort zeigt ein weiterer Seitenhinweis an, von welcher vorderen Seite man denn nun gekommen ist. Oder auf welcher Seite die Fotos zum Gesagten stecken, falls man sich vorher von anderen Worten hat ablenken lassen.

Man sollte sich, wie für einen Galeriebesuch, Zeit nehmen. Denn der Leser hält nicht nur eine beeindruckende Fotoausstellung in den Händen, sondern vor allem 16 Lebensgeschichten. Darunter sind zum einen die Zeugnisse der Frauen und Männer aus der Armutsprostitution, aber auch Tamara, Inhaber des Gay-Clubs „La Strada“, stellt seine Sicht dar. Oder der 23-jährige Jan, der als Escort arbeitet. Oder auch die selbstbewusste Domina Undine de Rivière, die das Prostitutionsgesetz zum Thema macht. Hier verändert sich auch die Wortwahl. Statt des Begriffs „Prostituierte“, der sich für manch einen so gut in Schubladen stecken lässt, sagt sie „Sexarbeiterinnnen“ und „Sexarbeiter“: „Wir wollen, dass unsere Arbeit anerkannt wird, was sie offiziell leider immer noch nicht ist.“ Nach wie vor fehle es an der gesellschaftlichen und politischen Anerkennung, stattdessen würden „verschiedene Seiten das Ganze am liebsten kriminalisieren“.

Intensive Auseinandersetzung

Wie sieht Tanja Birkner selbst inzwischen die Prostitution, vor allem die Armutsprostitution? „Durch die intensive Auseinandersetzung ist mir die Komplexität des Themas bewusst geworden“, erklärt sie gegenüber Seitengang. „Deshalb war es mir wichtig, möglichst viele unterschiedliche Facetten von Prostitution zu zeigen, wie zum Beispiel männliche und weibliche Prostitution, selbstbewusste Prostitution und auch Armutsprostitution, ohne zu bewerten oder zu stigmatisieren.“

Dass die Arbeit an der Porträtserie mitunter sehr schwierig war, es auch Einbrüche und Hindernisse gab, verhehlt sie nicht: „Es gab viele Momente, in denen ich kurz davor stand, das Projekt abzubrechen, weil es sich schwierig gestaltete – auch auf Grund des Kontaktverbots in St. Georg, das durch eine hohe Polizeipräsenz im Stadtteil durchgesetzt wird.“ Das sei keine gute Voraussetzung gewesen, Menschen dazu zu bewegen, über ihre Arbeit als Prostituierte zu erzählen und sich porträtieren zu lassen. „Einige der Menschen habe ich über den gesamten Zeitraum hinweg ein Stück weit begleitet und sie mich.“ Manche habe sie am Anfang getroffen, dann wieder aus den Augen verloren und nach zwei Jahren wieder getroffen. Andere seien am Anfang unsicher gewesen und hätten Zweifel gehabt, ob sie sich am Projekt beteiligen wollen. „Im Laufe der Zeit gab es die Möglichkeit, immer wieder in Kontakt zu kommen und über Unsicherheiten zu sprechen – so hat sich die Idee immer weiterentwickelt und auch die Beziehungen selbst“, erzählt sie.

Gestoßen ist sie auf das Thema schon deshalb, weil die Prostitution in Hamburg so sichtbar sei und mitunter sogar als Werbung für die Toleranz und Freizügigkeit der Stadt diene. „Aber Klischees und Mythen erschweren einen vorurteilsfreien Blick auf die Menschen, die sich prostituieren“, sagt Birkner. „Es gibt wenig Bilder, die von den Menschen selbst erzählen und die die Vielschichtigkeit des Themas beleuchten. Im Rahmen meines Projekts ging es mir genau um diese Vielschichtigkeit.“

Faible für Porträtserien

Tanja Birkner hat ein Faible für Porträtserien. Zuletzt hat sie sich im Projekt „Kleine Freiheit“ mit der Parallelstraße der Großen Freiheit in Hamburg beschäftigt und die Betreiber von alten Handwerksbetrieben und neuen Kreativschuppen porträtiert. Davor zeigte sie in „Xpac“ junge Flüchtlinge, die im Hamburger Stadtteil Billstedt leben, einem sozialen Brennpunkt der Stadt. Und 2004 fotografierte sie junge Frauen aus unterschiedlichen Kulturen mit und ohne Kopftuch. Dazu schreibt sie auf ihrer Webseite: „Die Portraits geben keinen eindeutigen Aufschluss über persönliche und kulturelle Hintergründe der Frauen. Dies soll so sein, um eine möglichst große Vielfalt an Bedeutungen – fern von Festlegungen – sichtbar zu machen.“

Eine möglichst große Vielfalt an Bedeutungen, die zeigt Birkner auch in „Halbe Stunde“. Fernab aller Klischees und Vorverurteilungen, stattdessen behutsam und mit Respekt. Ein Glossar klärt zudem über die wichtigsten Begriffe, Orte und Bars auf, die in den Texten erwähnt werden. Das ist hervorragend gemacht! Die Ausstellung ist weiterhin buchbar, und ihr ist zu wünschen, dass auch andere Galerien noch darauf aufmerksam werden und bereit sind, das Projekt zu zeigen.

