Zurück in die Zeitung

Kennen Sie noch das Videospiel „Paperboy“ aus den späten 1980er bis frühen 1990er Jahren? Man steuerte einen US-amerikanischen Zeitungsjungen auf einem BMX und musste möglichst alle Abonnent*innen einer Straße mit Zeitungen beliefern, natürlich im hohen Bogen vom Fahrrad aus. Punktabzüge gab es für eingeworfene Scheiben oder falls Zeitungsbesteller*innen leer ausgingen. Die Spielfigur damals war ein Junge, aber natürlich gibt es auch Mädchen und Frauen in dem Job. Vier ganz besonderen Papergirls haben der Autor Brian K. Vaughan und Zeichner Cliff Chiang eine sechsteilige Comic-Serie gewidmet, die nun auch in einer Gesamtausgabe erschienen ist. Fans der 1980er Jahre, von BMX; Walkie-Talkies, Zeitreisen und Außerirdischen, die nach Hause telefonieren wollen; sollten ihren Walkman mal zur Seite legen und die „Paper Girls“ zur Hand nehmen. Und: Richtig, es gibt auch eine Serienadaption davon.

Es ist 4.40 Uhr am sogenannten Höllen-Morgen des Jahres 1988, der Morgen nach Halloween, wenn auf den Straßen die letzten angetrunkenen Nachtschwärmer und Halbstarken unterwegs sind und die Stadtreinigung die Reste vom Feste noch nicht beseitigt hat. Um diese Zeit machen sich die Zeitungsbot*innen des Cleveland Preserver auf den Weg, um in Stony Stream, einem fiktiven Vorort von Cleveland (Ohio), die Zeitungen in die Vorgärten und bestenfalls auf die Fußmatten zu werfen. Zum ersten Mal ist auch die zwölfjährige Erin Tieng dabei und gerät im Morgengrauen gleich an ein Trio pubertärer Dumpfbacken.

Doch die Nacht ist noch nicht vorbei

Hilfe ist unterwegs, denn auch die drei Mädchen Mac, KJ und Tiff radeln mit Zeitungen durch die Straßen. Ganz besonders Mac ist nicht auf den Mund gefallen, sie vertreibt die Jungs und nimmt Erin in ihre Obhut. Doch die Nacht ist noch nicht vorbei, und der Zusammenprall mit den Jungs nur ein laues Lüftchen gegen das, was sich bisher unerkannt in ihrer Stadt zusammenbraut.

Nur wenig später werden zwei der Mädchen von drei Typen in seltsamen Geisterkostümen überfallen, zu viert nehmen die „Paper Girls“ die Verfolgung auf. Ob es wieder die Halbstarken sind, die sich für ihre Schmach rächen wollen? Die Mädchen vermuten das Versteck im Keller eines Hauses, entdecken dort jedoch keine Menschenseele, sondern eine Maschine oder ein Gerät, das wie eine alte Apollo-Kapsel aussieht.

Der Strom fällt aus, Taschenlampen funktionieren nicht mehr, und der Himmel über der Stadt leuchtet mit einem Mal in bunten Farben. Das Polarlicht ist nichts dagegen. Als schließlich noch Flugsaurier am Himmel auftauchen, flüchten die Mädchen zu Macs Eltern. „Mein Dad hat ne Knarre“, sagt Mac. Und mit Knarren, das wissen Amerikaner*innen, kann man alle Probleme lösen. Durch ein Missgeschick fängt sich Erin eine Kugel ein, und da auch das Telefon natürlich nicht mehr funktioniert, Macs Stiefmutter durch ihr Alkoholproblem fahruntüchtig ist, ist die tapfere Mac wieder die einzige, die sie aus diesem Schlamassel rausholen kann.

Begegnung mit den eigenen Ichs

Sie meinen, jetzt wäre die ganze Geschichte schon erzählt? Weit gefehlt – das war erst der Anfang dieser wahnwitzigen sechsbändigen Reihe um die vier „Paper Girls“. Thematisch bleibt es nicht bei Flugsauriern und Apollo-Kapseln, sondern – und das ist nicht zu viel verraten – die vier Mädchen geraten im weiteren Verlauf in eine kosmische Auseinandersetzung von zwei Zeitreise-Gruppen und begegnen ihren eigenen Ichs in unterschiedlichen Zeiten.

Ein älterer Schüler sagt im ersten Band der Reihe: „Ich bin wohl ganz schön high.“ Anders lässt sich das vermutlich nicht erklären, was der US-amerikanische Erfolgsautor Brian K. Vaughan („Saga“, „We stand on guard“, Drehbuch-Mitarbeit für die TV-Serie „Lost“, Autor für die TV-Serie „Under the Dome“) hier an Ideen auffährt. Manch einem mag das etwas überfrachtet vorkommen, auf einer Länge von 800 Seiten aber haben alle Neben-und Haupt-Erzählstränge ausreichend Platz, allen voran auch die ausgeklügelten Figurenzeichnungen der vier Mädchen, die sich mit einer Vielzahl von Themen beschäftigen: Freundschaft, Queerness, Tod, Liebe, People of Colour, Holocaust, Videospiele, Zeitreisen, Rich Kids, Armut, Alkoholismus. Teilweise geht es heftig zur Sache.

