Vor vier Wochen endete die „Buch Wien“ des Jahres 2021, der Termin für die nächste Buchmesse steht bereits fest (23. bis 27. November 2022). Es wird höchste Zeit, ein Fazit zu ziehen. Laut Veranstalter bot diese Messe den mehr als 40.000 Besucher*innen ein Programm von 225 Stunden. In der Messehalle standen 12.150 Quadratmeter Ausstellungs- und Bühnenfläche zur Verfügung, in der ganzen Stadt boten 23 weitere Orte allerlei Bücher-Veranstaltungen: Lesungen, Diskussionen, Autogrammstunden.
Die Lesung habe ich in besonders guter Erinnerung behalten. Nicht nur wegen des interessanten Romans, sondern vor allem wegen der mitreißenden Art, wie die Autorin ihr Buch vorstellte. Sie lächelte, ja, lachte viel an diesem Abend beim Vorlesen – es war wunderbar, ihr die Freude am eigenen Text so deutlich anzusehen.
Der Besuch der Messehalle stand natürlich immer ganz unter dem damals aktuellen Stand der Pandemie. Österreich hatte in der Woche die 2G-Regel eingeführt, es durften nur Geimpfte und Genesene in die Halle, was an den Eingängen peinlich genau überprüft wurde. In der Halle war es erlaubt, die Maske abzusetzen, die Veranstalter wiesen aber jeweils darauf hin, dass sie eine Maske empfehlen. Am Eröffnungsabend hatte ich noch das Gefühl, dass wesentlich mehr Besucher*innen ihre Maske abnahmen, an den darauffolgenden Tagen sah man nur noch wenige Menschen ohne Maske durch die Gänge streifen.
Das hat gut funktioniert
Die Veranstalter hatten ein „gut durchdachtes Hygienekonzept“ angekündigt. An stark frequentierten Orten werde „ein umfassendes Crowdmanagement eingesetzt, das ungeplante Menschenansammlungen mittels technologischer Hilfe frühzeitig erkennt“. Dies ermögliche „der veranstaltungseigenen Sicherheitszentrale, rasch einzugreifen und jegliche Traubenbildung zu vermeiden“. Man muss sagen: das hat gut funktioniert. Vor den großen Bühnen war jeweils nur eine bestimmte Besucher*innen-Anzahl erlaubt, eine digitale Anzeige machte zu jeder Zeit deutlich, wie viele Zuschauer*innen der Bereich noch betreten durften. Ein Leitsystem führte die Messe-Besucher*innen kontrolliert aus den Bühnenbereichen, die Autogrammstunden waren ähnlich gut organsiert.
Das Programm der „Buch Wien“ war in diesem Jahr nicht so fett gefüllt wie in den vergangenen Jahren. Das hatte für mich den Vorteil, dass ich nicht von Veranstaltung zu Veranstaltung gehetzt bin, sondern Zeit hatte, mich ausgiebig an den Ausstellungsständen der Verlage herumzutreiben. Und das Angenehme an der „Buch Wien“ ist ja stets, dass sie sich nicht in riesigen Messehallen abspielt wie bei den Buchmessen in Leipzig oder Frankfurt, sondern sie sich auf eine Halle begrenzt. Damit ist und bleibt die Wiener Buchmesse herrlich überschaubar, angenehm und familiär.
Ich bin die Rückreise angetreten mit sieben neuen Büchern im Gepäck: David Schalko – „Bad Regina“, Thomas Mulitzer – „Pop ist tot“, Uli Brée – „Du wirst mich töten“, Arno Schmidt, gezeichnet von Mahler – „Schwarze Spiegel“, Barbi Marković – „Die verschissene Zeit“, Stefan Franke – „Der Konzern“, Malet/Tardi – „Burma“. Dazu wird es irgendwann Besprechungen von mir geben.
Weitere Rezensionen sind natürlich schon in Vorbereitung und werden bald erscheinen – eine bereits in der kommenden Woche. Wer nochmal nachlesen will, was ich bisher so über die „Buch Wien“ geschrieben habe, folgt diesem Link, wer nur die Berichte aus 2021 lesen möchte, folgt diesem Link.
Der Samstag ist immer mein letzter Messetag bei der „Buch Wien“, weil ich schon am Sonntag die lange Zugfahrt nach Hause antrete. In diesem Jahr habe ich am Samstag noch zwei Lesungen besucht und außerdem Sebastian Broskwa vom Wiener Comic-Buchladen „Pictopia“ einen Besuch abgestattet.
Den Anfang machte David Schalko. Der österreichische Schriftsteller und Regisseur ist bekannt geworden mit seinem Fernsehformat „Sendung ohne Namen“ und ist auch den Serienjunkies ein Begriff, nachdem 2019 seine Mini-Serie „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ (ein Remake des berühmten Fritz-Lang-Films) ausgestrahlt wurde (sehenswert übrigens!). 2018 hatte Schalko seinen letzten Roman „Schwere Knochen“ bei der „Langen Nacht der Bücher“ in Wien vorgestellt. Der aktuelle Roman, der schon am 14. Januar 2021 erschienen ist, trägt den Titel „Bad Regina“.
Der Verlag fasst das Buch so zusammen: Nur noch 46 Menschen leben in Bad Regina, einem einst glamourösen Touristenort in den Bergen, starren auf die Ruinen ihres Ortes und schauen sich selbst tatenlos beim Verschwinden zu. Denn ein mysteriöser Chinese namens Chen kauft seit Jahren für horrende Summen ihre Häuser auf – nur um sie anschließend verfallen zu lassen. Als er auch noch das Schloss des uralten örtlichen Adelsgeschlechts erwerben will, entschließt sich Othmar, der von Gicht geplagte ehemalige Betreiber des berühmtesten Partyklubs der Alpen, herauszufinden, was es mit diesem Chen auf sich hat und was dieser mit Bad Regina vorhat. Dabei erleben Othmar und die verbliebenen Einwohner eine böse Überraschung.
„Und ich bin immer wieder in diese leeren Häuser eingestiegen“
„Die Ähnlichkeiten mit Bad Gastein sind natürlich rein zufällig“, sagte Schalko gleich zu Beginn zum Publikum und lachte. Dann erzählte er, dass er mit seiner Familie mehr als 15 Jahre in Bad Gastein Urlaub gemacht habe. „Und ich bin immer in diese leeren Häuser eingestiegen.“ Der österreichische Ort Bad Gastein war wie Bad Regina einst ein mondäner Kurort für die gehobenen Gesellschaftsschichten und hat (wie Bad Regina) einen steilen Abstieg hinter sich. Hotels und Gebäude im historischen Kern stehen leer und verrotten zunehmend, ein Wiener Immobilien-Unternehmer kaufte einige der Gebäude, sanierte sie aber nicht, sondern überließ sie weiter dem Verfall.
„Da steht natürlich auch eine Kulturmetapher hinter“, erklärte Schalko, „aber ich würde es nicht metaphorisch lesen, auch wenn der Klappentext das vorgibt – das ist Verlagsmarketing.“ Beim Schreiben des Romans habe es ein starkes Grundkonstrukt gegeben, das viel mit der Legende zu tun habe, die es auch über Bad Gastein gibt: Dass ein Mann alles kauft und es verrotten lässt. Wichtiger seien ihm aber die Figuren gewesen, für deren Schrullen und Eigenarten Schalko immer einen scharfen Blick beweist. „Alles, was auf den ersten Blick nach Klischee aussieht, entpuppt sich bald als etwas anderes.“
Eine der Besonderheiten von Bad Regina ist, dass es in diesem Ort alles nur noch einmal gibt: „Zum Beispiel nur eine Single-Frau und einen Single-Mann, und es gibt auch nur noch ein Kind – das hat dann die Spielplätze ganz für sich allein, besonders trostlos im Winter.“ Es sei eine Art Robinsonade, befand Schalko.
