Buch Wien: Kafkas Konzern, Punkrock, John F. Kennedy und die Eroberung Amerikas

Stefan Franke (r.) mit Moderator Florian Baranyi.
Stefan Franke (r.) mit Moderator Florian Baranyi.

Der Freitag begann für mich mit einer Lesung auf der Standard-Bühne. Stefan Franke stellte dort seinen neuen Roman „Der Konzern“ vor, den Moderator und ORF-Redakteur Florian Baranyi als „sehr kafkaesk“ einführte. Vieles erinnere ihn an Franz Kafkas „Prozess“. Ein Mann namens Florian Köhler (im „Prozess“ heißt der Protagonist Josef K.) wird von einem Konzern als Unternehmensberater engagiert. Sagt er zumindest. Doch niemand in diesem Konzern weiß über seine Einstellung Bescheid. Es stellt sich dann zwar heraus, dass die Bestellung eines sogenannten „Evaluierers“ diskutiert worden war, es bleibt jedoch ungeklärt, ob seine Berufung tatsächlich erfolgte. So darf Köhler zwar bleiben, aber seine eigentliche Tätigkeit nicht aufnehmen.

Der Konzern wiederum scheint alle durch einen gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat zu kontrollieren und bleibt dabei unnahbar und unerreichbar. Die Angestellten fühlen sich einer nicht direkt greifbaren, seltsam bedrohlichen Hierarchie ausgesetzt.

Bei Überschreitung der Vorschriften – so wird gemutmaßt – droht Schlimmes. Tatsächlich werden von der Konzernleitung aber nie erkennbare Sanktionen gesetzt. Anfangs voll Ehrgeiz und Zuversicht, fühlt sich Köhler zunehmend ohnmächtig angesichts der Diffusität und Undurchschaubarkeit des Systems, in das er sich verstrickt.

“Kafka war mein Lehrmeister“

„Mein ganz großer Pate war Kafka, immer schon; Kafka war mein Lehrmeister“, sagte Franke. Und er sehe in seinem Roman auch Anzeichen von Kafkas „Schloss“. Dort habe der Landvermesser ähnliche Probleme wie der Evaluierer in Frankes „Konzern“. Der 1967 geborene Stefan Franke ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Inhaber einer Werbeagentur und hat mit vielen Firmen und Konzernen zusammengearbeitet. Ihn habe immer abgestoßen, wie Menschen zu einer Personalnummer degradiert werden, gleichzeitig habe ihn aber angezogen, wie schwerfällig Konzerne agierten. Das habe ihn fasziniert.

Franke erzählte eine Anekdote aus seinem Berufsleben: Er war bei einem deutschen Unternehmen in Wien beschäftigt – zu einer Zeit, als es noch keine Großraumbüros gab. Eines Tages sei seinen Kolleg*innen und ihm aufgefallen, wie ein unbekannter, großgewachsener Mann immer durch die Flure und Räume lief, hin und wieder telefonierte und sich Notizen machte, aber sonst keinen Ton sagte. Nach ein paar Tagen habe er den Mann gefragt: „Was machen Sie?“ Der Mann sagte nur ein Wort: „Evaluieren.“ Und dann ging er wieder.

Die Idee für den Roman liegt schon länger zurück, sagte Franke. Wie lange, sagte er nicht. Der Schreibprozess habe dann rund zwei Jahre gedauert. Immerhin ist „Der Konzern“ nicht wie bei Kafkas „Schloss“ ein Fragment geblieben. So viel verrät er: „Herr Köhler kommt ziemlich nah an den Konzern ran, aber wie nah – das sage ich jetzt nicht.“

Stefan Franke: Der Konzern, Hollitzer-Verlag, Wien, 2021, 176 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 20 Euro, ISBN 978-3990128893, Leseprobe

“Pop ist tot“, lang lebe der Punk

Thomas Mulitzer (r.) liest aus seinem Roman. Links: Moderator Florian Baranyi.
Thomas Mulitzer (r.) liest aus seinem Roman. Links: Moderator Florian Baranyi.

Von Kafka zu Punkrock – wenn das mal nicht passt! Der österreichische Singer/Songwriter Thomas Mulitzer stellte am Freitag auf der „Buch Wien“ seinen zweiten Roman vor: „Pop ist tot“. Nach Gott ist jetzt also auch noch der Pop tot. Dabei geht es in Mulitzers Buch weniger um Pop, sondern viel mehr um Punkmusik. Denn „Pop ist tot“ ist nicht nur der Name des Buches, sondern auch der fiktiven Punk-Band, deren ehemalige Bandmitglieder noch heute von ihren Erinnerungen an den Lärm, die Drogen, den Spaß und das jugendliche Gefühl der Unsterblichkeit zehren. „Pop ist tot“ war die glorreichste, lauteste, leidenschaftlichste Punkband der Welt in der österreichischen Provinz der Neunziger.