Stimmungsvolle Retro-Kolorierung

Cliff Chiang fängt das Gefühl der 1980er Jahre, diese wunderbare Nostalgie, zeichnerisch hervorragend und authentisch ein, auch in der Optik der Personen. Referenzen allerdings setzt er dezent ein, was raffiniert ist, weil es die Story nicht stört. Die stimmungsvolle Retro-Kolorierung durch Matt Wilson tut das Übrige zum optischen Gelingen dieser Reihe, die sich geradezu liebevoll um ihre Protagonist*innen kümmert, um ihnen den perfekten Boden für ihre eigene Geschichte zu bereiten. 2016 wurde die Reihe mit den renommierten Eisner-Awards für die „Beste neue Serie“ und Chiang als „Bester Zeichner“ ausgezeichnet.

Im Sommer 2022 veröffentliche der Streaming-Dienst „Amazon Prime Video“ schließlich die acht Episoden lange erste Staffel der Serien-Adaption von „Paper Girls“. Nur um wenige Wochen später zu verkünden, dass es keine weiteren Staffeln der Serie geben werde. Vermutlich gingen die „Paper Girls“ in der fetten Marketing-Kampagne zu „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ einfach unter. Ein wenig Hoffnung besteht noch, dass das co-produzierende Studio „Legendary Television“ einen anderen Streaming-Dienst findet, der die verrückte Zeitreise fortsetzen möchte. Mit Kindern auf Fahrrädern in den 80er Jahren kann man in Büchern und Filmen ja eigentlich nie etwas falsch machen.

„Paper Girls“ hebt diese einfache Formel auf ein geniales neues Level: Es ist eine intelligente, herrlich komische, feministische und sehr unterhaltsame Coming-of-Age-Geschichte, die deutlich macht, wie schön die Kindheit sein könnte, wenn nicht die Erwachsenenwelt ständig in sie hineinbräche. Unbedingt lesen!

Brian K. Vaughan: Paper Girls 1, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959811408
Brian K. Vaughan: Paper Girls 2, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959814102
Brian K. Vaughan: Paper Girls 3, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959815611
Brian K. Vaughan: Paper Girls 4, Cross Cult, Ludwigsburg, 2018, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959817677
Brian K. Vaughan: Paper Girls 5, Cross Cult, Ludwigsburg, 2019, 152 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959818261
Brian K. Vaughan: Paper Girls 6, Cross Cult, Ludwigsburg, 2019, 128 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959818261
Brian K. Vaughan: Paper Girls – die komplette Geschichte, Cross Cult, Ludwigsburg, 2022, 800 Seiten, gebunden, 99 Euro, ISBN 978-3966588720
Brian K. Vaughan: Paper Girls – die komplette Geschichte, Cross Cult, Ludwigsburg, 2022, 800 Seiten, Taschenbuch, 60 Euro, ISBN 978-3966589963

Buch Wien: Einst mondäne Kurorte, das Böse in Hundewelpen und Comic-Tipps

Ein Besucher der „Buch Wien 2021“ © LCM / Nicola Montfort

Der Samstag ist immer mein letzter Messetag bei der „Buch Wien“, weil ich schon am Sonntag die lange Zugfahrt nach Hause antrete. In diesem Jahr habe ich am Samstag noch zwei Lesungen besucht und außerdem Sebastian Broskwa vom Wiener Comic-Buchladen „Pictopia“ einen Besuch abgestattet.

Den Anfang machte David Schalko. Der österreichische Schriftsteller und Regisseur ist bekannt geworden mit seinem Fernsehformat „Sendung ohne Namen“ und ist auch den Serienjunkies ein Begriff, nachdem 2019 seine Mini-Serie „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ (ein Remake des berühmten Fritz-Lang-Films) ausgestrahlt wurde (sehenswert übrigens!). 2018 hatte Schalko seinen letzten Roman „Schwere Knochen“ bei der „Langen Nacht der Bücher“ in Wien vorgestellt. Der aktuelle Roman, der schon am 14. Januar 2021 erschienen ist, trägt den Titel „Bad Regina“.

Der Verlag fasst das Buch so zusammen: Nur noch 46 Menschen leben in Bad Regina, einem einst glamourösen Touristenort in den Bergen, starren auf die Ruinen ihres Ortes und schauen sich selbst tatenlos beim Verschwinden zu. Denn ein mysteriöser Chinese namens Chen kauft seit Jahren für horrende Summen ihre Häuser auf – nur um sie anschließend verfallen zu lassen. Als er auch noch das Schloss des uralten örtlichen Adelsgeschlechts erwerben will, entschließt sich Othmar, der von Gicht geplagte ehemalige Betreiber des berühmtesten Partyklubs der Alpen, herauszufinden, was es mit diesem Chen auf sich hat und was dieser mit Bad Regina vorhat. Dabei erleben Othmar und die verbliebenen Einwohner eine böse Überraschung.

