Die Traumtänzer vom Abgrund

Wir schreiben den 16. November 1925. Mitten im Berliner Amüsierviertel der Friedrichstraße dümpelt eine männliche Leiche in der Spree, Hinterkopf nach oben. Kein Schwimm- oder Tauchunfall, sondern: Mord. Das Opfer ist ein Journalist, der für das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ geschrieben hat. Im Ausklang des Jahres, in dem in München die NSDAP neu gegründet wurde, Hitler den ersten Band von „Mein Kampf“ veröffentlichte und die SS ins Leben gerufen wurde, lässt die Autorin Kerstin Ehmer ihren sympathischen Kommissar Ariel Spiro in einem Fall ermitteln, in dem er oft einen Schritt zu spät zu kommen scheint.

Der dritte (und bisher beste) Roman mit dem Titel „Der blonde Hund“ knüpft nahtlos an den Vorgänger an, in dem Spiro Boxunterricht genommen hatte, um den nationalsozialistischen Schlägertrupps etwas entgegensetzen zu können, und in dem die Ausbreitung des Antisemitismus beschrieben wird.

Die Spirale beginnt nun, sich schneller zu drehen. Die Nazis treten selbstbewusster auf, versammeln Geldgeber um sich und vertreiben ihre hirnlosen Schläger in die zweite Reihe. Wer ihnen dort vor die Füße fällt, dem gnade Gott.

Der Judenhass bricht sich Bahn, und auch Ariel Spiro bekommt nun häufiger antisemitische Vorurteile um die Ohren gepfeffert. Er trägt zwar einen jüdischen Namen, ist aber kein Jude. Im ersten Roman „Der weiße Affe“ hatte Spiro noch immerzu betont, seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel sei ein Luftgeist. Mittlerweile hat Spiro die Erklärungen aufgegeben. Sein Umfeld weiß Bescheid, und den Nazis ist in ihrer erbitterten Ideologie ohnehin nicht zu helfen.

„Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn“

Spiros Ermittlungen führen ihn zunächst in die Villa des bekanntesten Berliner Pianofabrikanten Eduard Bachmann („Ihre Klimperkästen sind der Stolz der Stadt“). Er und seine Frau Helena hatten sich mit dem Verleger-Ehepaar Feldstein aus München im Hotel Adlon zum Dinner getroffen. Zugegen war auch ein weiterer Herr aus München, den die Kellner als „fleischlos“ bezeichnen, als Vegetarier. Helena Bachmann beschreibt ihn hingegen so: „Oh, das ist ein überaus interessanter Mann, ein aufstrebendes, politisches Talent mit großem Potenzial. Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn.“ Der Name des Mannes wird an keiner Stelle des Romans benannt; aber es dürfte sich bei ihm um Adolf Hitler gehandelt haben.

Zurück zum Mordfall: Spiros Spur bringt ihn schließlich nach München, wo der sogenannte „Blonde Hund“ abgetaucht sein soll, ein junger Mann, der im Verdacht steht, eine Verbindung zum Mordopfer gehabt zu haben. Spiro schleicht sich unter falschem Namen im deutsch-nationalen Salon der Feldsteins ein und ermittelt im Kreis der höchsten Gesellschaftsschichten Münchens. Er begegnet dem Vater von Heinrich Himmler, wird auf der Reise zum nächsten Fixpunkt seiner Ermittlungen von einem Trupp Nazis aufgemischt, und recherchiert bei den Artamanen, wo der „Blonde Hund“ untergekommen sein soll. Die Artamanen wollten im Osten des Deutschen Reiches möglichst autark von bäuerlicher Tätigkeit leben („Fast jeden Tag ein Ei, das ist schon was“), auch um polnische Saisonarbeiter aus dem Land zu drängen. Sie verfochten eine völkische, agrarromantische Blut-und-Boden-Ideologie, 1934 gingen sie in der Hitlerjugend auf. Heute gibt es sie übrigens wieder, die völkischen Siedler: Neo-Artamanen nennen sie sich.1)

Äußerst penibel recherchiert

In Ehmers brillantem Kriminalroman ist wie immer viel drin, und dennoch wirkt er an keiner Stelle überfrachtet. Die Autorin recherchiert für ihre Romane stets äußerst penibel und schafft mit ihrem Fachwissen die prächtige Bühne für ihre Figuren. Natürlich schwingt auch immer viel Lokalkolorit mit: Die Männer trinken sich abends ihre Molle, die Damen gießen sich das Likörchen aus der Mampe-Flasche ein, und dann geht’s hinein ins pulsierende Berlin mit seinen Clubs und Bars, mit Tanz und Eleganz, mit Jazz und Klaviermusik. Dazu die Reichen und Schönen, die Arbeiter und Elenden, die Verbrecher und die ganze politische Dramaturgie der scheinbar Goldenen Zwanziger.

Während Spiro durch Deutschland fährt, bleibt seine eigenwillige Geliebte Nike Fromm in Berlin. Neugierig nimmt sie an Séancen teil, geht zu einem Wahrsager und versucht auf eigene Faust, das Rätsel um einen schwer verletzten jungen Mann zu lösen, der offenbar von einem brutalen Nazi-Offzier bei ausartenden SM-Spielen misshandelt wurde. Um Näheres herauszufinden, besucht sie eine Pension, in der Menschen mit dieser besonderen sexuellen Neigung im wahrsten Sinne des Wortes verkehren und in der niemand Fragen stellt.