„Mit einer kulturellen Überlegenheit hausieren gehen“
Moderator Günter Kaindlstorfer sagte, im „Schalkoversum“ seien die Figuren nie normal, sondern immer seltsam, traurig, komisch und dem Untergang geweiht. „Aber das ist ja Naturalismus!“, scherzte Schalko. Das Sujet selbst, der mondäne Kurort, sei ja schon häufig strapaziert worden. Unweigerlich denke man natürlich an Thomas Manns „Zauberberg“. Und hier sei das jetzt ins 21. Jahrhundert gesetzt worden. Das Problem aber sei, sagte Schalko, dass „wir mit einer kulturellen Überlegenheit hausieren gehen und gerne zurückschauen – das ist nostalgisch, aber nicht gegenwärtig“.
Kaindlstorfer wollte dann wissen, wo auf der Welt noch aufregende Trends passieren. Schalko: „Kunst entsteht dort, wo länger ein Vakuum war – dass zum Beispiel Südkorea jetzt plötzlich bei den TV-Serien („Squid Game“) der Renner ist, hätte doch vorher niemand vermutet. Ob es aber nochmal solche kulturellen Umwälzungen geben wird wie im 20. Jahrhundert, halte ich für fraglich.“ Dennoch gebe es natürlich noch die kulturellen Hotspots in Berlin, Paris oder New York.
Am Ende der Lesung wollte Kaindlstorfer noch ein Assoziationsspiel mit Schalko spielen. Er solle einfach spontan auf die Fragen antworten, darunter diese beiden: Dieses Buch lese ich als nächstes: „‚Die Dinge‘ von Georges Perec lese ich wieder, weil ich für mein nächstes Buch recherchiere.“ Und: Welche Assoziationen bestehen zu Alexander Schallenberg, seit dem 11. Oktober 2021 österreichischer Bundeskanzler (ÖVP)? „Man hat immer das Gefühl, dass das im Schwarzweiß-Fernsehen besser aufgehoben wäre.“
David Schalko: Bad Regina, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2021, 400 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3462053302, Leseprobe
„Überraschend, brutal und poetisch“
Uli Brée liest aus seinem Roman vor, Moderatorin Esther Csapo hört zu.
Die zweite Lesung, die ich am Samstag besucht habe, war die von Uli Brée. Der 1964 in Dinslaken geborene deutsch-österreichische Drehbuchautor, Regisseur, Schauspieler und jetzt auch Schriftsteller las auf der „Buch Wien“ aus seinem ersten Roman vor. Aufmerksam geworden bin ich darauf, weil ich beim Messestand des Amalthea-Verlags zufällig zu diesem Buch gegriffen und die erste Seite verschlungen habe. Deshalb wollte ich gerne mehr aus und zu dem Buch hören.
Uli Brée ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Drehbuchautoren. Er hat Drehbücher für diverse „Tatort“-Folgen des Teams Moritz Eisner/Bibi Fellner geschrieben und ist bekannt für seine österreichische TV-Serie „Vorstadtweiber“. Im Wiener Amalthea-Verlag ist jetzt „Du wirst mich töten“ erschienen. Für den Verlag ist er „ein verstörender und zugleich feinsinniger Roman voll dunkler Geheimnisse, greller Albträume und tiefer Abgründe: überraschend, brutal und poetisch“.
Der Inhalt laut Verlag: Seit Tabata Goldstaub als Mädchen ins Grab ihrer ermordeten Mutter gefallen ist, verfolgen sie dunkle Ohnmachten. Jahre später wird sie Polizistin: eine unkonventionelle Einzelgängerin, die stets an ihre Grenzen geht. Als die junge Frau in eine Mordserie verwickelt wird, steht plötzlich alles auf dem Spiel – auch das Leben ihres ungeborenen Kindes, das ihre einzige Hoffnung ist, endlich wieder etwas zu empfinden. Tabata ahnt nicht, dass ihr der Mörder näher ist, als sie denkt und dass ihre Schicksale auf fatale Weise miteinander verknüpft sind.
Wanderschuh und Stöckelschuh
Was der Unterschied zwischen Drehbuchschreiben und Romaneschreiben für ihn sei, möchte Moderatorin Esther Csapo zunächst von Brée wissen. Der antwortet, das sei wie der Unterschied zwischen Wanderschuh und Stöckelschuh, wobei ein Roman letzteres sei. „Beim Drehbuch schreibe ich eine Art Gebrauchsanweisung, aber die Bilder entstehen erst durch die Kameraleute und die Regie; beim Roman muss man die Bilder selbst schaffen – und das gefällt mir, ich liebe es, Bilder entstehen zu lassen.“ Gleich auf der ersten Seite ist ein solches Bild, das sich einprägt wie gefilmt (s. Leseprobe unten): Tabata Goldstaub fällt in das offene Grab ihrer Mutter, und für die Trauergäste schaut es so aus, als umarme sie ein letztes Mal ihre Mutter und wolle sie nicht gehenlassen.
Ihm sei es wichtig gewesen, gleich stark in den Roman einzusteigen. Er folge da deshalb den zehn goldenen Regeln des österreichischen und später US-amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Billy Wilder („Manche mögen’s heiß“) für gutes Filmemachen. Die erste Regel lautet: „The audience is fickle.“ („Zuschauer sind launisch.“) Die zweite Regel: „Grab ’em by the throat and never let ’em go.“ („Pack sie an der Gurgel und lass sie nicht mehr los.“)
In seinem Roman gehe es auch um die immer wieder gestellte Frage, woher das Böse im Menschen kommt? Ist das angeboren oder entwickelt es sich? „Wir haben vor einiger Zeit einen Hund bekommen, einen Welpen, ein sonniges, fröhliches Hundekind, das noch nie etwas Böses erlebt hat – man kommt nicht als böse auf die Welt, sondern wird das erst durch Prägung mit dem Bösen.“ In seinem Buch gebe sich der Böse dem Bösen hin, und dennoch suche er doch genauso wie die Hauptfigur nur die Liebe.
Brauchtes kriminelle Energie?
Von einem Journalisten sei er mal gefragt worden, ob er für sein Schreiben eine kriminelle Energie brauche. Das habe er verneint. „Ohne überheblich klingen zu wollen: Wenn mein Talent es hergibt, dann ist das doch toll“, sagte er. Ob aus dem Buch auch etwas Filmisches entstehen wird, wollte Brée nicht so recht beantworten. Zum Buch gibt es einen hochwertigen Trailer mit der österreichischen Schauspielerin Ruth Brauer-Kvam (s. unten), „und ich habe auch den Gedanken, daraus vielleicht eine düstere Netflix-Serie zu machen“. Mehr aber wollte er nicht verraten.
Zum Schluss erklärte er noch, warum er stets von sich behauptet, eine „österreichische Seele“ zu haben, obwohl er doch ursprünglich aus dem Ruhrgebiet stammt: „Ich bin zufällig in Deutschland geboren, aber der österreichische Humor ist mir lieber als der nicht-existente deutsche Humor.“
Uli Brée: Du wirst mich töten, Amalthea-Verlag, Wien, 2021, 288 Seiten, gebunden, inklusive Hörbuch-Download, 25 Euro, ISBN 978-3990502068, Leseprobe, Buchtrailer
Die Graphic-Novel-Tipps
Abschließend ging es für mich zum „Pictopia“-Messestand, um von Sebastian Broskwa neue Graphic-Novel-Tipps zu bekommen. Sebastian hatte bei der „Buch Wien“ im Jahr 2013 bei mir den Grundstein für mein Interesse an Graphic Novels gelegt. Ich hatte damals nur eine einzige gelesen (Nine Antico „Coney Island Baby“), als mir Sebastian bei der Buchmesse Charles Burns‘ „Black Hole“ empfahl. Seitdem lese ich immer wieder gerne Graphic Novels und habe auf meinem Blog einen eigenen Bereich dafür.