„Und ich bin immer wieder in diese leeren Häuser eingestiegen“

„Die Ähnlichkeiten mit Bad Gastein sind natürlich rein zufällig“, sagte Schalko gleich zu Beginn zum Publikum und lachte. Dann erzählte er, dass er mit seiner Familie mehr als 15 Jahre in Bad Gastein Urlaub gemacht habe. „Und ich bin immer in diese leeren Häuser eingestiegen.“ Der österreichische Ort Bad Gastein war wie Bad Regina einst ein mondäner Kurort für die gehobenen Gesellschaftsschichten und hat (wie Bad Regina) einen steilen Abstieg hinter sich. Hotels und Gebäude im historischen Kern stehen leer und verrotten zunehmend, ein Wiener Immobilien-Unternehmer kaufte einige der Gebäude, sanierte sie aber nicht, sondern überließ sie weiter dem Verfall.

„Da steht natürlich auch eine Kulturmetapher hinter“, erklärte Schalko, „aber ich würde es nicht metaphorisch lesen, auch wenn der Klappentext das vorgibt – das ist Verlagsmarketing.“ Beim Schreiben des Romans habe es ein starkes Grundkonstrukt gegeben, das viel mit der Legende zu tun habe, die es auch über Bad Gastein gibt: Dass ein Mann alles kauft und es verrotten lässt. Wichtiger seien ihm aber die Figuren gewesen, für deren Schrullen und Eigenarten Schalko immer einen scharfen Blick beweist. „Alles, was auf den ersten Blick nach Klischee aussieht, entpuppt sich bald als etwas anderes.“

Eine der Besonderheiten von Bad Regina ist, dass es in diesem Ort alles nur noch einmal gibt: „Zum Beispiel nur eine Single-Frau und einen Single-Mann, und es gibt auch nur noch ein Kind – das hat dann die Spielplätze ganz für sich allein, besonders trostlos im Winter.“ Es sei eine Art Robinsonade, befand Schalko.

„Mit einer kulturellen Überlegenheit hausieren gehen“

Moderator Günter Kaindlstorfer sagte, im „Schalkoversum“ seien die Figuren nie normal, sondern immer seltsam, traurig, komisch und dem Untergang geweiht. „Aber das ist ja Naturalismus!“, scherzte Schalko. Das Sujet selbst, der mondäne Kurort, sei ja schon häufig strapaziert worden. Unweigerlich denke man natürlich an Thomas Manns „Zauberberg“. Und hier sei das jetzt ins 21. Jahrhundert gesetzt worden. Das Problem aber sei, sagte Schalko, dass „wir mit einer kulturellen Überlegenheit hausieren gehen und gerne zurückschauen – das ist nostalgisch, aber nicht gegenwärtig“.

Kaindlstorfer wollte dann wissen, wo auf der Welt noch aufregende Trends passieren. Schalko: „Kunst entsteht dort, wo länger ein Vakuum war – dass zum Beispiel Südkorea jetzt plötzlich bei den TV-Serien („Squid Game“) der Renner ist, hätte doch vorher niemand vermutet. Ob es aber nochmal solche kulturellen Umwälzungen geben wird wie im 20. Jahrhundert, halte ich für fraglich.“ Dennoch gebe es natürlich noch die kulturellen Hotspots in Berlin, Paris oder New York.

Am Ende der Lesung wollte Kaindlstorfer noch ein Assoziationsspiel mit Schalko spielen. Er solle einfach spontan auf die Fragen antworten, darunter diese beiden: Dieses Buch lese ich als nächstes: „‚Die Dinge‘ von Georges Perec lese ich wieder, weil ich für mein nächstes Buch recherchiere.“ Und: Welche Assoziationen bestehen zu Alexander Schallenberg, seit dem 11. Oktober 2021 österreichischer Bundeskanzler (ÖVP)? „Man hat immer das Gefühl, dass das im Schwarzweiß-Fernsehen besser aufgehoben wäre.“

David Schalko: Bad Regina, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2021, 400 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3462053302, Leseprobe

Überraschend, brutal und poetisch“

Uli Brée liest aus seinem Roman vor, Moderatorin Esther Csapo hört zu.

Die zweite Lesung, die ich am Samstag besucht habe, war die von Uli Brée. Der 1964 in Dinslaken geborene deutsch-österreichische Drehbuchautor, Regisseur, Schauspieler und jetzt auch Schriftsteller las auf der „Buch Wien“ aus seinem ersten Roman vor. Aufmerksam geworden bin ich darauf, weil ich beim Messestand des Amalthea-Verlags zufällig zu diesem Buch gegriffen und die erste Seite verschlungen habe. Deshalb wollte ich gerne mehr aus und zu dem Buch hören.

Uli Brée ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Drehbuchautoren. Er hat Drehbücher für diverse „Tatort“-Folgen des Teams Moritz Eisner/Bibi Fellner geschrieben und ist bekannt für seine österreichische TV-Serie „Vorstadtweiber“. Im Wiener Amalthea-Verlag ist jetzt „Du wirst mich töten“ erschienen. Für den Verlag ist er „ein verstörender und zugleich feinsinniger Roman voll dunkler Geheimnisse, greller Albträume und tiefer Abgründe: überraschend, brutal und poetisch“.