Aber das ist lange vorbei. Heute kämpfen sich einige durch den grauen Alltag ihrer spießbürgerlichen Existenz, die anderen bekommen ihr Leben nicht auf die Reihe. Bei der erstbesten Gelegenheit fliehen sie auf Teufel komm raus in eine Reunion-Tour quer durch das Land. Dass das in ihrem Alter nicht gutgehen kann, liegt auf der Hand – oder um mit den Ärzten zu fragen: „Ist das noch Punkrock?“

Ein Buch übers Älterwerden und die beste Musik

Der 1988 geborene Mulitzer weiß, wovon er schreibt. Er ist ja nicht bloß Singer/Songwriter, sondern auch noch Gitarrist und Sänger in der Salzburger Mundart-Punkband „Glue Crew“ sowie in der Punkrock-Band „Three on Speed“. Sein Roman sei, kurz zusammengefasst, ein Buch übers Älterwerden und die beste Musik. Punk sei der Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft – beim Pop funktioniere das nicht, hier müsse man seine Instrumente beherrschen und sowas wie eine Gesangsausbildung haben. „Beim Punk ist das egal: Hier kann jede*r ein Instrument spielen und jede*r Songs schreiben.“

Dass es auch ein Buch über das Älterwerden ist, liegt schon daran, dass die ehemaligen Punkrocker von „Pop ist tot“ in die Jahre gekommen sind. Sie arbeiten in Hipster-Berufen und haben sozusagen das ehemalige Lebensmodell verraten. „Ich kenne das aus meinem Bekanntenkreis: Musiker, die jetzt 40 Jahre alt sind, sprechen immer wieder von den alten Konzerten, die sie gespielt haben – in dem Alter sehnt man sich zurück zu den Tourzeiten mit der Band. Man muss auch viel warten, auf den Soundcheck, auf den Konzertbeginn, Auf- und Abbau, aber wenn man da raus geht auf die Bühne, dann entsteht das wirklich Wahre, dann schreit man alles raus.“

Gott ist tot, Pop ist tot, und was ist mit dem Punk? „Punk ist wie ein Zombie“, sagte Mulitzer. „Irgendwie unsterblich, aber so richtig lebendig ist er auch nicht mehr.“

Thomas Mulitzer: Pop ist tot, Kremayr & Scheriau, Wien, 2021, 192 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 20 Euro, ISBN 978-3218012812, Leseprobe, Spotify-Playlist zum Roman, Buchtrailer

Drei Krimi-Autorinnen in 30 Minuten

Elia Barceló (v.l.), Teresa Ruiz Rosas, die Übersetzerin (Name nicht bekannt), Mercedes Rosende sowie Moderator Paco Bernal.
Elia Barceló (v.l.), Teresa Ruiz Rosas, die Übersetzerin (Name nicht bekannt), Mercedes Rosende sowie Moderator Paco Bernal.

Das Instituto Cervantes, das sich mit seinen weltweiten Dependancen zum Ziel gesetzt hat, die spanische Sprache zu fördern und das Kulturgut Spaniens und der iberoamerikanischen Länder im Ausland zu verbreiten, brachte gleich drei bekannte Krimi-Autorinnen aus Spanien, Peru und Uruguay auf die Bühne: Elia Barceló, Mercedes Rosende und Teresa Ruiz Rosas. Leider war die Zeit samt Konsekutivübersetzung dafür etwas zu knapp bemessen.

Der Journalist Paco Bernal fragte die drei Frauen, wie ihre Bücher sich verändert hätten, wenn sie Männer wären. Immerhin sei die Kriminalliteratur doch ein maskulin dominierter Bereich. Elia Barceló ergriff gleich das Wort und sagte, es sei völlig egal, ob man Frau oder Mann sei – wichtig sei zu wissen, welche Person man ist. Und das Dunkle, über das sie als Krimi-Autorinnen schreiben, sei ohnehin vom Geschlecht unabhängig. Teresa Ruiz Rosas erinnerte an einen Essay von Gertrude Stein („Was sind Meisterwerke?“), in dem es heißt, dass es nur so wenige Meisterwerke gibt, weil „die Menschen meist in Identität und Erinnerung leben“. Deshalb solle man die eigene Identität beim Schreiben besser vergessen. Mercedes Rosende erklärte, dass sie natürlich anders schriebe, als ein Mann – „wegen des Drucks, dem wir ausgesetzt sind“. Allein das stereotype Frauenbild „ewig jung und schön“. „Ich würde mich nicht damit befassen, wenn ich ein Mann wäre“, sagte Rosende. Barceló ergänzte, sie selbst würde unüblicherweise eher ältere Hauptfiguren verwenden. „Normal ist: Frauen sind zwischen 20 und 50 Jahre alt, Kommissare müssen immer älter sein – wegen der Erfahrung“, erklärte sie und lachte. Sie versuche damit zu brechen.

“Was weißt du denn über Waffen?“

Sodann will Bernal wissen, wie frei sich die drei Autorinnen in der Themenwahl sehen. Rosende erinnerte sich an eine Begegnung bei einer Lesung mit einem älteren Mann. Der habe sich vor sie gestellt und gefragt: „Was weißt du denn über Waffen?“ Und sie habe einfach zurückgefragt: „Ja, was weißt du denn?“ Bei den Themen gebe es keine Einschränkungen. „Als Autor*in liest man sich ein, recherchiert viel, auch über Waffen. Aber natürlich schreibe ich auch über den Druck in der männerdominierten Welt – das sind die Themen, mit denen ich mich beschäftige.“

Oft würden TV-Serien oder das Kino die Themenwahl beeinflussen, erläuterte Elia Barceló. Ein großes Thema sei auch immer das Marketing: Was verkauft sich wie gut? Was kaufen eher Männer, was eher Frauen? Sie wolle sich aber keine Schranken setzen. Man merke ja, was Mode ist. „Ich mache, was mir gefällt, auch wenn es nicht gerade die Mode ist. Das Problem haben Männer und Frauen, aber Frauen sind vielleicht etwas resistenter.“