Ja, es ist viel drin zwischen den beiden Buchdeckeln, und Kerstin Ehmer gelingt es auch in ihrem dritten Roman, gekonnt und mit viel Feingefühl die Spannung zu halten. Es ist ein geschickter Schachzug der Autorin, ihren Kommissar durchs Land reisen zu lassen, in einer Zeit, an der Deutschland langsam an den Scheitelpunkt gerät. Hervorragend stellt sie dar, wie die nationalsozialistische Ideologie auf der einen Seite bei immer mehr Menschen verfängt, während sie auf der anderen Seite abgetan oder gar unterschätzt wird. Der Oberkommissar der Politischen Polizei etwa verkennt die Lage völlig und sagt zu Spiro: „Meine Abteilung ermittelt überwiegend am linken Rand des politischen Spektrums, wo ich persönlich die größere Gefahr für unsere Republik sehe. Die Nationalsozialisten sind so gut wie tot.“

Nur eine ist hellsichtig und klug

Der Abgrund nähert sich, und selbst Spiro sieht es nicht. Für ihn sind die Bachmanns und Feldsteins alle „Traumtänzer, die mit Scheuklappen die Gegenwart ausblenden“. Nur eine in diesem Roman ist hellsichtig und klug: Nike Fromm. Sie sagt zu Spiro: „Etwas geschieht. Aber es ist viel größer als dein Fall. Es geschieht gleichzeitig an verschiedenen Orten. Der Aberglaube ist zurück. Unwissen und Dummheit sind wiederauferstanden und der Hass auf die Juden. Wir gehen nicht mehr vorwärts. Wir gehen zurück.“

Weniger als ein Jahr ist Spiro jetzt in Berlin. Er hat ein Mädchen gefunden, liebe Freunde und eine neue Heimat. Man hofft so sehr, dass die wandelnden Zeiten ihm das Glück nicht zerstören, aber wir gedanklich Zeitreisenden wissen es vermutlich besser: Das wird arg und ärger. Ja, fürwahr, der Abgrund nähert sich. Spiro, was wirst du tun?

Kerstin Ehmer: Der blonde Hund, Pendragon-Verlag, Bielefeld, 2022, 460 Seiten, broschiert, 22 Euro, ISBN 978-3865327635, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

1) Der „Deutschlandfunk Kultur“ hat 2017 in der Sendung „Zeitfragen“ über die neuen völkischen Siedler im ländlichen Raum berichtet. Der Beitrag ist hier nachzulesen.

Anlauf in Richtung Abgrund

Wenn Sie an historische Kriminalromane denken, die in Berlin zur Zeit der späten Weimarer Republik und des Nationalsozialismus spielen, kommt Ihnen sicher sofort die Reihe von Volker Kutscher um den nach Berlin versetzten Kommissar Gereon Rath in den Sinn. Es gibt eine Comic-Adaption sowie die sehenswerte Verfilmung als Kriminalserie „Babylon Berlin“. Aber kennen Sie auch Kerstin Ehmer und ihre Reihe über den Kriminalkommissar Ariel Spiro? 2017 ist der phänomenale erste Band mit dem Titel „Der weiße Affe“ erschienen, 2019 folgte „Die schwarze Fee“, und bereits Mitte Februar 2022, früher als ursprünglich vom Verlag geplant, kommt der dritte Fall mit dem Titel „Der blonde Hund“.

Während Kommissar Spiro in seinem ersten Fall den Mord an einem jüdischen Bankier aufklären musste, der mit eingeschlagenem Schädel im Treppenhaus seiner Geliebten zu liegen kam, hat er es in „Die schwarze Fee“ mit einem doppelten Giftmord zu tun. Es beginnt damit, dass an einem Sonntag bei bestem Sommerausflugswetter eine männliche Leiche auf dem Oberdeck eines Dampfers sitzt, und keiner der 70 Fahrgäste hat gesehen, wann sie vom Leben in den Tod hinüberfuhr.

Berlin von allen Seiten, und dabei oft von unten

In hervorragender (und niemals: billiger) Cliffhanger-Manier wechselt Kerstin Ehmer ständig die Perspektiven und beleuchtet den Fall und die Hauptstadt des Vergnügens und Verderbens von allen Seiten, und dabei oft von unten. Denn während die feine Gesellschaft ihr Auskommen hat und die schillernde Schönheit von Berlin in vollen Zügen auskosten kann, erleben wir in den dunklen Gassen und Gossen, in den Hinterhöfen, auf den Industrieflächen, an den Bahnlinien und in den Kneipen mit den Menschen die kalte Realität.

Ein besonderes Augenmerk liegt auf den russischen Emigrant*innen, die nach der Oktoberrevolution 1917 nach Berlin geflohen sind. Bis zu 350.000 Russinnen und Russen lebten damals in Berlin, der „Stiefmutter der russischen Städte“, wie man die Stadt nannte.

In der Stadt unterwegs ist auch die gefürchtete Tscheka, die sowjetische Geheimpolizei, die auf der Suche nach möglichen Gegner*innen der neuen russischen Machtstrukturen gnadenlos durchgreift. Heute kennt man die Verbrechen der Tschekisten unter dem Begriff „Roter Terror“. Genaue Opferzahlen gibt es nicht. Schätzungen gehen von 250.000 bis 1.000.000 Opfern aus.