In diesem Jahr hatte er gleich so viele Empfehlungen, dass ich nur zwei von ihnen mitnehmen konnte (leider nur begrenzter Platz im Koffer, da ich ja auch noch ein paar andere Bücher gekauft habe): zum einen Nicolas Mahlers Literaturadaption „Schwarze Spiegel“ (Suhrkamp Verlag) nach Arno Schmidt, die ich mir von einem glücklicherweise am Messestand anwesenden Mahler auch gleich habe signieren lassen, sowie Jacques Tardis „Burma“, eine Neuedition von vier Kurzgeschichten aus der Feder von Leo Malet. Die anderen Tipps von Sebastian waren: „Ich, der Verrückte“ von Antonio Altarriba (dem Nachfolger von „Ich, der Mörder“), „Yoshios Jugend“ von Yoshiharu Tsuge, „Goldjunge: Beethovens Jugendjahre“ von Mikael Ross, „The Artist: Ode an die Feder“ von Anna Haifisch sowie „Celestia“ von Manuele Fior.
Die „Buch Wien 2021“ endet damit für mich. Ich werde in rund einer Woche ein Fazit schreiben, wenn sich die Eindrücke aus den vergangenen Tagen ein wenig gesetzt haben. Weitere Rezensionen sind außerdem bereits in Vorbereitung. Es wird also nicht langweilig.
Wer nochmal nachlesen will, was ich bisher so über die „Buch Wien“ geschrieben habe, folgt diesem Link, wer nur die Berichte aus 2021 lesen möchte, folgt diesem Link.
Der Freitag begann für mich mit einer Lesung auf der Standard-Bühne. Stefan Franke stellte dort seinen neuen Roman „Der Konzern“ vor, den Moderator und ORF-Redakteur Florian Baranyi als „sehr kafkaesk“ einführte. Vieles erinnere ihn an Franz Kafkas „Prozess“. Ein Mann namens Florian Köhler (im „Prozess“ heißt der Protagonist Josef K.) wird von einem Konzern als Unternehmensberater engagiert. Sagt er zumindest. Doch niemand in diesem Konzern weiß über seine Einstellung Bescheid. Es stellt sich dann zwar heraus, dass die Bestellung eines sogenannten „Evaluierers“ diskutiert worden war, es bleibt jedoch ungeklärt, ob seine Berufung tatsächlich erfolgte. So darf Köhler zwar bleiben, aber seine eigentliche Tätigkeit nicht aufnehmen.
Der Konzern wiederum scheint alle durch einen gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat zu kontrollieren und bleibt dabei unnahbar und unerreichbar. Die Angestellten fühlen sich einer nicht direkt greifbaren, seltsam bedrohlichen Hierarchie ausgesetzt.
Bei Überschreitung der Vorschriften – so wird gemutmaßt – droht Schlimmes. Tatsächlich werden von der Konzernleitung aber nie erkennbare Sanktionen gesetzt. Anfangs voll Ehrgeiz und Zuversicht, fühlt sich Köhler zunehmend ohnmächtig angesichts der Diffusität und Undurchschaubarkeit des Systems, in das er sich verstrickt.
“Kafka war mein Lehrmeister“
„Mein ganz großer Pate war Kafka, immer schon; Kafka war mein Lehrmeister“, sagte Franke. Und er sehe in seinem Roman auch Anzeichen von Kafkas „Schloss“. Dort habe der Landvermesser ähnliche Probleme wie der Evaluierer in Frankes „Konzern“. Der 1967 geborene Stefan Franke ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Inhaber einer Werbeagentur und hat mit vielen Firmen und Konzernen zusammengearbeitet. Ihn habe immer abgestoßen, wie Menschen zu einer Personalnummer degradiert werden, gleichzeitig habe ihn aber angezogen, wie schwerfällig Konzerne agierten. Das habe ihn fasziniert.
Franke erzählte eine Anekdote aus seinem Berufsleben: Er war bei einem deutschen Unternehmen in Wien beschäftigt – zu einer Zeit, als es noch keine Großraumbüros gab. Eines Tages sei seinen Kolleg*innen und ihm aufgefallen, wie ein unbekannter, großgewachsener Mann immer durch die Flure und Räume lief, hin und wieder telefonierte und sich Notizen machte, aber sonst keinen Ton sagte. Nach ein paar Tagen habe er den Mann gefragt: „Was machen Sie?“ Der Mann sagte nur ein Wort: „Evaluieren.“ Und dann ging er wieder.
Die Idee für den Roman liegt schon länger zurück, sagte Franke. Wie lange, sagte er nicht. Der Schreibprozess habe dann rund zwei Jahre gedauert. Immerhin ist „Der Konzern“ nicht wie bei Kafkas „Schloss“ ein Fragment geblieben. So viel verrät er: „Herr Köhler kommt ziemlich nah an den Konzern ran, aber wie nah – das sage ich jetzt nicht.“
Stefan Franke: Der Konzern, Hollitzer-Verlag, Wien, 2021, 176 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 20 Euro, ISBN 978-3990128893, Leseprobe
“Pop ist tot“, lang lebe der Punk
Thomas Mulitzer (r.) liest aus seinem Roman. Links: Moderator Florian Baranyi.
Von Kafka zu Punkrock – wenn das mal nicht passt! Der österreichische Singer/Songwriter Thomas Mulitzer stellte am Freitag auf der „Buch Wien“ seinen zweiten Roman vor: „Pop ist tot“. Nach Gott ist jetzt also auch noch der Pop tot. Dabei geht es in Mulitzers Buch weniger um Pop, sondern viel mehr um Punkmusik. Denn „Pop ist tot“ ist nicht nur der Name des Buches, sondern auch der fiktiven Punk-Band, deren ehemalige Bandmitglieder noch heute von ihren Erinnerungen an den Lärm, die Drogen, den Spaß und das jugendliche Gefühl der Unsterblichkeit zehren. „Pop ist tot“ war die glorreichste, lauteste, leidenschaftlichste Punkband der Welt in der österreichischen Provinz der Neunziger.