Für Teresa Ruiz Rosas ist es wichtig, in den Romanen Hintergründe aufzudecken und Verbrechen nicht als etwas Alltägliches zu zeigen. Wichtig sei aber auch, fügte Barceló hinzu, aufzupassen, dass man nicht zu Übertreibungen neigt. In der US-amerikanischen Kriminalliteratur würden inzwischen sehr oft Serienkiller ihr Unwesen treiben. „Es reicht nicht mehr ein Opfer, nein, es müssen, vier, fünf, sechs Menschen getötet werden, meistens junge, hübsche Frauen. Diese Übertreibungen sind eine Gefahr für die Literatur.“

Elia Barceló, zuletzt: Töchter des Schweigens, Piper Verlag, München, 2017, 432 Seiten, Taschenbuch, 12 Euro, ISBN 978-3492311250

Mercedes Rosende, zuletzt: Der Ursula-Effekt (Teil 3 der Montevideo-Krimis), Unionsverlag, Zürich, 2021, 288 Seiten, Taschenbuch, 18 Euro, ISBN 978-3293005761

Teresa Ruiz Rosas, zuletzt: Wer fragt schon nach Kuhle Wampe?, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist, 2008, 320 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3941037021

John F. Kennedy in Nazi-Deutschland

Oliver Lubrich (r.) und Moderator Wolfgang Popp.
Oliver Lubrich (r.) und Moderator Wolfgang Popp.

Ebenfalls am Freitag stellte der deutsche Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich sein Buch „Das geheime Tagebuch: Was der junge John F. Kennedy als Besucher in Nazi-Deutschland erlebte“ vor. John F. Kennedy reiste als junger Mann dreimal nach Nazi-Deutschland: 1937 als Student; 1939 als Botschafter­sohn, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs; und 1945 als Reporter während der Potsdamer Konferenz. Seine Aufzeichnungen hat Kennedy selbst nie veröffentlicht. „Die Tagebücher zeigen, wie der junge Kennedy die Diktaturen in Europa erlebte, und das ohne nachträgliche Bearbeitungen“, erklärte Lubrich. Neben Kennedys Tagebucheintragungen enthält das Buch als Pendant auch das bislang noch nie veröffentlichte Reisetagebuch von Lem Billings, der als enger Freund und Reisebegleiter des späteren US-Präsidenten die Grand Tour der beiden Studenten aus seiner Sicht dokumentierte.

Gleich bei der ersten Reise nach Europa werde deutlich, dass Kennedy sehr privilegiert ist. Er lässt ein Cabriolet überführen, mit dem sie fortan durch Europa reisen, sie haben Zugang zu Botschaftern, Generälen und allerlei Honorationen, und Kennedy beginnt dabei, seinen politischen Blick zu schärfen. „Kennedys Vater war da eher im Isolationismus unterwegs – lass Europa mal machen, wir halten uns raus, ähnlich wie Donald Trump“, sagte Lubrich. Der junge Kennedy aber habe sich von seinen Europa-Erfahrungen aus zum Interventionalisten gewandelt. „Ihn interessierte sehr die Frage, wie populär die Diktatoren im eigenen Land sind.“

„Absurd: Urlaub im Dritten Reich“

Die erste Stadt in Deutschland, die sie 1937 besuchen, ist München. Dort gehen sie ins Hofbräuhaus, aber auch ins Kino. „Es ist ja absurd aus heutiger Sicht, dass Kennedy da Urlaub im Dritten Reich machte, aber gleichzeitig ist auch unsere Frage spannend, wie viel man wissen kann, wenn man die Augen aufmacht.“

Überhaupt habe es zu der Zeit viele namhafte Beobachter gegeben. Samuel Beckett etwa führte rund ein halbes Jahr lang ein Tagebuch in Deutschland (September 1936 bis April 1937; das Tagebuch erscheint voraussichtlich am 10. Oktober 2022 bei Suhrkamp, Herausgeben ist ebenfalls Oliver Lubrich). Auch Thomas Wolfe („Schau heimwärts, Engel“) war Beobachter, erklärte Deutschland zu seiner zweiten Heimat, verehrte das Land der Dichter und Denker. Mitte der 1930er Jahre kommt er wieder nach Deutschland und erlebt den nationalsozialistischen Massenwahn und Adolf Hitler und erkennt, dass es „sein Deutschland“ nicht mehr gibt. Oliver Lubrich hat sich auch mit Wolfes Deutschlandreise beschäftigt und 2020 im Manesse-Verlag ein gleichlautendes Buch veröffentlicht („Eine Deutschlandreise: Literarische Zeitbilder 1926–1936“).

„Blinde Flecken und Fehleinschätzungen“ beim jungen Kennedy

Im Rückblick seien bei Kennedy „blinde Flecken und Fehleinschätzungen“ zu sehen, aber auch „Einsichten von großer Aktualität“. Kennedys berühmte Berliner Rede von 1963 (“Ich bin ein Berliner”) sei vor dem Hintergrund dieser Europa-Reisen auch anders zu sehen. „Er hat da eine eigene Anfälligkeit gespürt – deshalb hat er diese Reisen nie öffentlich erwähnt – er hätte in Berlin ja sagen können, dass er schonmal in Deutschland gewesen sei, damals zur Nazi-Zeit.“

Bemerkenswert an dem Tagebuch sei einfach das Unredigierte: „Das ist einfach überraschend, diese Ambivalenz von Einsicht und Irrtümern sowie von Banalität und Scharfsinn“, sagte Lubrich. Der Moderator Wolfgang Popp, österreichischer Schriftsteller und Journalist, fügte hinzu: „Und das Bildmaterial ist unglaublich toll!“

Oliver Lubrich (Hrsg.): John F. Kennedy – das geheime Tagebuch; Europa 1937, DVB Verlag, Wien, 2021, 224 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 22 Euro, ISBN 978-3903244184

Eines der 52 besten Bücher des Jahres

Romana Ganzoni liest aus ihrem Roman, neben ihr Moderator Michael Freund.
Romana Ganzoni liest aus ihrem Roman, neben ihr Moderator Michael Freund.