Zeitgeschichtlich hochpolitischer Stoff

Es ist also ein zeitgeschichtlich hochpolitischer Stoff, den Kerstin Ehmer hier gut recherchiert zu Papier gebracht hat. Sie verwebt die politisch-gesellschaftliche Brisanz geschickt mit der Hintergrundgeschichte und den Nebenschauplätzen dieses Romans. So hatte Kommissar Ariel Spiro im ersten Roman eine kurze Liebelei mit Nike Fromm, der Tochter des ermordeten Bankiers. In „Die schwarze Fee“ ist Ariel nun trauriger Single mit wundem Herzen, während Nike mit dem Werkzeugmacher Anton Kraftschick angebandelt hat, einem Sozialisten, der sich nach Feierabend um Familien in Not kümmert. Doch nun ist Anton verschwunden; und wer sollte Nike besser helfen können, als Ariel Spiro? Den Rest könnte man sich fast denken. Tatsächlich ist es aber bei Kerstin Ehmers Romanen nie so, wie man sich das denkt.

Zu den grandiosen Szenen dieses Romans gehören etwa jene, in denen sich Antons Mutter, eine der starken Frauenfiguren, einen Ober-Nazi schnappt, den sie für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich macht, sowie die screwballartige Begebenheit, als mehrere Männer versuchen, unbemerkt eine Leiche verschwinden zu lassen. Nicht nur hier wird Ehmers besonderer Blick für Zwischentöne und Nuancen deutlich. Ihre Art zu schreiben, ist ohnehin eine Wucht.

Nazis klatschen oder: Wie boxt man eigentlich richtig?

Es ist viel los in diesem zweiten Roman, und das spiegelt so hervorragend den vielfältigen Trubel in Berlin wider: die Arbeiter, die Nazis, die Russen, und die Kinderbanden, die Tanzpaläste und Kneipen, die Anarchisten, die SPD und die Frage, wie boxt man eigentlich richtig; Armut, Reichtum und die Syphilis, die nicht nach arm und reich unterscheidet.

Hatte der erste Roman noch ein euphemistisches Flair der Goldenen Zwanziger, verliert Berlin diese Leichtigkeit nun langsam. Die Nazis verdreschen unverhohlen politische Gegner, und der Umgang auf den Straßen wird ruppiger. Tendenzen von Antisemitismus werden erkennbar, und wir wissen: Das ist der Anlauf in Richtung Abgrund.

Die Geschichte um Ariel Spiro geht weiter. Bereits in wenigen Tagen erscheint der dritte Teil, der im November 1925 spielen soll. Aus einem Berliner Kanal wird die Leiche eines Journalisten gezogen, der für das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ geschrieben hat. Ariel Spiro wird dafür nicht nur in Berlin ermitteln, sondern in ganz Deutschland, das in diesem Jahr deutlicher unter nationalsozialistischem Eindruck steht: In München ist die NSDAP neu gegründet worden, Hitler veröffentlicht den ersten Band von „Mein Kampf“, und die SS wird ins Leben gerufen. Der Abgrund nähert sich.

Kerstin Ehmer: Die schwarze Fee, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2019, 397 Seiten, broschiert, 18 Euro, ISBN 978-3865326560, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Faber hält sich raus

Diese Wiederentdeckung von einem Roman erzählt die Geschichte von Ulrich Faber, einem Bankier und Hedonisten im Berlin der 1920er Jahre, der sich in den politischen und wirtschaftlichen Wirren der damaligen Zeit und während des Erstarkens des Nationalsozialismus in die wesentlich jüngere Gerda Rohr verliebt.

Wir begleiten Ulrich Faber von 1918 bis in die Mitte der 1930er Jahre. Anfangs ist er 43 Jahre alt, ein Beau, weltmännisch und eloquent und von Kollegen durchaus mit Argwohn betrachtet. Er leitet neben dem Seniorchef das „angesehene Bankhaus Dönhoff, die bedeutendste Berliner Privatbank“ und ist vom Ersten Weltkrieg gezeichnet. An der Front rettete er einen Kameraden und fing sich dabei einen Granatsplitter ein. Gerda Rohr, der Ulrich schon bald begegnet, ist ein Wildfang, keck und mit schneller Auffassungsgabe. Ulrich will sie lehren und anleiten, wie alte Männer nun mal so die jungen Dinger lehren wollen – das bekannte Muster, das sich Männer eines gewissen Alters, noch dazu finanziell gut ausgestattet, gerne zusammenphantasieren.

„Aber was tust du denn?“

Aber Gerda macht da nicht mit. Sie ist die „Schwimmerin“, die ihre eigenen Bahnen zieht – ohne Vorgaben. Sie emanzipiert sich, und es sind starke Szenen in diesem Roman, in denen sie beharrlich ihre Eigenständigkeit vertritt. Sie wird politisch, ohne in eine Partei einzutreten. Und sie rüttelt mehr und mehr an der Tür zu seinem behäbigen Gedankenpalast, der sie (zu Recht) wahnsinnig macht. Einmal sagt sie zu ihm: „Man muss tun, was man kann, sagst du. Aber was tust du denn?“ Der Vergleich hinkt etwas, aber säße Faber dabei in einem Sessel, könnte seine Antwort sein: „Ich will einfach nur hier sitzen.“ Ulrich bleibt tatenlos. Er hält sich raus.