Aber das ist lange vorbei. Heute kämpfen sich einige durch den grauen Alltag ihrer spießbürgerlichen Existenz, die anderen bekommen ihr Leben nicht auf die Reihe. Bei der erstbesten Gelegenheit fliehen sie auf Teufel komm raus in eine Reunion-Tour quer durch das Land. Dass das in ihrem Alter nicht gutgehen kann, liegt auf der Hand – oder um mit den Ärzten zu fragen: „Ist das noch Punkrock?“
Ein Buch übers Älterwerden und die beste Musik
Der 1988 geborene Mulitzer weiß, wovon er schreibt. Er ist ja nicht bloß Singer/Songwriter, sondern auch noch Gitarrist und Sänger in der Salzburger Mundart-Punkband „Glue Crew“ sowie in der Punkrock-Band „Three on Speed“. Sein Roman sei, kurz zusammengefasst, ein Buch übers Älterwerden und die beste Musik. Punk sei der Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft – beim Pop funktioniere das nicht, hier müsse man seine Instrumente beherrschen und sowas wie eine Gesangsausbildung haben. „Beim Punk ist das egal: Hier kann jede*r ein Instrument spielen und jede*r Songs schreiben.“
Dass es auch ein Buch über das Älterwerden ist, liegt schon daran, dass die ehemaligen Punkrocker von „Pop ist tot“ in die Jahre gekommen sind. Sie arbeiten in Hipster-Berufen und haben sozusagen das ehemalige Lebensmodell verraten. „Ich kenne das aus meinem Bekanntenkreis: Musiker, die jetzt 40 Jahre alt sind, sprechen immer wieder von den alten Konzerten, die sie gespielt haben – in dem Alter sehnt man sich zurück zu den Tourzeiten mit der Band. Man muss auch viel warten, auf den Soundcheck, auf den Konzertbeginn, Auf- und Abbau, aber wenn man da raus geht auf die Bühne, dann entsteht das wirklich Wahre, dann schreit man alles raus.“
Gott ist tot, Pop ist tot, und was ist mit dem Punk? „Punk ist wie ein Zombie“, sagte Mulitzer. „Irgendwie unsterblich, aber so richtig lebendig ist er auch nicht mehr.“
Elia Barceló (v.l.), Teresa Ruiz Rosas, die Übersetzerin (Name nicht bekannt), Mercedes Rosende sowie Moderator Paco Bernal.
Das Instituto Cervantes, das sich mit seinen weltweiten Dependancen zum Ziel gesetzt hat, die spanische Sprache zu fördern und das Kulturgut Spaniens und der iberoamerikanischen Länder im Ausland zu verbreiten, brachte gleich drei bekannte Krimi-Autorinnen aus Spanien, Peru und Uruguay auf die Bühne: Elia Barceló, Mercedes Rosende und Teresa Ruiz Rosas. Leider war die Zeit samt Konsekutivübersetzung dafür etwas zu knapp bemessen.
Der Journalist Paco Bernal fragte die drei Frauen, wie ihre Bücher sich verändert hätten, wenn sie Männer wären. Immerhin sei die Kriminalliteratur doch ein maskulin dominierter Bereich. Elia Barceló ergriff gleich das Wort und sagte, es sei völlig egal, ob man Frau oder Mann sei – wichtig sei zu wissen, welche Person man ist. Und das Dunkle, über das sie als Krimi-Autorinnen schreiben, sei ohnehin vom Geschlecht unabhängig. Teresa Ruiz Rosas erinnerte an einen Essay von Gertrude Stein („Was sind Meisterwerke?“), in dem es heißt, dass es nur so wenige Meisterwerke gibt, weil „die Menschen meist in Identität und Erinnerung leben“. Deshalb solle man die eigene Identität beim Schreiben besser vergessen. Mercedes Rosende erklärte, dass sie natürlich anders schriebe, als ein Mann – „wegen des Drucks, dem wir ausgesetzt sind“. Allein das stereotype Frauenbild „ewig jung und schön“. „Ich würde mich nicht damit befassen, wenn ich ein Mann wäre“, sagte Rosende. Barceló ergänzte, sie selbst würde unüblicherweise eher ältere Hauptfiguren verwenden. „Normal ist: Frauen sind zwischen 20 und 50 Jahre alt, Kommissare müssen immer älter sein – wegen der Erfahrung“, erklärte sie und lachte. Sie versuche damit zu brechen.
“Was weißt du denn über Waffen?“
Sodann will Bernal wissen, wie frei sich die drei Autorinnen in der Themenwahl sehen. Rosende erinnerte sich an eine Begegnung bei einer Lesung mit einem älteren Mann. Der habe sich vor sie gestellt und gefragt: „Was weißt du denn über Waffen?“ Und sie habe einfach zurückgefragt: „Ja, was weißt du denn?“ Bei den Themen gebe es keine Einschränkungen. „Als Autor*in liest man sich ein, recherchiert viel, auch über Waffen. Aber natürlich schreibe ich auch über den Druck in der männerdominierten Welt – das sind die Themen, mit denen ich mich beschäftige.“
Oft würden TV-Serien oder das Kino die Themenwahl beeinflussen, erläuterte Elia Barceló. Ein großes Thema sei auch immer das Marketing: Was verkauft sich wie gut? Was kaufen eher Männer, was eher Frauen? Sie wolle sich aber keine Schranken setzen. Man merke ja, was Mode ist. „Ich mache, was mir gefällt, auch wenn es nicht gerade die Mode ist. Das Problem haben Männer und Frauen, aber Frauen sind vielleicht etwas resistenter.“
Für Teresa Ruiz Rosas ist es wichtig, in den Romanen Hintergründe aufzudecken und Verbrechen nicht als etwas Alltägliches zu zeigen. Wichtig sei aber auch, fügte Barceló hinzu, aufzupassen, dass man nicht zu Übertreibungen neigt. In der US-amerikanischen Kriminalliteratur würden inzwischen sehr oft Serienkiller ihr Unwesen treiben. „Es reicht nicht mehr ein Opfer, nein, es müssen, vier, fünf, sechs Menschen getötet werden, meistens junge, hübsche Frauen. Diese Übertreibungen sind eine Gefahr für die Literatur.“
Elia Barceló, zuletzt: Töchter des Schweigens, Piper Verlag, München, 2017, 432 Seiten, Taschenbuch, 12 Euro, ISBN 978-3492311250
Mercedes Rosende, zuletzt: Der Ursula-Effekt (Teil 3 der Montevideo-Krimis), Unionsverlag, Zürich, 2021, 288 Seiten, Taschenbuch, 18 Euro, ISBN 978-3293005761
Teresa Ruiz Rosas, zuletzt: Wer fragt schon nach Kuhle Wampe?, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist, 2008, 320 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3941037021
John F. Kennedy in Nazi-Deutschland
Oliver Lubrich (r.) und Moderator Wolfgang Popp.
Ebenfalls am Freitag stellte der deutsche Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich sein Buch „Das geheime Tagebuch: Was der junge John F. Kennedy als Besucher in Nazi-Deutschland erlebte“ vor. John F. Kennedy reiste als junger Mann dreimal nach Nazi-Deutschland: 1937 als Student; 1939 als Botschaftersohn, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs; und 1945 als Reporter während der Potsdamer Konferenz. Seine Aufzeichnungen hat Kennedy selbst nie veröffentlicht. „Die Tagebücher zeigen, wie der junge Kennedy die Diktaturen in Europa erlebte, und das ohne nachträgliche Bearbeitungen“, erklärte Lubrich. Neben Kennedys Tagebucheintragungen enthält das Buch als Pendant auch das bislang noch nie veröffentlichte Reisetagebuch von Lem Billings, der als enger Freund und Reisebegleiter des späteren US-Präsidenten die Grand Tour der beiden Studenten aus seiner Sicht dokumentierte.