Die Autorin der nächsten Lesung, die ich besucht habe, ist aus dem Schnee angereist: „Bei uns kann man schon Ski fahren“, sagte Romana Ganzoni, die auf der „Buch Wien“ ihren neuen Roman „Magdalenas Sünde“ vorstellte. Für den Radiosender SRF2 Kultur gehört er zu den 52 besten Büchern des Jahres. Das Buch sei eine Erlösungsgeschichte im herbstlichen Zürich. Sie erzähle von Sehnsucht, Nähe, Freundschaft und Fantasie in einer Welt voller Gewalt und sexueller Obsession.

Der Verlag fasst zusammen: Die Realität der Konditoreiverkäuferin Magdalena ist düster. Verlust und Schuld quälen die Bulimikerin und Ex-Prostituierte. Ihr krebskranker Vater dämmert dem Tod entgegen. Ihr Freund und Beschützer macht Pause, weil er ihre zerstörerische Beziehung mit einem selbsternannten Grossschriftsteller nicht länger aushält. Magdalena denkt an Suizid und verlangt gleichzeitig nach einem Wunder. Sie erzwingt es in einem Akt der Selbstermächtigung, als an einem Sonntag ein Mensch in ihr Leben tritt, der nichts mehr zu verlieren hat.

Die Namenspatronin, die biblische Maria Magdalena, sei ihr das erste Mal begegnet, als Ganzoni vier Jahre alt war. „Mich beeindruckte das lange Haar, mit dem sie die Füße von Jesus trocknete – das hat mich geprägt.“ Die Figur habe sie immer interessiert, später habe sie darüber auch einen Abitur-Aufsatz geschrieben. Ohnehin sei das Spiel mit den Namen immer sehr reizvoll für sie.

Die romangewordene Geschichte der Magdalena, die in einer prekären Existenz lebt, eine schwierige Vergangenheit hat und an Bulimie leidet, sei eine erfundene Geschichte und orientiere sich also an keinem Vorbild, sagte die Autorin. „Es stecken darin aber viele Dinge, die mich interessieren, die Ausnützung der Protagonistin zum Beispiel, die sich ja auch selbst ausbeutet, das bewegt mich sehr.“

Sie habe einen Aufsatz von Arno Grün über den Gehorsam gelesen („Wider den Gehorsam“, Klett-Cotta), dessen Kernthese sei: Es komme vor, dass geschundene Menschen ihrem Unterdrücker beitreten, eine Unterform des Stockholm-Syndroms. „Mich interessiert deshalb auch, warum so viele Menschen in Beziehungen zurückkehren, die toxisch und zerstörerisch sind, manchmal auch nur subtil.“ Der Moderator und Journalist Michael Freund fasste am Ende zusammen: „Sehr ungewöhnliches, sehr spannendes Buch und ein tiefer Einblick ins Milieu.“

Romana Ganzoni: Magdalenas Sünde, Telegramme-Verlag, Zürich, 2021, 126 Seiten, Taschenbuch, 14,50 Euro, ISBN 978-3907198520, Buchtrailer

Eroberer – wild, aber erfolglos

Dann ging es für mich weiter zu Franzobel, der seinen schon im Januar 2021 erschienenen Roman „Die Eroberung Amerikas“ auf der Buchmesse den zahlreichen Zuschauer*innen vorstellte. Nach seinem Bestseller „Das Floß der Medusa“ (2017, Zsolnay-Verlag), für den er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, begibt sich Franzobel in seinem neuen Roman auf die Spuren eines wilden, aber erfolglosen Eroberers der USA im Jahr 1538.

Ferdinand Desoto hatte Pizarro nach Peru begleitet, dem Inkakönig Schach und Spanisch beigebracht, dessen Schwester geschwängert und mit dem Sklavenhandel ein Vermögen gemacht. Er war bereits berühmt, als er 1538 eine große Expedition nach Florida startete, die eine einzige Spur der Verwüstung durch den Süden Amerikas zog. Knapp 500 Jahre später klagt ein New Yorker Anwalt im Namen aller indigenen Stämme auf Rückgabe der gesamten USA an die Ureinwohner. Soweit der Plot.