Der Inhalt laut Verlag: Seit Tabata Goldstaub als Mädchen ins Grab ihrer ermordeten Mutter gefallen ist, verfolgen sie dunkle Ohnmachten. Jahre später wird sie Polizistin: eine unkonventionelle Einzelgängerin, die stets an ihre Grenzen geht. Als die junge Frau in eine Mordserie verwickelt wird, steht plötzlich alles auf dem Spiel – auch das Leben ihres ungeborenen Kindes, das ihre einzige Hoffnung ist, endlich wieder etwas zu empfinden. Tabata ahnt nicht, dass ihr der Mörder näher ist, als sie denkt und dass ihre Schicksale auf fatale Weise miteinander verknüpft sind.

Wanderschuh und Stöckelschuh

Was der Unterschied zwischen Drehbuchschreiben und Romaneschreiben für ihn sei, möchte Moderatorin Esther Csapo zunächst von Brée wissen. Der antwortet, das sei wie der Unterschied zwischen Wanderschuh und Stöckelschuh, wobei ein Roman letzteres sei. „Beim Drehbuch schreibe ich eine Art Gebrauchsanweisung, aber die Bilder entstehen erst durch die Kameraleute und die Regie; beim Roman muss man die Bilder selbst schaffen – und das gefällt mir, ich liebe es, Bilder entstehen zu lassen.“ Gleich auf der ersten Seite ist ein solches Bild, das sich einprägt wie gefilmt (s. Leseprobe unten): Tabata Goldstaub fällt in das offene Grab ihrer Mutter, und für die Trauergäste schaut es so aus, als umarme sie ein letztes Mal ihre Mutter und wolle sie nicht gehenlassen.

Ihm sei es wichtig gewesen, gleich stark in den Roman einzusteigen. Er folge da deshalb den zehn goldenen Regeln des österreichischen und später US-amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Billy Wilder („Manche mögen’s heiß“) für gutes Filmemachen. Die erste Regel lautet: „The audience is fickle.“ („Zuschauer sind launisch.“) Die zweite Regel: „Grab ’em by the throat and never let ’em go.“ („Pack sie an der Gurgel und lass sie nicht mehr los.“)

In seinem Roman gehe es auch um die immer wieder gestellte Frage, woher das Böse im Menschen kommt? Ist das angeboren oder entwickelt es sich? „Wir haben vor einiger Zeit einen Hund bekommen, einen Welpen, ein sonniges, fröhliches Hundekind, das noch nie etwas Böses erlebt hat – man kommt nicht als böse auf die Welt, sondern wird das erst durch Prägung mit dem Bösen.“ In seinem Buch gebe sich der Böse dem Bösen hin, und dennoch suche er doch genauso wie die Hauptfigur nur die Liebe.

Braucht es kriminelle Energie?

Von einem Journalisten sei er mal gefragt worden, ob er für sein Schreiben eine kriminelle Energie brauche. Das habe er verneint. „Ohne überheblich klingen zu wollen: Wenn mein Talent es hergibt, dann ist das doch toll“, sagte er. Ob aus dem Buch auch etwas Filmisches entstehen wird, wollte Brée nicht so recht beantworten. Zum Buch gibt es einen hochwertigen Trailer mit der österreichischen Schauspielerin Ruth Brauer-Kvam (s. unten), „und ich habe auch den Gedanken, daraus vielleicht eine düstere Netflix-Serie zu machen“. Mehr aber wollte er nicht verraten.

Zum Schluss erklärte er noch, warum er stets von sich behauptet, eine „österreichische Seele“ zu haben, obwohl er doch ursprünglich aus dem Ruhrgebiet stammt: „Ich bin zufällig in Deutschland geboren, aber der österreichische Humor ist mir lieber als der nicht-existente deutsche Humor.“

Uli Brée: Du wirst mich töten, Amalthea-Verlag, Wien, 2021, 288 Seiten, gebunden, inklusive Hörbuch-Download, 25 Euro, ISBN 978-3990502068, Leseprobe, Buchtrailer

Die Graphic-Novel-Tipps

Abschließend ging es für mich zum „Pictopia“-Messestand, um von Sebastian Broskwa neue Graphic-Novel-Tipps zu bekommen. Sebastian hatte bei der „Buch Wien“ im Jahr 2013 bei mir den Grundstein für mein Interesse an Graphic Novels gelegt. Ich hatte damals nur eine einzige gelesen (Nine Antico „Coney Island Baby“), als mir Sebastian bei der Buchmesse Charles Burns‘ „Black Hole“ empfahl. Seitdem lese ich immer wieder gerne Graphic Novels und habe auf meinem Blog einen eigenen Bereich dafür.

