
Die „Buch Wien“ 2021 ist eröffnet. Mit einem Festakt und der „Langen Nacht der Bücher“ begann am Mittwochabend nach einer einjährigen corona-bedingten Pause die Internationale Buchmesse in Wien. Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels, frohlockte förmlich, wie schön es sei, „dass Sie alle wieder da sind“. Er habe alle sehr vermisst. Und angesichts der auch in Österreich weiter steigendenden Corona-Zahlen habe man vielleicht einfach einfach ein „glückliches Zeitfenster“ erwischt, in der eine Messe wie diese möglich sei. In Österreich wurden am Mittwoch mehr als 11.000 Neuinfektionen gemeldet – damit haben sich die Fälle seit der vergangenen Woche fast verdoppelt. Während der gesamten Buch-Messe gilt 2G, es dürfen nur Geimpfte und Genesene in die Halle, dafür darf kann man sich ohne Maske frei bewegen. Viele Menschen nehmen ihre Masken ab, ähnlich viele tragen sie weiter.
Die Philosophin Isolde Charim hielt am Mittwochabend vor geladenen Gästen die Eröffnungsrede – in den vorherigen Jahren hatten das schon Svenja Flaßpöhler oder Terézia Mora getan. Charims Rede trug den Titel „Wendepunkt?“. Charim erklärte zu Beginn: „Unser demokratisches Universum hat in letzter Zeit zwei massive Erschütterungen erfahren. Die eine Erschütterung teilen wir mit dem Rest der Welt – nämlich die Pandemie samt den so genannten ‚Querdenkern‘ in ihrem Schlepptau. Die zweite Erschütterung aber gehört uns ganz exklusiv: Das harte Aufprallen des so genannten ‚System Kurz‘ an der Öffentlichkeit. Diese demokratischen Notfälle, oder um mit Angela Merkel zu sprechen: diese demokratischen Zumutungen, ereilen uns nahezu zeitgleich.“
Charim erinnerte an den Atomphysiker Niels Bohr, der über einer Tür ein Hufeisen hängen hatte. Als er darauf angesprochen wurde, ob er denn daran glaube, dass das Glück bringe, antwortete Bohr: „Natürlich nicht, aber es soll auch helfen, wenn man nicht daran glaubt.“
„Die Bedeutung des demokratischen Mythos„
Ausgehend von dieser Anekdote leitete Charim über zur Demokratie. Mit ihr sei es ähnlich: Menschen nähmen die Demokratie nicht mehr ernst und nähmen dennoch an, dass sie wirkt, obgleich man nicht an sie glaubt. Aber die Demokratie habe ihre Bedeutung verändert. „Genauer gesagt: Die Bedeutung des demokratischen Mythos hat sich verändert. Denn dieser meint heute: individuelle Freiheit.“ Damit gelangte Charim zur zweiten Erschütterung der Demokratie, der Pandemie. Die Corona-Pandemie habe sichtbar die Rückkehr des Staates gebracht, der Entscheidungen treffen müsse. Und das nächste Total-Ereignis sei ja schon da: der Klimawandel.
Die sogenannten „Querdenker“ träten „im Namen der Demokratie auf gegen das, was sie eine ‚Diktatur‘ nennen. Diktatur eben, weil der Staat als Entscheidungsgewalt derart sichtbar geworden ist.“ Diese neue Realität einer deutlichen staatlichen Entscheidungsgewalt und der Mythos von der eigenen individuellen Freiheit wiesen heute auseinander, erklärte die Philosophin Demokratie brauche deshalb einen neuen Glauben: „Einen Glauben, der sich nicht auf die individuelle Freiheit beschränkt.“
Nach der Eröffnung begann wie immer die beim Publikum sehr beliebte „Lange Nacht der Bücher“. Die oberösterreichischen Zwei-Mann-Band „Attwenger“ spielte das Eröffnungskonzert, zu dem dann auch das normale Publikum zugelassen war, und schaffte es am Ende der 45 Minuten noch, zumindest ein paar junge Besucher*innen zum Tanzen zu bewegen. Die beiden Musiker Markus Binder und Hans-Peter Falkner waren zuvor ein wenig verblüfft, wie verhalten das Publikum während ihrer Darbietung reagierte und regten mit trocken-humorigen Anmerkungen immer wieder zum Ausrasten an. Wie gesagt: Zum Ende hin gelang das dann, aber sicherlich war es zum Ausrasten und Pogotanzen das falsche Publikum.

Eva Menasse, Sebastian Fitzek, Michael Köhlmeier und Doris Knecht stellten vor zahlreichem Publikum ihre neuen Bücher vor, in der Donau-Lounge wurde derweil über Political Correctness diskutiert, und auf der Standard-Bühne spielte sich der vor allem beim jungen Publikum sehr beliebte Poetry Slam ab. Wie immer: sehr lautstark von den Fans des literarischen Wettbewerbs gefeiert. Raphaela Edelbauer, die Gewinnerin des am Montag, 8. November, verliehenen Österreichischen Buchpreises kam nicht zur „Langen Nacht“ – sie wird am Freitag auf der Buchmesse sein.