Bier statt Messewasser

Der österreichische Schriftsteller lehnte das angebotene Messewasser ab und blieb lieber bei seinem mitgebrachten Fläschchen Bier. „Ich glaube, ich habe dich bei einer Lesung noch nie ohne Bier gesehen – ist das sowas wie ein Ritual für dich?“, fragte Moderator Günter Kaindlstorfer, österreichischer Literaturkritiker, Schriftsteller und Journalist. „Joa, das beruhigt mich“, antwortete Franzobel und lachte. Es stimme aber nicht, dass er nie ohne Bier lese. „Es gab aber schon Lesungen am Vormittag ohne Bier, und auch im Parlament hatte ich einen Vortrag ohne Bier – dabei hätte ich da eins haben sollen.“

Doch zurück zu den Eroberern. Franzobel kam die Idee zum neuen Buch beim Fernsehen. “In einer TV-Doku fiel in einem Nebensatz der Name Ferdinand Desoto und dass er einer der erfolglosesten Conquistadoren gewesen sei – das interessierte mich.“ Er habe dann viel recherchiert, auch in Spanien, wo die Eroberer noch immer sehr angesehen seien. Nur in den gebildeteren Schichten sei auch Kritik zu hören.

Als Desoto aufbrach, hatte er ein drittes Goldland erwartet, das ihm Reichtum bringen würde. „Dass die damaligen Goldschätze die Inflation unglaublich beschleunigt haben, wusste ich auch nicht“, sagte Franzobel in dem Zusammenhang.

Der Impuls zum Schreiben sei dann durch die Recherche entstanden. “Mich hat die Zeit fasziniert. Es gab ein anderes Weltbild, die Wissenschaft hat sich von der Religion getrennt, man hat die Kindheit kennengelernt, die der Gegenpol war die spanische Inquisition, die an den alten Werten festhalten wollte.“

Seinen neuen Roman wird Franzobel über die Physik schreiben, soviel verriet er schon. “Ich war vor zehn Jahren im CERN in der Nähe von Genf, und seitdem hat das Thema in mir gegärt – und jetzt schreibe ich darüber.“

Franzobel: Die Eroberung Amerikas, Zsolnay-Verlag, München, 2021, 544 Seiten, gebunden, 26 Euro, ISBN 978-3552072275, Leseprobe

Austrofred, Barbi und Christl Clear

Kaum zu übersehen: Austrofred (r.), neben ihm Moderator Stefan Weiss.
Kaum zu übersehen: Austrofred (r.), neben ihm Moderator Stefan Weiss.

Die letzten Lesungen, die ich an diesem Tag noch besucht habe, waren die von Austrofred, nochmal von Barbi Marković und von der österreichischen Bloggerin Christl Clear.

Austrofred hatte ich zuerst 2013 auf der “Buch Wien“ live gesehen, das neuste Werk des Freddie-Mercury-Wiedergängers trägt nun den doppeldeutigen Namen “Die fitten Jahre sind vorbei“, ein zwei Jahre andauerndes Frage-und-Antwort-Stück zwischen dem oberösterreichischen Tausendsassa und seinen Fans, geführt bei Facebook. Themen? “Nun, vielfältig: Ernährung, Metaphysik, altersbedingte Erscheinungen.“ Und so geht es oft los mit “Sehr geehrter Herr Austrofred, …“.

Zum Abschluss erfuhren die Zuschauer*innen noch einen kurzen Einblick in Austrofreds Fähigkeiten. Nein, er sang nicht, und er zeigte auch nicht seine viel gerühmten Mercury-Moves, sondern er beantwortete schlichtweg die Frage, wie lange es den Menschen noch gibt: “500 bis 600 Jahre.“ Woher er das weiß? “Das ist ein Gefühl. Ich habe eine Gabe dafür.“ Wie lange es Austrofred noch gibt? “Bis man mich von der Bühne trägt.“

Bei Barbi Marković bin ich nochmal gewesen, um so weitere Zitate für meine irgendwann folgende Rezension ihres Romans “Die verschissene Zeit“ zu bekommen.

Und die Bloggerin Christl Clear hat mich interessiert, weil sie als schwarze Feministin viele vor allem junge Menschen inspiriert. Christl Clear, die mit richtigem Namen Christina heißt, ist mit drei Geschwistern und ihren nigerianischen Eltern in einfach Verhältnissen aufgewachsen. Das Studium hat sie abgebrochen, sie hat für Lifestyle-Magazine geschrieben, sie hat gebloggt und ist jetzt bei Instagram. Mehr als 38.000 Menschen folgen ihr dort.

Christl Clear liest aus ihrem Debüt, neben ihr Moderator Michael Freund.
Christl Clear liest aus ihrem Debüt, neben ihr Moderator Michael Freund.

Frei nach dem Liedermacher Wolfgang Ambros nennt sie sich eine “Blume aus dem Gemeindebau“. Sie schreibt mit Slang und Wiener Schmäh, ihr Buch aber sei kein Ratgeber, sondern eine Textsammlung zu Themen, die sie interessieren und wichtig findet, erklärte sie bei der “Buch Wien“. Das Buch trägt den einprägsamen Titel “Let me be Christl Clear“. Lässt man ihren Namen weg, bleibt “Let me be“, “Lasst mich sein“.