Der Roman stammt aus der Feder des Journalisten Theodor Wolff. Er war von 1906 bis 1933 der hoch angesehene, liberal-demokratische Chefredakteur des auch international bekannten und gelesenen Berliner Tageblatts. Journalisten, die historisch nicht ganz so firm sind, ist sein Name heute noch wegen des nach ihm benannten renommierten Journalistenpreises ein Begriff. Der Theodor-Wolff-Preis wird jährlich vom Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) vergeben.

Wolff musste 1933 vor den Nazis ins südfranzösische Exil fliehen; vier Jahre später erscheint im Züricher Oprecht-Verlag sein heute vergessener Roman „Die Schwimmerin“. Untertitel: „Roman aus der Gegenwart“. Der Weidle-Verlag aus Bonn hat den Roman jetzt neu editiert – eine Wiederentdeckung!

„Politisch pointierter, stilistisch glänzender und angriffiger Journalismus“

Der tatenlose Faber agiert übrigens völlig anders als sein Erschaffer Theodor Wolff, dem die Literaturwissenschaftlerin Ute Kröger in ihrem lesenswerten und erhellenden Nachwort einen „politisch pointierten, stilistisch glänzenden und angriffigen Journalismus“ attestiert, „der mit scharf geschliffenem Florett kämpfte, gegen Extremismus von links und rechts, antidemokratischen und antisemitischen Geist, insbesondere gegen den heraufziehenden Nationalsozialismus“.

Und so ist „Die Schwimmerin“ nicht nur eine Wiederentdeckung, ein literarischer Schatz, eine Fundgrube für brillante Formulierungen, sondern vor allem wieder aktuell. Als romantische Liebesgeschichte taugt das Buch nur mäßig, aber als Horizont dafür, wie eine Demokratie in den Abgrund rutschen kann, ist es auf die Jetztzeit hervorragend anwendbar. Hier lesen wir viel über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen und wie die Gesellschaft, vor allem aber das Großbürgertum darauf reagierte. „Die Schwimmerin“ sollte heutigen Generationen als Mahnung dienen.

Der Verlag flehte den Autor an

Damals verkaufte sich das Buch nicht so gut, wie erwartet. Die Exilpresse war enttäuscht, ja, zerriss das Buch. Der Verlag flehte den Autor an, seine Kontakte zu nutzen, um wenigstens ein paar Exemplare mehr zu verkaufen. Auch der Versuch, das Buch in Hollywood unterzubringen, scheiterte: Ungeeignet für die damalige Traumfabrik.

In Gerda Rohr wollte man Wolffs ehemalige Sekretärin sehen, Ilse Stöbe, eine sozialistische Widerstandskämpferin gegen das Nazi-Regime, die erst im Jahr 2014 (!) durch den damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier gewürdigt wurde. 1942 war sie wegen „Landesverrats“ zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Ute Kröger beschreibt die Wirren und Unterstellungen, denen sich Ilse Stöbe posthum ausgesetzt sah, und ordnet sie ein.

Wolff hatte 1943 die Gelegenheit, in die USA zu fliehen, doch er wollte Europa nicht verlassen. Von italienischen Besatzungssoldaten wurde er im Mai in Nizza verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert. Im Gefängnis für politische Gefangene erkrankte er schwer und starb schließlich am 23. November 1943 Im Jüdischen Krankenhaus in Berlin.

Rund 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung ist es dem Bonner Weidle-Verlag zu verdanken, dass er Wolffs Roman-Vermächtnis wieder ins Bewusstsein der deutschsprachigen Literatur zurückgeholt hat. Der wunderbaren Illustratorin Kat Menschik ist es wieder auf gewohnt hohem Niveau gelungen, dem Roman den würdigen Rahmen zu geben. Nimm deinen Weg, Schwimmerin!

Theodor Wolff: Die Schwimmerin, Weidle-Verlag, Bonn, 2021, 354 Seiten, broschiert, 25 Euro, ISBN 978-3949441004, Leseprobe

Seitengang dankt dem Weidle-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Buch Wien: Kafkas Konzern, Punkrock, John F. Kennedy und die Eroberung Amerikas

Stefan Franke (r.) mit Moderator Florian Baranyi.
Stefan Franke (r.) mit Moderator Florian Baranyi.

Der Freitag begann für mich mit einer Lesung auf der Standard-Bühne. Stefan Franke stellte dort seinen neuen Roman „Der Konzern“ vor, den Moderator und ORF-Redakteur Florian Baranyi als „sehr kafkaesk“ einführte. Vieles erinnere ihn an Franz Kafkas „Prozess“. Ein Mann namens Florian Köhler (im „Prozess“ heißt der Protagonist Josef K.) wird von einem Konzern als Unternehmensberater engagiert. Sagt er zumindest. Doch niemand in diesem Konzern weiß über seine Einstellung Bescheid. Es stellt sich dann zwar heraus, dass die Bestellung eines sogenannten „Evaluierers“ diskutiert worden war, es bleibt jedoch ungeklärt, ob seine Berufung tatsächlich erfolgte. So darf Köhler zwar bleiben, aber seine eigentliche Tätigkeit nicht aufnehmen.