In diesem Jahr hatte er gleich so viele Empfehlungen, dass ich nur zwei von ihnen mitnehmen konnte (leider nur begrenzter Platz im Koffer, da ich ja auch noch ein paar andere Bücher gekauft habe): zum einen Nicolas Mahlers Literaturadaption „Schwarze Spiegel“ (Suhrkamp Verlag) nach Arno Schmidt, die ich mir von einem glücklicherweise am Messestand anwesenden Mahler auch gleich habe signieren lassen, sowie Jacques Tardis „Burma“, eine Neuedition von vier Kurzgeschichten aus der Feder von Leo Malet. Die anderen Tipps von Sebastian waren: „Ich, der Verrückte“ von Antonio Altarriba (dem Nachfolger von „Ich, der Mörder“), „Yoshios Jugend“ von Yoshiharu Tsuge, „Goldjunge: Beethovens Jugendjahre“ von Mikael Ross, „The Artist: Ode an die Feder“ von Anna Haifisch sowie „Celestia“ von Manuele Fior.

Die „Buch Wien 2021“ endet damit für mich. Ich werde in rund einer Woche ein Fazit schreiben, wenn sich die Eindrücke aus den vergangenen Tagen ein wenig gesetzt haben. Weitere Rezensionen sind außerdem bereits in Vorbereitung. Es wird also nicht langweilig.

Wer nochmal nachlesen will, was ich bisher so über die „Buch Wien“ geschrieben habe, folgt diesem Link, wer nur die Berichte aus 2021 lesen möchte, folgt diesem Link.

Nazis klatschen

Als der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger (CDU) im Dezember 1966 deutscher Bundeskanzler wird, schreibt der Philosoph Karl Jaspers: „Dass aber ein ehemaliger Nationalsozialist nun die Bundesrepublik regiert, bedeutet: nunmehr gilt es als gleichgültig, einst Nationalsozialist gewesen zu sein.“ In Paris fragt eine Frau ihren Mann: „Serge, was können wir tun?“ Weniger als zwei Jahre später wird diese Frau Kurt Kiesinger auf einem CDU-Parteitag eine schallende Ohrfeige verpassen und ihn als „Nazi“ bezeichnen. Die Frau heißt Beate Klarsfeld, und die Ohrfeige ist der offizielle Auftakt für ihren Kampf gegen alte und neue Nazis, gegen Antisemitismus und für Israel. Die Franzosen Pascal Bresson und Sylvain Dorange haben über die Geschichte von Beate und Serge Klarsfeld einen aufschlussreichen, historischen Comic geschaffen, der endlich auch auf Deutsch vorliegt.

Das deutsch-französische Paar hat sein Leben dem Kampf gegen das Vergessen gewidmet. In der Graphic Novel sagt Serge Klarsfeld bei einem Interview: „Wir haben unsere Pflicht getan. Wir haben mit unseren militanten und aufmüpfigen Aktionen ein Beispiel für bürgerliches Engagement gegeben.“ Es gibt Filme, Bücher und natürlich allerlei Dokumentationen über sie. Ja, das Theater Osnabrück hat einen Teil ihres Lebens sogar als Oper auf die Bühne gebracht. „Beate & Serge Klarsfeld: Die Nazijäger“ ist jedoch die erste Graphic Novel über das politisch aktive Paar. Drehbuchautor Pascal Bresson und Illustrator Sylvain Dorange ist es dabei in weiten Teilen gelungen, die Ereignisse so genau wie möglich, aber auch für junge Leser*innen möglichst aufschlussreich zu erzählen. Vorlage dafür waren die Memoiren der Porträtierten.

Im Mai 1960 begegnen sich Beate und Serge das erste Mal. Beate ist Au-pair-Mädchen in Paris, Serge steht am Ende seines Politikstudiums. Als er ihr von seiner Familie erzählt, ist sie erschüttert – das Dritte Reich wurde bei ihr zu Hause totgeschwiegen. „Man machte weiter, und unter dem Schleier des Vergessens gab man ein reines Gewissen vor.“ Serge ist Jude. Seine Familie wurde in der Nazi-Zeit verfolgt, sein Vater starb im Vernichtungslager Auschwitz.

Ihre Methoden wandeln sich

Beate und Serge heiraten und nehmen sich vor, fortan die Ruhe der Alt-Nazis zu stören und sie aus ihren politischen Ämtern zu heben; ehemalige hochrangige NSDAP-Mitglieder zu entlarven, die weltweit untergetaucht sind; und jeglichen Mantel des Schweigens herunterzureißen. Ihre Methoden wandeln sich. Erst sind es Briefe an Behörden und einflussreiche Persönlichkeiten oder Artikel und Stellungnahmen in französischen Zeitungen. Dann suchen die Klarsfelds direkte Wege in die Öffentlichkeit und bringen unter anderem Flugblätter unter die Leute.