Es geht um das Lebenlassen, ohne Alltagsrassismus, Sexismus und den ganzen Druck von außen (etwa zum Heiraten, was sie vorliest: „Ihr müsst nicht heiraten“, “Ihr braucht keine bessere Hälfte, ihr seid das bessere Ganze“). „Macht das Nickerchen. Sagt die Party ab, fahrt (alleine) auf Urlaub, besteht beim Sex darauf, dass ihr auch befriedigt aus der Geschichte rausgeht, und sagt öfter mal ‚Nein’ zu Dingen, auf die ihr keinen Bock habt.“

Austrofred: Die fitten Jahre sind vorbei, Czernin-Verlag, Wien, 2021, 200 Seiten, Taschenbuch, 18 Euro, ISBN 978-3707607321

Barbi Marković: Die verschissene Zeit, Residenz-Verlag, Salzburg und Wien, 2021, 229 Seiten, Taschenbuch, mit Beiheft, 24 Euro, ISBN 978-3701716982, LeseprobeSpielmaterial

Christl Clear: Let me be Christl Clear, Kremayr & Scheriau, Wien, 2021, 160 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3218012874

Zeichnung des Künstlers als junger Mann

VenustransitBen Rama ist wirklich nicht zu beneiden: Er arbeitet in einem öden IT-Job und ist damit sehr unglücklich. Seine Freundin wiederum ist unglücklich mit ihm, genervt von seiner stetig trüben Laune und seiner Antriebslosigkeit. Und eigentlich will Ben nur eines: Zeichnen und als Künstler wahrgenommen werden. In „Venustransit“ erzählt der Deutsch-Iraner Hamed Eshrat die anrührende wie mitreißende Geschichte des jungen Berliners Ben, mit viel Drive, Lokalkolorit und feinem Gespür für Kleinigkeiten, die keine Nebensächlichkeiten sind.

Wir befinden uns in Berlin-Kreuzberg, einer der angesagten Kieze. Ben ist ein grauer Mäuserich, der untergeht in der Masse der Kreativen und Hippen auf den Straßen in der Hauptstadt. Er schwelgt und träumt von seiner Zukunft als Zeichner, und weiß dennoch nicht so recht, wie er das eigentlich anfangen soll. Seine Freundin Julia hängt nicht mehr an seinen Lippen, sondern an denen eines Freundes, zunächst nur metaphorisch, später auch real. Denn sie hat genug von Ben, wie er durchs Leben tapert, lethargisch, verbittert gar, und dabei nur nach Aufforderung in der Lage ist, Pfandflaschen wegzubringen.

„Ich kann’s nicht mehr hören, Glück, Glück, Glück! Weiß doch keiner mehr, was das ist“, sagt Ben an einer Stelle. Nein, was Glück ist, das weiß auch Ben nicht. Das muss er suchen und erfahren. Und was so pathetisch und abgedroschen klingt, das gelingt in „Venustransit“ so überragend anders. Seine Freundin Julia trennt sich von Ben, und natürlich folgt auch eine Phase des Herzschmerzes. Er selbst sieht sich in der Rolle des Sisyphos, einer immer wiederkehrenden Szene in seinen Zeichnungen. Eshrat spielt mit den Klischees einer solchen Story, kann den Leser aber dann immer wieder neu überraschen.

Bens Travelerbook als Faksimile

Faszinierend in diesem Zusammenhang ist etwa Bens Reise nach Indien. Die nimmt einen Extrateil des Buches ein, der sich auch zeichnerisch vom Rest abhebt. „Interludium – Die Reise“ ist dieses Kapitel überschrieben. Darin findet sich Bens Travelerbook als Faksimile mit Bordkarten, Visitenkarten von Hotels und Rechnungen von Restaurants, aber vor allem mit vielen Zeichnungen, Entwürfen, Skizzen, die Ben während seiner Reise angefertigt hat. Allein in diesem Teil kann man sich lange aufhalten, in Ruhe den Strichen folgen, seinen Gedanken nachhängen. Und wer genau hinschaut, erkennt auch hier, dass Bens Geschichte zum Teil autobiographisch sein muss.

Eshrat zeichnet nur mit Bleistift und Kohle. Was aber dessen Phantasie entspringt, ist so bunt, dass es dafür keine Farben braucht. Kraftvoll, kontrastreich, und manchmal ganz schön skurril und abstrakt – das ist sein Stil. Reich an Anspielungen ist „Venustransit“ zudem: Als Ben nach einer Nacht im Berghain von einem Käfer begrüßt wird, ist das eine deutliche Hommage an Franz Kafkas „Verwandlung“, aber es kommen auch Rainer Maria Rilke oder Walt Whitmann zu Wort (Kinogänger erkennen vielleicht eher ein Zitat aus dem „Club der toten Dichter“).

Das Berghain wiederum gehört natürlich zur Kategorie Lokalkolorit, wie auch Alis Späti, wo sich Ben mit seinen Freunden Beule und Tim trifft. Gentrifizierung und Bio-Läden, Neubaugebiete und der stetige Wandel der Stadt, das sind die Themen, die wie beiläufig eingestreut werden und dennoch einen zweiten Zugang zu dieser Großstadt-Graphic-Novel erlauben.

In Teheran geboren, in Bünde aufgewachsen

Hamed Eshrat, der 1979 in Teheran geboren wurde und 1986 mit seiner Familie nach Deutschland floh, wuchs in Bünde (Kreis Herford) auf. Nach dem Abitur studierte er Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee sowie an der Massey-Universität in Wellington (Neuseeland). Heute arbeitet er als Designer, freischaffender Künstler und Autor in Berlin und hat damit den Traum verwirklicht, zu dem sein Held aus „Venustransit“ noch unterwegs ist.

In Eshrats erster Graphic Novel „Tipping Point – Téhéran 1979“ hat er die Geschichte seiner Familie während des politischen Umbruchs im Iran der 70er Jahre erzählt. Dieser Comic ist bislang leider nicht auf Deutsch erschienen, sondern nur in Frankreich bei Edition Sarbacane. Das Manuskript von „Venustransit“, Eshrats zweiter Graphic Novel, wurde 2015 unter die zehn Finalisten des Deutschen Comicbuch-Preises der Berthold-Leibinger-Stiftung gewählt.