Gleich bei der ersten Reise nach Europa werde deutlich, dass Kennedy sehr privilegiert ist. Er lässt ein Cabriolet überführen, mit dem sie fortan durch Europa reisen, sie haben Zugang zu Botschaftern, Generälen und allerlei Honorationen, und Kennedy beginnt dabei, seinen politischen Blick zu schärfen. „Kennedys Vater war da eher im Isolationismus unterwegs – lass Europa mal machen, wir halten uns raus, ähnlich wie Donald Trump“, sagte Lubrich. Der junge Kennedy aber habe sich von seinen Europa-Erfahrungen aus zum Interventionalisten gewandelt. „Ihn interessierte sehr die Frage, wie populär die Diktatoren im eigenen Land sind.“
„Absurd: Urlaub im Dritten Reich“
Die erste Stadt in Deutschland, die sie 1937 besuchen, ist München. Dort gehen sie ins Hofbräuhaus, aber auch ins Kino. „Es ist ja absurd aus heutiger Sicht, dass Kennedy da Urlaub im Dritten Reich machte, aber gleichzeitig ist auch unsere Frage spannend, wie viel man wissen kann, wenn man die Augen aufmacht.“
Überhaupt habe es zu der Zeit viele namhafte Beobachter gegeben. Samuel Beckett etwa führte rund ein halbes Jahr lang ein Tagebuch in Deutschland (September 1936 bis April 1937; das Tagebuch erscheint voraussichtlich am 10. Oktober 2022 bei Suhrkamp, Herausgeben ist ebenfalls Oliver Lubrich). Auch Thomas Wolfe („Schau heimwärts, Engel“) war Beobachter, erklärte Deutschland zu seiner zweiten Heimat, verehrte das Land der Dichter und Denker. Mitte der 1930er Jahre kommt er wieder nach Deutschland und erlebt den nationalsozialistischen Massenwahn und Adolf Hitler und erkennt, dass es „sein Deutschland“ nicht mehr gibt. Oliver Lubrich hat sich auch mit Wolfes Deutschlandreise beschäftigt und 2020 im Manesse-Verlag ein gleichlautendes Buch veröffentlicht („Eine Deutschlandreise: Literarische Zeitbilder 1926–1936“).
„Blinde Flecken und Fehleinschätzungen“ beim jungen Kennedy
Im Rückblick seien bei Kennedy „blinde Flecken und Fehleinschätzungen“ zu sehen, aber auch „Einsichten von großer Aktualität“. Kennedys berühmte Berliner Rede von 1963 (“Ich bin ein Berliner”) sei vor dem Hintergrund dieser Europa-Reisen auch anders zu sehen. „Er hat da eine eigene Anfälligkeit gespürt – deshalb hat er diese Reisen nie öffentlich erwähnt – er hätte in Berlin ja sagen können, dass er schonmal in Deutschland gewesen sei, damals zur Nazi-Zeit.“
Bemerkenswert an dem Tagebuch sei einfach das Unredigierte: „Das ist einfach überraschend, diese Ambivalenz von Einsicht und Irrtümern sowie von Banalität und Scharfsinn“, sagte Lubrich. Der Moderator Wolfgang Popp, österreichischer Schriftsteller und Journalist, fügte hinzu: „Und das Bildmaterial ist unglaublich toll!“
Oliver Lubrich (Hrsg.): John F. Kennedy – das geheime Tagebuch; Europa 1937, DVB Verlag, Wien, 2021, 224 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 22 Euro, ISBN 978-3903244184
Eines der 52 besten Bücher des Jahres
Romana Ganzoni liest aus ihrem Roman, neben ihr Moderator Michael Freund.
Die Autorin der nächsten Lesung, die ich besucht habe, ist aus dem Schnee angereist: „Bei uns kann man schon Ski fahren“, sagte Romana Ganzoni, die auf der „Buch Wien“ ihren neuen Roman „Magdalenas Sünde“ vorstellte. Für den Radiosender SRF2 Kultur gehört er zu den 52 besten Büchern des Jahres. Das Buch sei eine Erlösungsgeschichte im herbstlichen Zürich. Sie erzähle von Sehnsucht, Nähe, Freundschaft und Fantasie in einer Welt voller Gewalt und sexueller Obsession.
Der Verlag fasst zusammen: Die Realität der Konditoreiverkäuferin Magdalena ist düster. Verlust und Schuld quälen die Bulimikerin und Ex-Prostituierte. Ihr krebskranker Vater dämmert dem Tod entgegen. Ihr Freund und Beschützer macht Pause, weil er ihre zerstörerische Beziehung mit einem selbsternannten Grossschriftsteller nicht länger aushält. Magdalena denkt an Suizid und verlangt gleichzeitig nach einem Wunder. Sie erzwingt es in einem Akt der Selbstermächtigung, als an einem Sonntag ein Mensch in ihr Leben tritt, der nichts mehr zu verlieren hat.
Die Namenspatronin, die biblische Maria Magdalena, sei ihr das erste Mal begegnet, als Ganzoni vier Jahre alt war. „Mich beeindruckte das lange Haar, mit dem sie die Füße von Jesus trocknete – das hat mich geprägt.“ Die Figur habe sie immer interessiert, später habe sie darüber auch einen Abitur-Aufsatz geschrieben. Ohnehin sei das Spiel mit den Namen immer sehr reizvoll für sie.
Die romangewordene Geschichte der Magdalena, die in einer prekären Existenz lebt, eine schwierige Vergangenheit hat und an Bulimie leidet, sei eine erfundene Geschichte und orientiere sich also an keinem Vorbild, sagte die Autorin. „Es stecken darin aber viele Dinge, die mich interessieren, die Ausnützung der Protagonistin zum Beispiel, die sich ja auch selbst ausbeutet, das bewegt mich sehr.“
Sie habe einen Aufsatz von Arno Grün über den Gehorsam gelesen („Wider den Gehorsam“, Klett-Cotta), dessen Kernthese sei: Es komme vor, dass geschundene Menschen ihrem Unterdrücker beitreten, eine Unterform des Stockholm-Syndroms. „Mich interessiert deshalb auch, warum so viele Menschen in Beziehungen zurückkehren, die toxisch und zerstörerisch sind, manchmal auch nur subtil.“ Der Moderator und Journalist Michael Freund fasste am Ende zusammen: „Sehr ungewöhnliches, sehr spannendes Buch und ein tiefer Einblick ins Milieu.“
Romana Ganzoni: Magdalenas Sünde, Telegramme-Verlag, Zürich, 2021, 126 Seiten, Taschenbuch, 14,50 Euro, ISBN 978-3907198520, Buchtrailer
Eroberer – wild, aber erfolglos
Dann ging es für mich weiter zu Franzobel, der seinen schon im Januar 2021 erschienenen Roman „Die Eroberung Amerikas“ auf der Buchmesse den zahlreichen Zuschauer*innen vorstellte. Nach seinem Bestseller „Das Floß der Medusa“ (2017, Zsolnay-Verlag), für den er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, begibt sich Franzobel in seinem neuen Roman auf die Spuren eines wilden, aber erfolglosen Eroberers der USA im Jahr 1538.
Ferdinand Desoto hatte Pizarro nach Peru begleitet, dem Inkakönig Schach und Spanisch beigebracht, dessen Schwester geschwängert und mit dem Sklavenhandel ein Vermögen gemacht. Er war bereits berühmt, als er 1538 eine große Expedition nach Florida startete, die eine einzige Spur der Verwüstung durch den Süden Amerikas zog. Knapp 500 Jahre später klagt ein New Yorker Anwalt im Namen aller indigenen Stämme auf Rückgabe der gesamten USA an die Ureinwohner. Soweit der Plot.
Bier statt Messewasser
Der österreichische Schriftsteller lehnte das angebotene Messewasser ab und blieb lieber bei seinem mitgebrachten Fläschchen Bier. „Ich glaube, ich habe dich bei einer Lesung noch nie ohne Bier gesehen – ist das sowas wie ein Ritual für dich?“, fragte Moderator Günter Kaindlstorfer, österreichischer Literaturkritiker, Schriftsteller und Journalist. „Joa, das beruhigt mich“, antwortete Franzobel und lachte. Es stimme aber nicht, dass er nie ohne Bier lese. „Es gab aber schon Lesungen am Vormittag ohne Bier, und auch im Parlament hatte ich einen Vortrag ohne Bier – dabei hätte ich da eins haben sollen.“
Doch zurück zu den Eroberern. Franzobel kam die Idee zum neuen Buch beim Fernsehen. “In einer TV-Doku fiel in einem Nebensatz der Name Ferdinand Desoto und dass er einer der erfolglosesten Conquistadoren gewesen sei – das interessierte mich.“ Er habe dann viel recherchiert, auch in Spanien, wo die Eroberer noch immer sehr angesehen seien. Nur in den gebildeteren Schichten sei auch Kritik zu hören.