Tanja Birkner: Halbe Stunde, Sieveking-Verlag, München, 2015, 160 Seiten, 75 Abbildungen, broschiert mit Schutzumschlag, 35 Euro, ISBN 978-3944874289, Sichtprobe, Webseite der Fotografin, Video-Trailer zum Fotoprojekt

Seitengang dankt dem Sieveking-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Die verrätselte Frau und der Schurke im gelben Pullover

Roses Lächeln„Roses Lächeln“ war eigentlich eine Fortsetzungsgeschichte. Im digitalen Comic-Magazin „Professor Zyklop“, das im deutsch-französischen Kulturkanal Arte einen Unterstützer hat, erschienen die einzelnen Folgen. Jetzt gibt es alle Teile der Serie von Sacha Goerg in einem handgeletterten Sammelband beim Berliner Reprodukt-Verlag. Der zu Herzen gehende Graphic-Novel-Thriller schafft damit den Sprung in die analoge Welt. Zu Recht, muss man sagen, denn erst als Buch kann er zum Pageturner werden, und erst als Buch lässt er sich mit allen Sinnen erleben.

Goergs Held heißt Desmond, er ist 32 Jahre alt und hat nicht nur seinen Job verloren, sondern ist auf dem besten Wege, auch noch seinen einzigen Sohn Theo an seine Ex-Frau zu verlieren. Die hat sich nach acht Jahren von ihm getrennt und sich gleich einen neuen Mann geangelt. Desmond wird nun das Gefühl nicht los, dass seine Ex-Frau alles dafür tut, dass er seinen Sohn nicht mehr zu Gesicht bekommt.

So ist es nicht gerade sein Glückstag, als Desmond Theo von der Schule abholen will, dort aber nur erfährt, dass seine Ex-Frau ihm schon zuvorgekommen ist. Es schneit, und die Freitreppe vor der Schule ist so spiegelglatt, dass Desmond ausrutscht und sich ordentlich auf den Rücken legt. Der Wind reißt ihm das Foto seines Sohnes aus der Hand, und als er dem durch die Luft wirbelnden Andenken hinterherstürmt, prallt er mit einer fremden Frau zusammen: Rose. Sie entpuppt sich als eine eigentümliche, mysteriöse Person. Die Lösungen der Rätsel, die sie umgeben, halten einige Überraschungen bereit. Eines der Geheimnisse, die es zu lüften gilt, hängt mit der Reliquienjagd eines alternden Industriellen zusammen. Er verfolgt Rose unerbittlich und bringt damit auch Desmond und den kleinen Theo in Gefahr.

Fantastisch gelöst

„Roses Lächeln“ ist ein toll gezeichneter Thriller für die kalten Tage des Jahres. Panelrahmen werden durch Goergs Aquarellzeichnungen völlig überflüssig – das ist hier fantastisch gelöst. Zudem wechselt er immer wieder zu freigestellten Szenen, die die dargestellten Personen noch eindringlicher ins Blickfeld rücken. Manchmal sind die Figuren etwas klischeehaft, aber das stört überhaupt nicht, denn ansonsten haben sie ganz nachvollziehbare Ecken und Kanten. Gelungen sind vor allem die Charaktere Desmond, Rose sowie der gelbe Pullover tragende, homosexuelle Großindustrielle, der vor nichts zurückschreckt.

Sacha Goerg, 1975 in Genf geboren, hat den belgischen Autorenverlags „L’Employé du Moi“ mitbegründet und ist in Deutschland auch als einer der Zeichner der Graphicnovela „Sechs aus 49“ (als Buch bei Schreiber & Leser) bekannt geworden. „Roses Lächeln“ dürfte den Belgier nun noch bekannter machen – es wird Zeit, dass er nachlegt.

Sacha Goerg: Roses Lächeln, Reprodukt Verlag, Berlin, 2015, 102 Seiten, broschiert, 20 Euro, ISBN 978-3956400681, Leseprobe

Seitengang dankt dem Reprodukt-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

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