Wer jetzt noch zweifelt, ist vielleicht nur noch mit Musik zu überzeugen: Viele Künstler haben in Berlin große Inspiration gefunden: David Bowie, Iggy Pop, Lou Reed oder Federico Aubele. Wer Musik liebt und Schallplatten nicht nur als Hype begreift, wird mit „Venustransit“ einen grandiosen Großstadt-Soundtrack lesen. Nur dass Eshrats Arm der Tonarm ist – und sein Bleistift die Nadel.

Hamed Eshrat: Venustransit, Avant-Verlag, Berlin, 2015, 255 Seiten, Klappenbroschur, 24,95 Euro, ISBN 978-3945034330, Leseprobe

Seitengang dankt dem Avant-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Buch Wien: Adolf Muschg verfehlt das Thema und Judith Holofernes hat jetzt was mit Tieren

Adolf Muschg bei seiner Eröffnungsrede zur Buch Wien 2015. © Christian Lund
Adolf Muschg bei seiner Eröffnungsrede zur Buch Wien 2015. © Christian Lund
Die achte internationale Buchmesse „Buch Wien“ ist eröffnet. Am Mittwochabend trat der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg eine schwere Nachfolge an, als er seine Version einer Eröffnungsrede zum Thema „Die Zukunft des Lesens“ hielt. In den beiden Vorjahren hatten die deutsche Autorin und Georg-Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff sowie die deutsche Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller lobenswerte Vorträge gehalten.

Diese Fußstapfen waren aber wohl doch zu groß für den 81-jährigen Zürcher und Büchner-Preisträger. Er versuchte es mit intellektuellen Sätzen, schrammte aber mit Wucht am Thema vorbei. Statt von der Zukunft des Lesens zu sprechen, fabulierte er über den Zustand desselben („Lesen, das heißt in fast jedem Fall digital.“). Und als die Worte fehlten, das Gewünschte zu umschreiben, half schließlich das eigene Werk, das er schon vor beinahe zwanzig Jahren verfasste und aus dem er nun zitierte („Der Rote Ritter: Eine Geschichte von Parzival“). Eine originelle Eröffnungsrede, von der man noch im nächsten Jahr sprechen wollen wird, war das nicht. Allenfalls das Zitat aus einem Brief von Franz Kafka an dessen Schulfreund Oskar Pollak war erhellend in Muschgs Vortrag:

„Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Bücher und Bildung sind wichtig für die Integration

Zuvor hatte Benedikt Föger, Präsident des österreichischen Buchhandels-Hauptverbands, den Schwerpunkt der diesjährigen Buchmesse genannt: Die Verständigung zwischen den Kulturen oder, so das Motto der Buch Wien 2015, „Literatur ist grenzenlos“. Bücher und Bildung seien wichtig für die Integration, insbesondere in diesen Zeiten, da Flüchtlinge ins westliche Europa kämen, um in ihrer Not Zuflucht zu suchen. Bücher und Literatur könnten hier „einen zentralen Beitrag leisten“ und der „Fels in der Brandung und der Leuchtturm zur Orientierung“ sein, erklärte Föger.

Die schottische Krimi-Autorin Val McDermid (l.) liest aus ihrem neuen Roman, Peter Faerber (r.) liest die deutschen Texte, Florian Scheuba (2.v.r.) moderierte. © Christian Lund
Die schottische Krimi-Autorin Val McDermid (l.) liest aus ihrem neuen Roman, Peter Faerber (r.) liest die deutschen Texte, Florian Scheuba (2.v.r.) moderierte. © Christian Lund
Nach der Eröffnungsrede fand zum zweiten Mal die „Lange Nacht der Bücher“ statt, die im vergangenen Jahr einen fulminanten Auftakt erlebt hatte. Mehr als vier Stunden gaben sich die Autoren auf den verschiedenen Bühnen in der Messehalle die Mikrofone in die Hand, um aus ihren aktuellen Werken vorzulesen. Darunter waren die schottische Krimi-Bestsellerautorin Val McDermid, Ex-„Wir sind Helden“-Sängerin Judith Holofernes und der deutsch-österreichische Kabarettist Dirk Stermann. Auf den Brettern des Jugendkulturradiosenders FM4 lieferten sich derweil Poetry-Slammer wortgewaltige Wettkämpfe um die Gunst der Zuhörer. Der zeitweilig alle anderen Veranstaltungen erreichende Beifall des Publikums machte deutlich: Poetry Slam fristet als Literatur- und Kunstform auch in Österreich kein Nischendasein mehr, sondern ist in der Akzeptanz der breiten Masse angekommen.