Als Desoto aufbrach, hatte er ein drittes Goldland erwartet, das ihm Reichtum bringen würde. „Dass die damaligen Goldschätze die Inflation unglaublich beschleunigt haben, wusste ich auch nicht“, sagte Franzobel in dem Zusammenhang.
Der Impuls zum Schreiben sei dann durch die Recherche entstanden. “Mich hat die Zeit fasziniert. Es gab ein anderes Weltbild, die Wissenschaft hat sich von der Religion getrennt, man hat die Kindheit kennengelernt, die der Gegenpol war die spanische Inquisition, die an den alten Werten festhalten wollte.“
Seinen neuen Roman wird Franzobel über die Physik schreiben, soviel verriet er schon. “Ich war vor zehn Jahren im CERN in der Nähe von Genf, und seitdem hat das Thema in mir gegärt – und jetzt schreibe ich darüber.“
Franzobel: Die Eroberung Amerikas, Zsolnay-Verlag, München, 2021, 544 Seiten, gebunden, 26 Euro, ISBN 978-3552072275, Leseprobe
Austrofred, Barbi und Christl Clear
Kaum zu übersehen: Austrofred (r.), neben ihm Moderator Stefan Weiss.
Die letzten Lesungen, die ich an diesem Tag noch besucht habe, waren die von Austrofred, nochmal von Barbi Marković und von der österreichischen Bloggerin Christl Clear.
Austrofred hatte ich zuerst 2013 auf der “Buch Wien“ live gesehen, das neuste Werk des Freddie-Mercury-Wiedergängers trägt nun den doppeldeutigen Namen “Die fitten Jahre sind vorbei“, ein zwei Jahre andauerndes Frage-und-Antwort-Stück zwischen dem oberösterreichischen Tausendsassa und seinen Fans, geführt bei Facebook. Themen? “Nun, vielfältig: Ernährung, Metaphysik, altersbedingte Erscheinungen.“ Und so geht es oft los mit “Sehr geehrter Herr Austrofred, …“.
Zum Abschluss erfuhren die Zuschauer*innen noch einen kurzen Einblick in Austrofreds Fähigkeiten. Nein, er sang nicht, und er zeigte auch nicht seine viel gerühmten Mercury-Moves, sondern er beantwortete schlichtweg die Frage, wie lange es den Menschen noch gibt: “500 bis 600 Jahre.“ Woher er das weiß? “Das ist ein Gefühl. Ich habe eine Gabe dafür.“ Wie lange es Austrofred noch gibt? “Bis man mich von der Bühne trägt.“
Bei Barbi Marković bin ich nochmal gewesen, um so weitere Zitate für meine irgendwann folgende Rezension ihres Romans “Die verschissene Zeit“ zu bekommen.
Und die Bloggerin Christl Clear hat mich interessiert, weil sie als schwarze Feministin viele vor allem junge Menschen inspiriert. Christl Clear, die mit richtigem Namen Christina heißt, ist mit drei Geschwistern und ihren nigerianischen Eltern in einfach Verhältnissen aufgewachsen. Das Studium hat sie abgebrochen, sie hat für Lifestyle-Magazine geschrieben, sie hat gebloggt und ist jetzt bei Instagram. Mehr als 38.000 Menschen folgen ihr dort.
Christl Clear liest aus ihrem Debüt, neben ihr Moderator Michael Freund.
Frei nach dem Liedermacher Wolfgang Ambros nennt sie sich eine “Blume aus dem Gemeindebau“. Sie schreibt mit Slang und Wiener Schmäh, ihr Buch aber sei kein Ratgeber, sondern eine Textsammlung zu Themen, die sie interessieren und wichtig findet, erklärte sie bei der “Buch Wien“. Das Buch trägt den einprägsamen Titel “Let me be Christl Clear“. Lässt man ihren Namen weg, bleibt “Let me be“, “Lasst mich sein“.
Es geht um das Lebenlassen, ohne Alltagsrassismus, Sexismus und den ganzen Druck von außen (etwa zum Heiraten, was sie vorliest: „Ihr müsst nicht heiraten“, “Ihr braucht keine bessere Hälfte, ihr seid das bessere Ganze“). „Macht das Nickerchen. Sagt die Party ab, fahrt (alleine) auf Urlaub, besteht beim Sex darauf, dass ihr auch befriedigt aus der Geschichte rausgeht, und sagt öfter mal ‚Nein’ zu Dingen, auf die ihr keinen Bock habt.“
Austrofred: Die fitten Jahre sind vorbei, Czernin-Verlag, Wien, 2021, 200 Seiten, Taschenbuch, 18 Euro, ISBN 978-3707607321
Barbi Marković: Die verschissene Zeit, Residenz-Verlag, Salzburg und Wien, 2021, 229 Seiten, Taschenbuch, mit Beiheft, 24 Euro, ISBN 978-3701716982, Leseprobe, Spielmaterial
Christl Clear: Let me be Christl Clear, Kremayr & Scheriau, Wien, 2021, 160 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3218012874
Den zweiten Messetag habe ich nicht auf der „Buch Wien“ verbracht – erst am Abend besuchte ich die Lesung der in Belgrad geborenen Autorin Barbi Marković. Sie las im zauberhaften Buchladen-Café „phil“, in dem ich vor acht Jahren (!) Nadine Kegele und ihre Literatur bei einer Lesung entdeckte, aus ihrem neuen Roman „Die verschissene Zeit“.
Der Kulturjournalist und ORF-Redakteur Florian Baranyi, der den Abend moderierte, sprach eingangs von einem „abstrusen Zeitreiseplot“. Der Verlag beschreibt den Roman als „einzigartiges popkulturelles Spiel mit dem Belgrad der Neunziger – und zugleich ein verrückter Wettlauf gegen eine Zeit, die die Gesellschaft eindeutig verschissen hat“. Denn dieser Roman ist nicht nur ein Roman – doch dazu später mehr.
Der Klappentext: Belgrad, 1995. Marko, seine Schwester Vanja und Kasandra aus der Roma-Siedlung leben im „riesigen psychowirtschaftlichen Desaster“ der 90er-Jahre – einem Teufelskreis aus Armut, Gewalt, Inflation, Drogen und neuen Technologien. Doch gibt es in diesem Roman auch Gangs und Dealer, einen verrückten Wissenschaftler und eine Zeitmaschine, eine Balkan-Pop-Ikone und schrägen Sex, es gibt Bombardements und Zerstörung, aber auch Musik und Freundschaft. Und als die drei Jugendlichen in das Kriegsjahr 1999 katapultiert werden, begreifen sie, dass sie ihre Stadt aus den verheerenden 90ern befreien müssen. In einer rasanten Verfolgungsjagd versuchen sie, den Schlüssel zur Zeitschleife zu finden und Geschichte neu zu schreiben.