Der Konzern wiederum scheint alle durch einen gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat zu kontrollieren und bleibt dabei unnahbar und unerreichbar. Die Angestellten fühlen sich einer nicht direkt greifbaren, seltsam bedrohlichen Hierarchie ausgesetzt.

Bei Überschreitung der Vorschriften – so wird gemutmaßt – droht Schlimmes. Tatsächlich werden von der Konzernleitung aber nie erkennbare Sanktionen gesetzt. Anfangs voll Ehrgeiz und Zuversicht, fühlt sich Köhler zunehmend ohnmächtig angesichts der Diffusität und Undurchschaubarkeit des Systems, in das er sich verstrickt.

“Kafka war mein Lehrmeister“

„Mein ganz großer Pate war Kafka, immer schon; Kafka war mein Lehrmeister“, sagte Franke. Und er sehe in seinem Roman auch Anzeichen von Kafkas „Schloss“. Dort habe der Landvermesser ähnliche Probleme wie der Evaluierer in Frankes „Konzern“. Der 1967 geborene Stefan Franke ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Inhaber einer Werbeagentur und hat mit vielen Firmen und Konzernen zusammengearbeitet. Ihn habe immer abgestoßen, wie Menschen zu einer Personalnummer degradiert werden, gleichzeitig habe ihn aber angezogen, wie schwerfällig Konzerne agierten. Das habe ihn fasziniert.

Franke erzählte eine Anekdote aus seinem Berufsleben: Er war bei einem deutschen Unternehmen in Wien beschäftigt – zu einer Zeit, als es noch keine Großraumbüros gab. Eines Tages sei seinen Kolleg*innen und ihm aufgefallen, wie ein unbekannter, großgewachsener Mann immer durch die Flure und Räume lief, hin und wieder telefonierte und sich Notizen machte, aber sonst keinen Ton sagte. Nach ein paar Tagen habe er den Mann gefragt: „Was machen Sie?“ Der Mann sagte nur ein Wort: „Evaluieren.“ Und dann ging er wieder.

Die Idee für den Roman liegt schon länger zurück, sagte Franke. Wie lange, sagte er nicht. Der Schreibprozess habe dann rund zwei Jahre gedauert. Immerhin ist „Der Konzern“ nicht wie bei Kafkas „Schloss“ ein Fragment geblieben. So viel verrät er: „Herr Köhler kommt ziemlich nah an den Konzern ran, aber wie nah – das sage ich jetzt nicht.“

Stefan Franke: Der Konzern, Hollitzer-Verlag, Wien, 2021, 176 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 20 Euro, ISBN 978-3990128893, Leseprobe

“Pop ist tot“, lang lebe der Punk

Thomas Mulitzer (r.) liest aus seinem Roman. Links: Moderator Florian Baranyi.
Thomas Mulitzer (r.) liest aus seinem Roman. Links: Moderator Florian Baranyi.

Von Kafka zu Punkrock – wenn das mal nicht passt! Der österreichische Singer/Songwriter Thomas Mulitzer stellte am Freitag auf der „Buch Wien“ seinen zweiten Roman vor: „Pop ist tot“. Nach Gott ist jetzt also auch noch der Pop tot. Dabei geht es in Mulitzers Buch weniger um Pop, sondern viel mehr um Punkmusik. Denn „Pop ist tot“ ist nicht nur der Name des Buches, sondern auch der fiktiven Punk-Band, deren ehemalige Bandmitglieder noch heute von ihren Erinnerungen an den Lärm, die Drogen, den Spaß und das jugendliche Gefühl der Unsterblichkeit zehren. „Pop ist tot“ war die glorreichste, lauteste, leidenschaftlichste Punkband der Welt in der österreichischen Provinz der Neunziger.

Aber das ist lange vorbei. Heute kämpfen sich einige durch den grauen Alltag ihrer spießbürgerlichen Existenz, die anderen bekommen ihr Leben nicht auf die Reihe. Bei der erstbesten Gelegenheit fliehen sie auf Teufel komm raus in eine Reunion-Tour quer durch das Land. Dass das in ihrem Alter nicht gutgehen kann, liegt auf der Hand – oder um mit den Ärzten zu fragen: „Ist das noch Punkrock?“

Ein Buch übers Älterwerden und die beste Musik

Der 1988 geborene Mulitzer weiß, wovon er schreibt. Er ist ja nicht bloß Singer/Songwriter, sondern auch noch Gitarrist und Sänger in der Salzburger Mundart-Punkband „Glue Crew“ sowie in der Punkrock-Band „Three on Speed“. Sein Roman sei, kurz zusammengefasst, ein Buch übers Älterwerden und die beste Musik. Punk sei der Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft – beim Pop funktioniere das nicht, hier müsse man seine Instrumente beherrschen und sowas wie eine Gesangsausbildung haben. „Beim Punk ist das egal: Hier kann jede*r ein Instrument spielen und jede*r Songs schreiben.“