Zuletzt schrecken die beiden auch nicht mehr vor Entführungen zurück: 1971 wollen sie zum Beispiel den ehemaligen Gestapo-Chef Kurt Lischka kidnappen. In Bolivien entlarven sie das Versteck des Kriegsverbrechers Klaus Barbie, der wegen seiner Grausamkeit den Beinamen „Schlächter von Lyon“ trug. Barbie war für die Folterung und Ermordung von Mitgliedern der Résistance – unter ihnen Jean Moulin – in Südfrankreich verantwortlich. Darüber hinaus wurden ihm zahlreiche andere Verbrechen zur Last gelegt, darunter Massaker, Razzien sowie die Deportation von 44 jüdischen Waisenkindern („Kinder von Izieu“). Die Jagd nach Klaus Barbie hat 12 Jahre gedauert. Am Ende erreichen Beate und Serge, dass ihm in Lyon der Prozess gemacht wird. Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird er 1987 zu lebenslanger Haft verurteilt.

„Kino auf Papier“

Bresson und Dorange porträtieren die Klarsfelds detailliert, feinsinnig und mit Respekt. Für den Autor waren die Klarsfelds „moderne Helden“, er verfolgte ihre Spuren schon, seit er 15 Jahre alt war. Zur Entstehungsgeschichte dieser Graphic Novel erzählt Bresson dem Carlsen-Verlag, wie Beate und Serge ihm zunächst misstrauisch begegnet seien, obgleich Serge bereits Bressons Buch über die französische Holocaust-Überlebende Simone Veil kannte (bislang nicht ins Deutsche übersetzt). Dann aber habe man sich sechs Monate lang jede Woche getroffen, Serge habe sogar sein Archiv geöffnet und Bresson unveröffentlichte Fotos aus Konzentrationslagern gezeigt. Drei Jahre arbeiteten Bresson und der Illustrator Sylvain Dorange an dem Buch, bis es das war, was es nach Worten von Bresson werden sollte: „Kino auf Papier.“

Ja, es ist tatsächlich Kino auf Papier. Eine Biographie, die wie ein Thriller angelegt ist, die Zeitsprünge macht, die verlässlich und immer akribisch genau informiert, die aber auch sehr emotional ist. Insbesondere die in sepia-grau gezeichneten Rückblenden auf die Familiengeschichte der Klarsfelds gehen an die Nieren. Bedrückend sind die Momente, in denen deutlich wird, dass die alte Nazi-Riege nicht tatenlos zuschaut, wie die Klarsfelds sie hartnäckig bekämpfen. Eine Auto-Bombe bedroht das Leben der beiden, Steine zertrümmern Fensterscheiben und Droh-Anrufe rütteln am Nervenkostüm der Aktivisten.

Beate und Serge Klarsfeld überleben all das und leben auch heute noch. Ihre Geschichte kann jetzt von nachfolgenden Generationen gelesen werden, die zum Teil selbst schon die Erfahrung machen, dass Protest, Demonstrationen und das Auflehnen gegen die Tatenlosigkeit der Eltern-Generation Dinge voranbringt, ganz nach Gudrun Pausewang: Etwas lässt sich doch bewirken. Dem Engagement von Beate und Serge Klarsfeld setzt diese Graphic Novel ein modernes Denkmal, das nicht nur Sehenswürdigkeit ist, sondern unerlässlich im Kampf gegen das Vergessen, den Beate und Serge begonnen haben. Auf dass er niemals ende.

Pascal Bresson / Sylvain Dorange: Beate & Serge Klarsfeld – Die Nazijäger, Carlsen-Verlag, Hamburg, 2021, 208 Seiten, gebunden, 28 Euro, empfohlen ab 14 Jahren, ISBN 978-3551793478

Anmerkung: Empfehlenswert ist dazu der Dokumentarfilm „Die Nazijäger – Beate & Serge Klarsfeld“ aus der Reihe „Geschichte treffen“ des Senders ZDFinfo, derzeit nur abrufbar über YouTube.

„Wir haben keine Beziehung“

Die Zeiten von „Sex sells“ sind vorbei. „Sex is everywhere, chemistry isn’t.“ Uns kommt die Chemie zwischen den Menschen abhanden, wir werden oberflächlich bei der Partnersuche, swipen durch Apps, suchen uns Menschen aus, als wären wir im Supermarkt, wo die Regale nach Aussehen und sexuellen Vorlieben sortiert sind.

Das französische Zeichner- und Autoren-Duo Florent Ruppert & Jérôme Mulot schlägt mit seiner schon sechs Jahre alten, aber jetzt erst auf Deutsch übersetzten Graphic Novel „Die Perineum-Technik“ genau in diese Kerbe der heutigen Gesellschaft. Das Perineum ist übrigens die sensible Region zwischen After und äußeren Geschlechtsorganen, besser bekannt als „Damm“. Hebammen, Geburtshelfer und Schwangere kennen das Perineum als mögliche Komplikation am Ende einer Geburt, Proktologen empfehlen eine Massage, um Verstopfungen zu lösen. Die „Perineum-Technik“ aber kümmert sich nur um den Samenerguss des Mannes – oder vielmehr: verhindert ihn. Dadurch sollen auch Männer zu multiplen Orgasmen fähig sein.

Als sich der Video-Künstler JH und Sarah online zum unverbindlichen Skype-Sex treffen, sind sie von der Perineum-Technik jedoch noch weit entfernt. Ihre Wege kreuzen sich in der Dating-App „OkCupid“, einer der ältesten Kontaktbörsen im Internet. Sarah nennt sich wenig einfallsreich „sarah.hot“, JH steht ihr in nichts nach und heißt „jh.soft“. Weichspülprogramm vorprogrammiert? Von wegen!