Den richtigen Zeitpunkt erwischen
Geschichte neu schreiben oder die Vergangenheit ändern – das sind ja die Dinge, die wir uns vornähmen, wenn wir durch die Zeit reisen könnten. Doch Marković, die 2017 beim Bachmann-Preis-Wettbewerb in Klagenfurt mitgemacht hat, räumte mit der rosigen Vorstellung auf. Denn mit der Zeitreise den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, an dem sich Dinge in der Vergangenheit geändert haben, sei sehr schwierig. „Die Dinge, an die ich mich erinnere, sind ja inzwischen nur noch Karikaturen dessen, was wirklich geschehen ist damals.“ Und wie soll man dann den richtigen Zeitpunkt bestimmen, ab dem sich Geschichte neu schreiben ließe?
Doch das ist alles schon viel zu weit drin in der Materie. Marković las zunächst einige Seiten vom Anfang, damit das Publikum sich auskenne, reinkomme in die Zeit, die Sprache, den Umgang. So ergeht sich Kasandra schon auf der fünften Seite in einer derben, nicht salonfähigen Schimpftirade auf, Vanja hat gleich im zweiten Absatz des Romans befunden: „Marko ist ein Idiot, ein Arschloch und Elternarschkriecher. Warum müssen wir verwandt sein?“ Die Sprache dieses Romans ist in ihrer Deutlichkeit wenig zimperlich. Soll heißen: es wird viel geflucht und mit anzüglichen Begriffen um sich geworfen. Florian Baranyi fühlte sich an Filme von Quentin Tarantino erinnert. Ob diese ganzen Schimpfwörter (lesen Sie die Leseprobe unten!) Straßen-Serbisch seien, fragte er. Marković erklärte, dass die meisten Schimpfwörter tatsächlich existieren – gerade die völlig ungewöhnlichen. Andere habe sie erfunden, bei manchen die Geschlechter ausgetauscht, um ein Gleichgewicht herzustellen.
„Zusammenfassen könnte ich das nicht“
Wie soll man bei einer Lesung zusammenfassen, wovon dieses Buch genau handelt? „Ich habe das alles geschrieben, aber zusammenfassen könnte ich das nicht“, sagte Marković. Wichtig sei ihr gewesen, durch die Zeitreisen Einblicke in verschiedene Phasen der 90er Jahre zu gewähren, auch gesellschaftlich. „Das sind die krassesten Jahre, die ich kenne: die 90er.“
Marković ist 1980 in Belgrad geboren und lebt seit 2006 in Wien. Sie hat die 90er in der Heimat erlebt, die Krisenjahre, vor allem aber den Kosovokrieg 1999. In ihrem Buch geht es auch um diese verschissene Zeit, die Marković geprägt hat – ein Wissenschaftler will den Ausbruch der Jugoslawien-Kriege verhindern und hat glücklicherweise eine Zeitmaschine parat. Aber etwas geht schief. Mehr sei hier nicht verraten.
Im „phil“ ging es aber nicht um den Krieg. Im „phil“ las Marković ein paar Stellen, die ihr gefielen, sagte sie. Sie lächelte, ja, lachte viel an diesem Abend beim Vorlesen – es war mitreißend, ihr die Freude am eigenen Text so deutlich anzusehen. Wie sie die serbische Jugend treffsicher beschrieb, begeisterte das Publikum – jede*r hatte die Figuren vor Augen, wenn sich Halbstarke auf den Straßen von Belgrad treffen und sich gegenseitig nur zuraunen: „Was?“ „Was?“ „Was?“ „Was?“ Das dritte und vierte „Was?“ jeweils mit einem energisch-mutigen Kinnrecken nach oben. Das, was sich da zwischen den einsilbigen Zeilen abspielt, hat Marković hervorragend beschrieben.
Marković als Spielleiterin
Es fällt auf, dass Marković die Leser*innen im Roman direkt anspricht – wir selber sollen es erleben. Es ist also nicht Vanjas Bruder, sondern „dein Bruder“, und es ist auch „Eure Freundin Kasandra“. Warum? „Ich wollte daraus ein privates Rollenspiel machen, das man selbst erleben kann.“ Wie das Pen-&-Paper-Rollenspiel „Dungeons & Dragons“, nur mit Marković als Spielleiterin. Bei dieser Art von Spielen gibt ein*e Spielleiter*in das Setting vor, alle anderen am Tisch übernehmen jeweils eine Rolle und alle zusammen erleben durch gemeinsames Erzählen eine Geschichte,
Und genauso ist der Roman auch entstanden: durch ein Spiel. „Ich habe das mit anderen gespielt, und es war schwierig für mich, den Text danach in einen Roman zu überführen.“ Wer Tischrollenspiele kennt, weiß, dass dort auch 20 Minuten darüber gesprochen werden kann, ob eine Tür geöffnet werden soll oder lieber nicht. Für einen Roman, und sei er noch so surreal, ginge das natürlich nicht.
Marković geht aber noch einen besonderen Spielzug weiter: In einem Beiheft des Romans, das im hinteren Umschlag steckt, steht die Anleitung für das Rollenspiel von „Die verschissene Zeit“. „Ihr könnt Figuren in dieser Geschichte sein (…) und alles anders machen als im Roman.“ Markovićs Erlebniswelt wird also zum Rollenspiel, zum Roman, zum Rollenspiel. Am Ende ist es eine never ending story?
Barbi Marković: Die verschissene Zeit, Residenz-Verlag, Salzburg und Wien, 2021, 229 Seiten, Taschenbuch, mit Beiheft, 24 Euro, ISBN 978-3701716982, Leseprobe, Spielmaterial
Die „Buch Wien“ 2021 ist eröffnet. Mit einem Festakt und der „Langen Nacht der Bücher“ begann am Mittwochabend nach einer einjährigen corona-bedingten Pause die Internationale Buchmesse in Wien. Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels, frohlockte förmlich, wie schön es sei, „dass Sie alle wieder da sind“. Er habe alle sehr vermisst. Und angesichts der auch in Österreich weiter steigendenden Corona-Zahlen habe man vielleicht einfach einfach ein „glückliches Zeitfenster“ erwischt, in der eine Messe wie diese möglich sei. In Österreich wurden am Mittwoch mehr als 11.000 Neuinfektionen gemeldet – damit haben sich die Fälle seit der vergangenen Woche fast verdoppelt. Während der gesamten Buch-Messe gilt 2G, es dürfen nur Geimpfte und Genesene in die Halle, dafür darf kann man sich ohne Maske frei bewegen. Viele Menschen nehmen ihre Masken ab, ähnlich viele tragen sie weiter.
Die Philosophin Isolde Charim hielt am Mittwochabend vor geladenen Gästen die Eröffnungsrede – in den vorherigen Jahren hatten das schon Svenja Flaßpöhler oder Terézia Mora getan. Charims Rede trug den Titel „Wendepunkt?“. Charim erklärte zu Beginn: „Unser demokratisches Universum hat in letzter Zeit zwei massive Erschütterungen erfahren. Die eine Erschütterung teilen wir mit dem Rest der Welt – nämlich die Pandemie samt den so genannten ‚Querdenkern‘ in ihrem Schlepptau. Die zweite Erschütterung aber gehört uns ganz exklusiv: Das harte Aufprallen des so genannten ‚System Kurz‘ an der Öffentlichkeit. Diese demokratischen Notfälle, oder um mit Angela Merkel zu sprechen: diese demokratischen Zumutungen, ereilen uns nahezu zeitgleich.“
Charim erinnerte an den Atomphysiker Niels Bohr, der über einer Tür ein Hufeisen hängen hatte. Als er darauf angesprochen wurde, ob er denn daran glaube, dass das Glück bringe, antwortete Bohr: „Natürlich nicht, aber es soll auch helfen, wenn man nicht daran glaubt.“
„Die Bedeutung des demokratischen Mythos„
Ausgehend von dieser Anekdote leitete Charim über zur Demokratie. Mit ihr sei es ähnlich: Menschen nähmen die Demokratie nicht mehr ernst und nähmen dennoch an, dass sie wirkt, obgleich man nicht an sie glaubt. Aber die Demokratie habe ihre Bedeutung verändert. „Genauer gesagt: Die Bedeutung des demokratischen Mythos hat sich verändert. Denn dieser meint heute: individuelle Freiheit.“ Damit gelangte Charim zur zweiten Erschütterung der Demokratie, der Pandemie. Die Corona-Pandemie habe sichtbar die Rückkehr des Staates gebracht, der Entscheidungen treffen müsse. Und das nächste Total-Ereignis sei ja schon da: der Klimawandel.