Dass es auch ein Buch über das Älterwerden ist, liegt schon daran, dass die ehemaligen Punkrocker von „Pop ist tot“ in die Jahre gekommen sind. Sie arbeiten in Hipster-Berufen und haben sozusagen das ehemalige Lebensmodell verraten. „Ich kenne das aus meinem Bekanntenkreis: Musiker, die jetzt 40 Jahre alt sind, sprechen immer wieder von den alten Konzerten, die sie gespielt haben – in dem Alter sehnt man sich zurück zu den Tourzeiten mit der Band. Man muss auch viel warten, auf den Soundcheck, auf den Konzertbeginn, Auf- und Abbau, aber wenn man da raus geht auf die Bühne, dann entsteht das wirklich Wahre, dann schreit man alles raus.“

Gott ist tot, Pop ist tot, und was ist mit dem Punk? „Punk ist wie ein Zombie“, sagte Mulitzer. „Irgendwie unsterblich, aber so richtig lebendig ist er auch nicht mehr.“

Thomas Mulitzer: Pop ist tot, Kremayr & Scheriau, Wien, 2021, 192 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 20 Euro, ISBN 978-3218012812, Leseprobe, Spotify-Playlist zum Roman, Buchtrailer

Drei Krimi-Autorinnen in 30 Minuten

Elia Barceló (v.l.), Teresa Ruiz Rosas, die Übersetzerin (Name nicht bekannt), Mercedes Rosende sowie Moderator Paco Bernal.
Elia Barceló (v.l.), Teresa Ruiz Rosas, die Übersetzerin (Name nicht bekannt), Mercedes Rosende sowie Moderator Paco Bernal.

Das Instituto Cervantes, das sich mit seinen weltweiten Dependancen zum Ziel gesetzt hat, die spanische Sprache zu fördern und das Kulturgut Spaniens und der iberoamerikanischen Länder im Ausland zu verbreiten, brachte gleich drei bekannte Krimi-Autorinnen aus Spanien, Peru und Uruguay auf die Bühne: Elia Barceló, Mercedes Rosende und Teresa Ruiz Rosas. Leider war die Zeit samt Konsekutivübersetzung dafür etwas zu knapp bemessen.

Der Journalist Paco Bernal fragte die drei Frauen, wie ihre Bücher sich verändert hätten, wenn sie Männer wären. Immerhin sei die Kriminalliteratur doch ein maskulin dominierter Bereich. Elia Barceló ergriff gleich das Wort und sagte, es sei völlig egal, ob man Frau oder Mann sei – wichtig sei zu wissen, welche Person man ist. Und das Dunkle, über das sie als Krimi-Autorinnen schreiben, sei ohnehin vom Geschlecht unabhängig. Teresa Ruiz Rosas erinnerte an einen Essay von Gertrude Stein („Was sind Meisterwerke?“), in dem es heißt, dass es nur so wenige Meisterwerke gibt, weil „die Menschen meist in Identität und Erinnerung leben“. Deshalb solle man die eigene Identität beim Schreiben besser vergessen. Mercedes Rosende erklärte, dass sie natürlich anders schriebe, als ein Mann – „wegen des Drucks, dem wir ausgesetzt sind“. Allein das stereotype Frauenbild „ewig jung und schön“. „Ich würde mich nicht damit befassen, wenn ich ein Mann wäre“, sagte Rosende. Barceló ergänzte, sie selbst würde unüblicherweise eher ältere Hauptfiguren verwenden. „Normal ist: Frauen sind zwischen 20 und 50 Jahre alt, Kommissare müssen immer älter sein – wegen der Erfahrung“, erklärte sie und lachte. Sie versuche damit zu brechen.

“Was weißt du denn über Waffen?“

Sodann will Bernal wissen, wie frei sich die drei Autorinnen in der Themenwahl sehen. Rosende erinnerte sich an eine Begegnung bei einer Lesung mit einem älteren Mann. Der habe sich vor sie gestellt und gefragt: „Was weißt du denn über Waffen?“ Und sie habe einfach zurückgefragt: „Ja, was weißt du denn?“ Bei den Themen gebe es keine Einschränkungen. „Als Autor*in liest man sich ein, recherchiert viel, auch über Waffen. Aber natürlich schreibe ich auch über den Druck in der männerdominierten Welt – das sind die Themen, mit denen ich mich beschäftige.“

Oft würden TV-Serien oder das Kino die Themenwahl beeinflussen, erläuterte Elia Barceló. Ein großes Thema sei auch immer das Marketing: Was verkauft sich wie gut? Was kaufen eher Männer, was eher Frauen? Sie wolle sich aber keine Schranken setzen. Man merke ja, was Mode ist. „Ich mache, was mir gefällt, auch wenn es nicht gerade die Mode ist. Das Problem haben Männer und Frauen, aber Frauen sind vielleicht etwas resistenter.“

Für Teresa Ruiz Rosas ist es wichtig, in den Romanen Hintergründe aufzudecken und Verbrechen nicht als etwas Alltägliches zu zeigen. Wichtig sei aber auch, fügte Barceló hinzu, aufzupassen, dass man nicht zu Übertreibungen neigt. In der US-amerikanischen Kriminalliteratur würden inzwischen sehr oft Serienkiller ihr Unwesen treiben. „Es reicht nicht mehr ein Opfer, nein, es müssen, vier, fünf, sechs Menschen getötet werden, meistens junge, hübsche Frauen. Diese Übertreibungen sind eine Gefahr für die Literatur.“

Elia Barceló, zuletzt: Töchter des Schweigens, Piper Verlag, München, 2017, 432 Seiten, Taschenbuch, 12 Euro, ISBN 978-3492311250

Mercedes Rosende, zuletzt: Der Ursula-Effekt (Teil 3 der Montevideo-Krimis), Unionsverlag, Zürich, 2021, 288 Seiten, Taschenbuch, 18 Euro, ISBN 978-3293005761

Teresa Ruiz Rosas, zuletzt: Wer fragt schon nach Kuhle Wampe?, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist, 2008, 320 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3941037021

John F. Kennedy in Nazi-Deutschland

Oliver Lubrich (r.) und Moderator Wolfgang Popp.
Oliver Lubrich (r.) und Moderator Wolfgang Popp.