Neben den Poetry Slammern war es wohl Judith Holofernes, die in dieser „Langen Nacht der Bücher“ den meisten Zulauf hatte. Im Oktober hat sie im Klett-Cotta-Verlag ihr erstes Buch mit Tiergedichten herausgegeben, illustriert von der österreichischen Illustratorin und Malerin Vanessa Karré, die wie Holofernes in Berlin lebt. „Du bellst vor dem falschen Baum“ heißt das Werk (Buch-Trailer des Verlags) und wird von der Literaturkritik geliebt und gehasst. „Ein großartiger Quatsch“ meint Wolfgang Höbel im Literatur Spiegel (November 2015), „tierisch gut“ findet Britta Heidemann von der WAZ (3. November 2015), Stefan Gmünder vom Standard ist vor allem von den Illustrationen überzeugt: „Das Problem des Bandes besteht aber nun darin, dass er auch Texte hat.“

Über die Hoden eines Oktopus

Ex-"Wir sind Helden"-Frontfrau Judith Holofernes im Gespräch mit Florian Scheuba. © Christian Lund
Ex-„Wir sind Helden“-Frontfrau Judith Holofernes im Gespräch mit Florian Scheuba. © Christian Lund
Holofernes gibt am Mittwochabend offen zu, dass die ersten zehn Gedichte für die Lyriksammlung eher albern waren. Dann habe sich die Illustratorin aber ernstere Gedichte gewünscht, und so habe sie also ernsthaftere Zeilen verfasst. Und als Karré unbedingt einen Oktopus habe malen wollen, hätte sie schließlich auch über einen Oktopus geschrieben, genauer über die Hoden eines Oktopus. „Mittlerweile weiß ich, dass der Oktopus seine Hoden auf dem Kopf trägt“, sagt Holofernes lachend und sorgt mit Moderator Florian Scheuba für einen kurzweiligen Ausflug in die Welt der Hoden. „Zoologisches Wissen habe ich nicht wirklich“, erklärt Holofernes. Aber gerade das sei in ihrer Art der Lyrik auch nicht so wichtig.

Sie liest natürlich ein paar ihrer Gedichte vor, obgleich sie seit dem Morgen etwas indisponiert ist, als sie sich auf die Zunge gebissen hat. Doch das Lesen gelingt ohne Lispeln und trotz Zungenbrecher-Qualitäten ohne einen solchen. Ja, man kann es ahnen, dass ihre Gedichte Befremden auslösen. Manch einen erinnern sie vielleicht an Helge Schneiders „Vogelhochzeit“, andere könnten argwöhnen, sie ahme einfach nur den großen Robert Gernhardt nach. „Es ist schwer, den Leuten zu erklären, warum ich Tiergedichte schreibe. Vielleicht ist die Antwort: Weil ich es kann“, sagt Holofernes selbstbewusst. Als Kind sei sie mit bis zu sieben Tieren aufgewachsen, darunter ein Papagei, der immer nur Hallo sagte, und ein Beo, der dagegen sehr gesprächig war und Dinge wie „Na, du alte Sau“ sagen konnte.

„Als ich mit den ‚Helden‘ aufgehört habe, wollte ich nicht in die nächste Identifikation geraten, sondern das Leben herstellen, in dem ich konsequent schreibe“, erklärte die 36-Jährige. So sei auch die Soloplatte („Ein leichtes Schwert“) zustande gekommen. Dass Holofernes schon länger Tiergedichte schreibt, wissen vor allem ihre Fans und eifrigen Besucher ihres Blogs. Inzwischen sei sie schon wieder tief im Songschreiben, verriet sie. „Ich könnte mir aber auch vorstellen, noch einmal ein Buch zu schreiben.“

Judith Holofernes: Du bellst vor dem falschen Baum, Tropen Verlag, Stuttgart, 2015, 104 Seiten, gebunden, 17,95 Euro, ISBN 978-3608501520

Die Buchmesse in Wien hat in diesem Jahr etwas verhalten begonnen – kein Vergleich zum Jahr 2013, als dieser Blog zum ersten Mal von der Buch Wien berichtet hat. Noch bis Sonntagabend werden bei der Buch Wien auf rund 8.800 Quadratmetern die Neuerscheinungen dieses Herbstes präsentiert.

Ferdinand von Schirach eröffnet Wiener Lesefestwoche

Der Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach. Foto: Andreas Pein
Der Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach.
Foto: Andreas Pein
Der deutsche Schriftsteller und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach hat am Montagabend die Wiener Lesefestwoche 2013 eröffnet. Im Rathaus las er aus seinem jüngst erschienenen Roman „Tabu“ und stellte sich den Fragen des Publikums.

Der brillante Erzähler wusste die Gäste im repräsentativen Stadtsenatssitzungssaal zu belustigen und zu unterhalten. Thomas Mann, Michel Houellebecq, Franz Kafka und Johann Wolfgang von Goethe – sie alle fanden Platz in seiner gekonnten Rede.

Im Nachgang riet er angehenden Autoren, nicht Teil des Literaturbetriebs zu werden und sich nicht zu ernst zu nehmen. Erst im Oktober hatte er der Legal Tribune Online in einem Interview erklärt, er sei keineswegs in den Literaturbetrieb eingetaucht: „Im Gegenteil: Die meisten Feuilletonisten und die meisten Schriftsteller betrachten mich als Fremdkörper in ihrer Welt. Das ist auch ganz in Ordnung so. Über den „Literaturbetrieb“ werde ich also nie schreiben, ich kenne ihn kaum und er interessiert mich auch nicht besonders.“

Noch bis Sonntag geht es bei mehr als 300 Veranstaltungen in Österreichs Hauptstadt um Bücher, Bücher und nochmals Bücher. Am Donnerstag beginnt zusätzlich die sechste Internationale Buchmesse „Buch Wien“. Dort wird am Vorabend die deutsche Autorin und Georg-Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff als Festrednerin erwartet, die angekündigt hat, über die Zukunft des Lesens sprechen zu wollen.

Die Rezension zu Ferndinand von Schirachs Roman „Tabu“ ist hier abrufbar.

Seitengang wird in den kommenden Tagen sowohl von der Lesefestwoche als auch von der „Buch Wien“ berichten.

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