Die sogenannten „Querdenker“ träten „im Namen der Demokratie auf gegen das, was sie eine ‚Diktatur‘ nennen. Diktatur eben, weil der Staat als Entscheidungsgewalt derart sichtbar geworden ist.“ Diese neue Realität einer deutlichen staatlichen Entscheidungsgewalt und der Mythos von der eigenen individuellen Freiheit wiesen heute auseinander, erklärte die Philosophin Demokratie brauche deshalb einen neuen Glauben: „Einen Glauben, der sich nicht auf die individuelle Freiheit beschränkt.“
Nach der Eröffnung begann wie immer die beim Publikum sehr beliebte „Lange Nacht der Bücher“. Die oberösterreichischen Zwei-Mann-Band „Attwenger“ spielte das Eröffnungskonzert, zu dem dann auch das normale Publikum zugelassen war, und schaffte es am Ende der 45 Minuten noch, zumindest ein paar junge Besucher*innen zum Tanzen zu bewegen. Die beiden Musiker Markus Binder und Hans-Peter Falkner waren zuvor ein wenig verblüfft, wie verhalten das Publikum während ihrer Darbietung reagierte und regten mit trocken-humorigen Anmerkungen immer wieder zum Ausrasten an. Wie gesagt: Zum Ende hin gelang das dann, aber sicherlich war es zum Ausrasten und Pogotanzen das falsche Publikum.
Eva Menasse, Sebastian Fitzek, Michael Köhlmeier und Doris Knecht stellten vor zahlreichem Publikum ihre neuen Bücher vor, in der Donau-Lounge wurde derweil über Political Correctness diskutiert, und auf der Standard-Bühne spielte sich der vor allem beim jungen Publikum sehr beliebte Poetry Slam ab. Wie immer: sehr lautstark von den Fans des literarischen Wettbewerbs gefeiert. Raphaela Edelbauer, die Gewinnerin des am Montag, 8. November, verliehenen Österreichischen Buchpreises kam nicht zur „Langen Nacht“ – sie wird am Freitag auf der Buchmesse sein.
„Die politische Situation macht mich weniger zornig als unglücklich“
Michael Köhlmeier, der mit seinem lange erwarteten Spitzentitel „Matou“ zur Buchmesse gekommen war, einem 960 Seiten langen Roman, in dem er einen Kater aus seinen sieben Leben erzählen lässt, kam nicht dazu, sein Buch genauer vorzustellen. Denn auf der großen ORF-Bühne ist es der österreichische Kabarettist und bekennende „Lese-Junkie“ Florian Scheuba, der Köhlmeier in ein nicht minder interessantes Gespräch über die derzeitige politische Situation in Österreich verwickelt. Köhlmeier deutlich: „Die politische Situation macht mich weniger zornig als unglücklich. Dass man unserer Intelligenz sowas antun kann!“
Scheuba und Köhlmeier wechselten schließlich über in eine philosophische Betrachtung der Wörter „Lüge“ und „Wahrheit“. Er, Köhlmeier, stimme Ingeborg Bachmanns Zitat, die Wahrheit sei den Menschen zumutbar, nur in Bezug auf den Nationalsozialismus zu. „Aber doch nicht generell!“, sagte er, und Scheuba sprang ihm mit dem Stichwort „Gnade des Nichtwissens“ bei. Köhlmeier sagte, er wolle nicht alles wissen. Manches wisse er inzwischen, von dem er jetzt sagen würde: „Hätte ich lieber nicht gewusst.“ Auch das Wort „Lüge“ habe nicht nur eine Bedeutung, etwa die Lüge, die einem Menschen schade, oder die andere, die einem Menschen nütze. Beides aber hieße „Lüge“.
Michael Köhlmeier: Matou, Hanser-Verlag, München, 2021, 960 Seiten, gebunden, 34 Euro, ISBN 978-3446270794, Leseprobe
„Es ist real, dass Frauen im Netz zu leiden haben“
Kurz vor Toreschluss war noch Doris Knecht zu Gast bei Scheuba auf der ORF-Bühne. Sie stellte ihren neuen Roman „Die Nachricht“ vor. Vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes lebt Ruth allein in dem Haus auf dem Land, wo die Familie einst glücklich war. Die Kinder haben längst ihr eigenes Leben, während Ruth das Alleinsein zu schätzen lernt. Bis sie eines Tages eine anonyme Messenger-Nachricht bekommt, von einer Person, die mehr über ihre Vergangenheit zu wissen scheint als Ruth selbst.
„Doris Knecht schreibt über eine Frau, die plötzlich zur Verfolgten wird, und erweist sich einmal mehr als virtuose Skeptikerin zwischenmenschlicher Beziehungen“, heißt es aus Verlagssicht.
Knecht selbst ist in den sozialen Netzwerken nicht aktiv, anders als ihre Protagonistin. Knecht hat zwar einen Twitter-Account, lese dort aber nur mit. „Ich habe mich noch nie getraut, dort was zu twittern – dafür ist meine Haut nicht dick genug.“ Und meint: Nicht dick genug für die Reaktionen, die kommen werden. Denn das was kommt, sei klar. Und oft nicht besonders sachlich oder gar freundlich.
Knecht verglich das mit den Medien, bei denen sie Kolumnen geschrieben hat oder noch schreibt, die aber keine anonymen Foren haben. „Dort bekomme ich Leserpost und kann reagieren, aber nicht auf Nutzer mit Namen wie ‚Arschbombe324‘.“ Sie habe auch schon viel beschriebenes Klopapier bekommen, „aber wenn man denen freundlich zurückschreibt, sind die auch zurück sehr freundlich“. Der Standard zum Beispiel habe auch online einen Vorabdruck ihres Romans veröffentlicht – darunter habe sich eine Welle des Hasses ergossen. Das habe sie sich nicht angetan. „In meinem Roman wollte ich das dann mal fühlbar machen, wie man bedroht wird und was das für Entwicklungen nehmen kann“, sagte sie. Und man müsse da nicht groß was erfinden: „Frauen in der Öffentlichkeit, die starke Stimmen haben, erleben das.“
Was Doris Knecht den Frauen raten würde, fragte Scheuba. „Ich würde lieber den Männern raten, das nicht mehr zu tun. Frauen können das nicht beeinflussen – man muss den Männern beibringen, keine Täter zu werden. Es ist real, dass Frauen im Netz zu leiden haben.“ Auch Männern passiere das, ja. Aber Männer würden anders beleidigt – Frauen eingeschüchtert und abgewertet. Helfen würde aus Knechts Sicht, wenn Frauen mehr geschützt würden und stärkere Netze bekämen: „Es gibt einfach zu wenige Stellen, wo Frauen hingehen können und dort ernst genommen werden.“
Doris Knecht: Die Nachricht, Hanser Berlin, Berlin, 2021, 256 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3446271036, Leseprobe