Ebenfalls am Freitag stellte der deutsche Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich sein Buch „Das geheime Tagebuch: Was der junge John F. Kennedy als Besucher in Nazi-Deutschland erlebte“ vor. John F. Kennedy reiste als junger Mann dreimal nach Nazi-Deutschland: 1937 als Student; 1939 als Botschafter­sohn, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs; und 1945 als Reporter während der Potsdamer Konferenz. Seine Aufzeichnungen hat Kennedy selbst nie veröffentlicht. „Die Tagebücher zeigen, wie der junge Kennedy die Diktaturen in Europa erlebte, und das ohne nachträgliche Bearbeitungen“, erklärte Lubrich. Neben Kennedys Tagebucheintragungen enthält das Buch als Pendant auch das bislang noch nie veröffentlichte Reisetagebuch von Lem Billings, der als enger Freund und Reisebegleiter des späteren US-Präsidenten die Grand Tour der beiden Studenten aus seiner Sicht dokumentierte.

Gleich bei der ersten Reise nach Europa werde deutlich, dass Kennedy sehr privilegiert ist. Er lässt ein Cabriolet überführen, mit dem sie fortan durch Europa reisen, sie haben Zugang zu Botschaftern, Generälen und allerlei Honorationen, und Kennedy beginnt dabei, seinen politischen Blick zu schärfen. „Kennedys Vater war da eher im Isolationismus unterwegs – lass Europa mal machen, wir halten uns raus, ähnlich wie Donald Trump“, sagte Lubrich. Der junge Kennedy aber habe sich von seinen Europa-Erfahrungen aus zum Interventionalisten gewandelt. „Ihn interessierte sehr die Frage, wie populär die Diktatoren im eigenen Land sind.“

„Absurd: Urlaub im Dritten Reich“

Die erste Stadt in Deutschland, die sie 1937 besuchen, ist München. Dort gehen sie ins Hofbräuhaus, aber auch ins Kino. „Es ist ja absurd aus heutiger Sicht, dass Kennedy da Urlaub im Dritten Reich machte, aber gleichzeitig ist auch unsere Frage spannend, wie viel man wissen kann, wenn man die Augen aufmacht.“

Überhaupt habe es zu der Zeit viele namhafte Beobachter gegeben. Samuel Beckett etwa führte rund ein halbes Jahr lang ein Tagebuch in Deutschland (September 1936 bis April 1937; das Tagebuch erscheint voraussichtlich am 10. Oktober 2022 bei Suhrkamp, Herausgeben ist ebenfalls Oliver Lubrich). Auch Thomas Wolfe („Schau heimwärts, Engel“) war Beobachter, erklärte Deutschland zu seiner zweiten Heimat, verehrte das Land der Dichter und Denker. Mitte der 1930er Jahre kommt er wieder nach Deutschland und erlebt den nationalsozialistischen Massenwahn und Adolf Hitler und erkennt, dass es „sein Deutschland“ nicht mehr gibt. Oliver Lubrich hat sich auch mit Wolfes Deutschlandreise beschäftigt und 2020 im Manesse-Verlag ein gleichlautendes Buch veröffentlicht („Eine Deutschlandreise: Literarische Zeitbilder 1926–1936“).

„Blinde Flecken und Fehleinschätzungen“ beim jungen Kennedy

Im Rückblick seien bei Kennedy „blinde Flecken und Fehleinschätzungen“ zu sehen, aber auch „Einsichten von großer Aktualität“. Kennedys berühmte Berliner Rede von 1963 (“Ich bin ein Berliner”) sei vor dem Hintergrund dieser Europa-Reisen auch anders zu sehen. „Er hat da eine eigene Anfälligkeit gespürt – deshalb hat er diese Reisen nie öffentlich erwähnt – er hätte in Berlin ja sagen können, dass er schonmal in Deutschland gewesen sei, damals zur Nazi-Zeit.“

Bemerkenswert an dem Tagebuch sei einfach das Unredigierte: „Das ist einfach überraschend, diese Ambivalenz von Einsicht und Irrtümern sowie von Banalität und Scharfsinn“, sagte Lubrich. Der Moderator Wolfgang Popp, österreichischer Schriftsteller und Journalist, fügte hinzu: „Und das Bildmaterial ist unglaublich toll!“

Oliver Lubrich (Hrsg.): John F. Kennedy – das geheime Tagebuch; Europa 1937, DVB Verlag, Wien, 2021, 224 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 22 Euro, ISBN 978-3903244184

Eines der 52 besten Bücher des Jahres

Romana Ganzoni liest aus ihrem Roman, neben ihr Moderator Michael Freund.
Romana Ganzoni liest aus ihrem Roman, neben ihr Moderator Michael Freund.