Nutzt sein Wesen als Neunte Kunst

Die ersten acht Seiten dieser Geschichte reißen den Leser gleich in eine surreale Sequenz, die man nicht einfach überblättert. Das ist kein Comic, der nur eine Geschichte erzählt, sondern er nutzt sein Wesen als Neunte Kunst und will vom Leser aktives Mitdenken: Eine Frau und ein Mann steigen auf eine Leiter, deren Füße bedenklich nah am Abgrund eines hohen Monolithen stehen. Die beiden kippen die Leiter um, und wie sie im Fallen begriffen sind, ziehen sie sich aus und stecken einen Dolch und ein Schwert in die Seite des Monolithen, auf dass ihr Fall abgebremst wird, während sie Sex haben, um dann aus dem Panel-Rahmen zu fallen, als ein Telefon klingelt und die reale Welt die Phantasie stört.

Während sie fallen – und vielleicht ist das schon eine Anspielung darauf, wie sich Menschen bei einem vertrauten Partner mehr und mehr fallen lassen können, der Monolith und die damit einhergehende Fallhöhe also immer mächtiger werden -, sprechen JH und Sarah unpassend unaufgeregt darüber, wie gut er sie sehen kann und mit welchen Bildern im Kopf sie gewöhnlich zum Orgasmus kommt. Hier werden also auf den ersten acht Seiten mehrere Ebenen geöffnet, die viel Raum für Interpretationen lassen. In Texten liest man zwischen den Zeilen, hier aber muss man ganz klar auch zwischen den Panels lesen, denn so einiges ist mehrdeutig, und wenn nicht das, dann zumindest zweideutig.

Doch es geht in dieser Graphic Novel nicht bloß um Cybersex in seinen unterschiedlichen Extremen. JH will mehr, vor allem: mehr wissen. Und mit dem Plus an Wissen steigt auch das Interesse an Sarah und einem realen Treffen. Doch Sarah will das alles nicht. Sie will den unverbindlichen Onlinesex, JH die zwischenmenschliche und echte Beziehung. Er: „Hey, bleib doch noch kurz, nur das eine Mal.“ Sie: „Warum denn? Wir sind doch gekommen.“ Der Orgasmus als Ziel. Aber JH will reden und eine persönliche Verbindung: „Wir haben jetzt seit fast einer Woche diese Beziehung.“ Sie: „Wir haben keine Beziehung.“ Das, was sie haben, lässt sich nicht mal als Freundschaft Plus bezeichnen, denn er weiß praktisch nichts über sie, und sie nur das, was er ihr aufdrängt. Dennoch lässt sie sich eines Tages auf ein Treffen ein. Auf einen Kaffee? Ein gemeinsames Essen im Restaurant?

„Wollen Sie meine Brüste sehen?“

Weit gefehlt: er darf sie auf eine private Swingerparty begleiten – und weiß offenbar nicht annähernd, worauf er sich da einlässt. Sarah ist wesentlich erfahrener, und so sehen wir ihm mit Sarah belustigt dabei zu, wie er eine – abgesehen von ihren Stiefeln – splitternackte Frau nach der Uhrzeit fragt und pikiert ist, wie an der langen Tafel unverhohlen Geschlechtsteile entblößt werden. Auch seins. Während Sarah zwischen seinen Beinen beschäftigt ist (keine Sorge: für den Leser ist darüber das Tischtuch des Schweigens gedeckt), nimmt er Kontakt zur Tischnachbarin auf, die sich „Paris.Bitch“ nennt. Auf seine Frage, was sie „so macht“, also wieder eine Frage abseits der Sexualität, der gemeinsamen Sache, ergießt sich ein Schwall möglicher Antworten aus ihrem Mund: „Ich bin Feministin und organisiere Twerk-Workshops.“ / „Wollen Sie meine Brüste sehen?“ / „Polizistin in Marseille.“ / „Ich bin Schach-Europa-Meisterin. Ja, in dieser Liga spielen nur wenige Frauen.“ Alle Identitäten und Antworten sind möglich und sind es gleichzeitig nicht. Es ist das Wesen des unverbindlichen Sex, ob real oder online, dem Gegenüber möglichst wenig preiszugeben vom eigenen Ich. Bin ich ich oder spiele ich eine Rolle? Beim nächsten Partner kann die Antwort schon eine andere sein. Und allzuoft ist es nur Lug und Trug, denn schließlich geht es nur um das eine.