„Die politische Situation macht mich weniger zornig als unglücklich“
Michael Köhlmeier, der mit seinem lange erwarteten Spitzentitel „Matou“ zur Buchmesse gekommen war, einem 960 Seiten langen Roman, in dem er einen Kater aus seinen sieben Leben erzählen lässt, kam nicht dazu, sein Buch genauer vorzustellen. Denn auf der großen ORF-Bühne ist es der österreichische Kabarettist und bekennende „Lese-Junkie“ Florian Scheuba, der Köhlmeier in ein nicht minder interessantes Gespräch über die derzeitige politische Situation in Österreich verwickelt. Köhlmeier deutlich: „Die politische Situation macht mich weniger zornig als unglücklich. Dass man unserer Intelligenz sowas antun kann!“
Scheuba und Köhlmeier wechselten schließlich über in eine philosophische Betrachtung der Wörter „Lüge“ und „Wahrheit“. Er, Köhlmeier, stimme Ingeborg Bachmanns Zitat, die Wahrheit sei den Menschen zumutbar, nur in Bezug auf den Nationalsozialismus zu. „Aber doch nicht generell!“, sagte er, und Scheuba sprang ihm mit dem Stichwort „Gnade des Nichtwissens“ bei. Köhlmeier sagte, er wolle nicht alles wissen. Manches wisse er inzwischen, von dem er jetzt sagen würde: „Hätte ich lieber nicht gewusst.“ Auch das Wort „Lüge“ habe nicht nur eine Bedeutung, etwa die Lüge, die einem Menschen schade, oder die andere, die einem Menschen nütze. Beides aber hieße „Lüge“.
Michael Köhlmeier: Matou, Hanser-Verlag, München, 2021, 960 Seiten, gebunden, 34 Euro, ISBN 978-3446270794, Leseprobe
„Es ist real, dass Frauen im Netz zu leiden haben“
Kurz vor Toreschluss war noch Doris Knecht zu Gast bei Scheuba auf der ORF-Bühne. Sie stellte ihren neuen Roman „Die Nachricht“ vor. Vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes lebt Ruth allein in dem Haus auf dem Land, wo die Familie einst glücklich war. Die Kinder haben längst ihr eigenes Leben, während Ruth das Alleinsein zu schätzen lernt. Bis sie eines Tages eine anonyme Messenger-Nachricht bekommt, von einer Person, die mehr über ihre Vergangenheit zu wissen scheint als Ruth selbst.
„Doris Knecht schreibt über eine Frau, die plötzlich zur Verfolgten wird, und erweist sich einmal mehr als virtuose Skeptikerin zwischenmenschlicher Beziehungen“, heißt es aus Verlagssicht.
Knecht selbst ist in den sozialen Netzwerken nicht aktiv, anders als ihre Protagonistin. Knecht hat zwar einen Twitter-Account, lese dort aber nur mit. „Ich habe mich noch nie getraut, dort was zu twittern – dafür ist meine Haut nicht dick genug.“ Und meint: Nicht dick genug für die Reaktionen, die kommen werden. Denn das was kommt, sei klar. Und oft nicht besonders sachlich oder gar freundlich.

Knecht verglich das mit den Medien, bei denen sie Kolumnen geschrieben hat oder noch schreibt, die aber keine anonymen Foren haben. „Dort bekomme ich Leserpost und kann reagieren, aber nicht auf Nutzer mit Namen wie ‚Arschbombe324‘.“ Sie habe auch schon viel beschriebenes Klopapier bekommen, „aber wenn man denen freundlich zurückschreibt, sind die auch zurück sehr freundlich“. Der Standard zum Beispiel habe auch online einen Vorabdruck ihres Romans veröffentlicht – darunter habe sich eine Welle des Hasses ergossen. Das habe sie sich nicht angetan. „In meinem Roman wollte ich das dann mal fühlbar machen, wie man bedroht wird und was das für Entwicklungen nehmen kann“, sagte sie. Und man müsse da nicht groß was erfinden: „Frauen in der Öffentlichkeit, die starke Stimmen haben, erleben das.“
Was Doris Knecht den Frauen raten würde, fragte Scheuba. „Ich würde lieber den Männern raten, das nicht mehr zu tun. Frauen können das nicht beeinflussen – man muss den Männern beibringen, keine Täter zu werden. Es ist real, dass Frauen im Netz zu leiden haben.“ Auch Männern passiere das, ja. Aber Männer würden anders beleidigt – Frauen eingeschüchtert und abgewertet. Helfen würde aus Knechts Sicht, wenn Frauen mehr geschützt würden und stärkere Netze bekämen: „Es gibt einfach zu wenige Stellen, wo Frauen hingehen können und dort ernst genommen werden.“
Doris Knecht: Die Nachricht, Hanser Berlin, Berlin, 2021, 256 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3446271036, Leseprobe