Ruppert & Mulot wissen das zeichnerisch und auf den verschiedenen Erzählebenen dicht und nachvollziehbar einzufangen. Insbesondere die Figur des JH ist hervorragend umrissen. Das große Manko dieser Graphic Novel ist allerdings die Darstellung des weiblichen Geschlechts. „Die Perineum-Technik“ nimmt einfach zu sehr den männlichen Blick ein. Je mehr die Geschehnisse aus der Online-Welt in die reale treten, desto deutlicher wird das. Die Frauen heißen „sarah.hot“ oder „paris.bitch“, was schon ziemlich schlicht ist, selbst wenn es parodisch gemeint wäre, und dienen als Hochglanz-Porno-Phantasie auf dem Weg zum trockenen Orgasmus. Frauen sind idealisierte Kopfgeburten und bloße Spielflächen für eine feuchte männliche Phantasie. Aber, und das ist kein kleines Aber: man sollte „Die Perineum-Technik“ nicht auf die unglückliche heterosexuell-männliche Sicht reduzieren, weil es trotzdem noch ein humor- und zeichnerisch kunstvolles Werk ist, das mit den Ebenen spielt und seine Vielschichtigkeit zwischen Bild und Text zu nutzen weiß.

Florent Ruppert & Jérôme Mulot: Die Perineum-Technik, Reprodukt Verlag, Berlin, 2020, 104 Seiten, Klappenbroschur, 20 Euro, ISBN 978-3956402180

Philosophie in wüsten Zeiten

imageIn seiner spanischen Heimat erschien das Buch „Odem“ des katalanischen Comic-Künstlers Max bereits 2012. Deutsche Comic-Fans mussten sich gedulden, bevor das Werk jetzt auch im Avant-Verlag aus Berlin erhältlich ist. Es erzählt hervorragend gezeichnet und mit zahlreichen philosophischen Bezügen von Nick, der in die Einsamkeit der Wüste flüchtet. Ein Buch, das man aufmerksam lesen sollte.

Nikodemus hat die Nase voll (und er hat eine ziemlich lange Nase!). Der Lärm und die Oberflächlichkeit der Welt nerven ihn vollends. Nur die Wüste erscheint ihm noch als einziger Rückzugsort, um den Sinn, den „endgültigen, unanfechtbaren Sinn, falls es den gibt“, zu finden. „Ich habe es satt, und zwar alles! Die Welt und die Menschen, die Dinge und die Ideen, die Wörter und die Bilder!“ Spricht’s und kippt rücklings in die Wüste.

Doch dass die Wüste lebt, wusste schon der Dokumentarfilmer James Algar. Und so verwundert es nicht, dass Nikodemus zunächst auf einen ziemlich grundentspannten Kater namens Moses trifft, der die Dinge gerne vereinfacht, zu allererst die Namen. So wird aus Moses Mosh und aus Nikodemus Nick – der übrigens in des Katers Augen einen ziemlichen Sonnenstich hat. Neben der wahrlich coolen Socke Mosh trifft Nick auch noch die kleptomanische Elster Juanita, einen traumdeutenden Schiffbrüchigen sowie seinen eigenen Schatten.

Die Geschichte einer Entsagung

Allerlei Ablenkungen versuchen ihn, vom rechten Weg abzubringen, und seine letzte Prüfung kommt mit der betörenden Allmacht der unnahbaren Königin von Saba. „Odem“ ist auch die Geschichte einer Entsagung, um dadurch der absoluten Wahrheit begegnen zu können. Wer Nick nicht in sein Herz schließt, hat wohl noch nie eine Sinnkrise erlebt.

Nicks Suche nach seinem spirituellen Gleichgewicht wird in wunderbar stilisierten Schwarz-Weiß-Zeichnungen erzählt und passt damit hervorragend in die klare Farblosigkeit der Wüste. Gerne wird seine klare Linie mit der des US-Comic-Erneuerers Chris Ware verglichen.

Max selbst erklärt zu Beginn des vorliegenden Buches, es sei partiell inspiriert von „The Wiggle Much“, der „einzigartigen, legendären Comicarbeit von Herbert E. Crowley“. Der frühe, sehr surreale Comic erschien zwischen März und Juni 1910 auf dreizehn halbseitigen Seiten in der New York Herald Tribune. Als Hommage lässt Max die von Crowley erfundene Figur in einem seiner Panels auftauchen.

Einer der bekanntesten spanischen Comic-Künstler

Max, mit bürgerlichem Namen Francesc Capdevila, wurde 1956 in Barcelona geboren und gilt heute als einer der bekanntesten spanischen Comic-Künstler und ist vielfach preisgekrönt. „Odem“ wurde 2013 beim internationalen Comicsalon in Barcelona als bestes nationales Werk nominiert. Auf Deutsch erschienen bereits „Der geheime Kuss“ und „Der Werwolf Punk“ beim Alpha Comic Verlag, sowie „Der lange Traum des Herrn T.“ und „Bardín der Superrealist“ bei Reprodukt.

Lesen Sie „Odem“ und erkennen Sie, dass man selbst in der Wüste nicht von Ablenkungen verschont bleibt. Sind Sie gar selbst in einer Sinnkrise, so ist „Odem“ eines dieser Bücher, die für surrealistisch-philosophisch veranlagte Menschen eine durchaus hilfreiche Lektüre sein können.

Max: Odem, Avant-Verlag, Berlin, 2016, 111 Seiten, gebunden, 24,95 Euro, ISBN 978-3945034491, Leseprobe

Seitengang dankt dem Avant-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

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