Die Autorin der nächsten Lesung, die ich besucht habe, ist aus dem Schnee angereist: „Bei uns kann man schon Ski fahren“, sagte Romana Ganzoni, die auf der „Buch Wien“ ihren neuen Roman „Magdalenas Sünde“ vorstellte. Für den Radiosender SRF2 Kultur gehört er zu den 52 besten Büchern des Jahres. Das Buch sei eine Erlösungsgeschichte im herbstlichen Zürich. Sie erzähle von Sehnsucht, Nähe, Freundschaft und Fantasie in einer Welt voller Gewalt und sexueller Obsession.

Der Verlag fasst zusammen: Die Realität der Konditoreiverkäuferin Magdalena ist düster. Verlust und Schuld quälen die Bulimikerin und Ex-Prostituierte. Ihr krebskranker Vater dämmert dem Tod entgegen. Ihr Freund und Beschützer macht Pause, weil er ihre zerstörerische Beziehung mit einem selbsternannten Grossschriftsteller nicht länger aushält. Magdalena denkt an Suizid und verlangt gleichzeitig nach einem Wunder. Sie erzwingt es in einem Akt der Selbstermächtigung, als an einem Sonntag ein Mensch in ihr Leben tritt, der nichts mehr zu verlieren hat.

Die Namenspatronin, die biblische Maria Magdalena, sei ihr das erste Mal begegnet, als Ganzoni vier Jahre alt war. „Mich beeindruckte das lange Haar, mit dem sie die Füße von Jesus trocknete – das hat mich geprägt.“ Die Figur habe sie immer interessiert, später habe sie darüber auch einen Abitur-Aufsatz geschrieben. Ohnehin sei das Spiel mit den Namen immer sehr reizvoll für sie.

Die romangewordene Geschichte der Magdalena, die in einer prekären Existenz lebt, eine schwierige Vergangenheit hat und an Bulimie leidet, sei eine erfundene Geschichte und orientiere sich also an keinem Vorbild, sagte die Autorin. „Es stecken darin aber viele Dinge, die mich interessieren, die Ausnützung der Protagonistin zum Beispiel, die sich ja auch selbst ausbeutet, das bewegt mich sehr.“

Sie habe einen Aufsatz von Arno Grün über den Gehorsam gelesen („Wider den Gehorsam“, Klett-Cotta), dessen Kernthese sei: Es komme vor, dass geschundene Menschen ihrem Unterdrücker beitreten, eine Unterform des Stockholm-Syndroms. „Mich interessiert deshalb auch, warum so viele Menschen in Beziehungen zurückkehren, die toxisch und zerstörerisch sind, manchmal auch nur subtil.“ Der Moderator und Journalist Michael Freund fasste am Ende zusammen: „Sehr ungewöhnliches, sehr spannendes Buch und ein tiefer Einblick ins Milieu.“

Romana Ganzoni: Magdalenas Sünde, Telegramme-Verlag, Zürich, 2021, 126 Seiten, Taschenbuch, 14,50 Euro, ISBN 978-3907198520, Buchtrailer

Eroberer – wild, aber erfolglos

Dann ging es für mich weiter zu Franzobel, der seinen schon im Januar 2021 erschienenen Roman „Die Eroberung Amerikas“ auf der Buchmesse den zahlreichen Zuschauer*innen vorstellte. Nach seinem Bestseller „Das Floß der Medusa“ (2017, Zsolnay-Verlag), für den er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, begibt sich Franzobel in seinem neuen Roman auf die Spuren eines wilden, aber erfolglosen Eroberers der USA im Jahr 1538.

Ferdinand Desoto hatte Pizarro nach Peru begleitet, dem Inkakönig Schach und Spanisch beigebracht, dessen Schwester geschwängert und mit dem Sklavenhandel ein Vermögen gemacht. Er war bereits berühmt, als er 1538 eine große Expedition nach Florida startete, die eine einzige Spur der Verwüstung durch den Süden Amerikas zog. Knapp 500 Jahre später klagt ein New Yorker Anwalt im Namen aller indigenen Stämme auf Rückgabe der gesamten USA an die Ureinwohner. Soweit der Plot.

Bier statt Messewasser

Der österreichische Schriftsteller lehnte das angebotene Messewasser ab und blieb lieber bei seinem mitgebrachten Fläschchen Bier. „Ich glaube, ich habe dich bei einer Lesung noch nie ohne Bier gesehen – ist das sowas wie ein Ritual für dich?“, fragte Moderator Günter Kaindlstorfer, österreichischer Literaturkritiker, Schriftsteller und Journalist. „Joa, das beruhigt mich“, antwortete Franzobel und lachte. Es stimme aber nicht, dass er nie ohne Bier lese. „Es gab aber schon Lesungen am Vormittag ohne Bier, und auch im Parlament hatte ich einen Vortrag ohne Bier – dabei hätte ich da eins haben sollen.“

Doch zurück zu den Eroberern. Franzobel kam die Idee zum neuen Buch beim Fernsehen. “In einer TV-Doku fiel in einem Nebensatz der Name Ferdinand Desoto und dass er einer der erfolglosesten Conquistadoren gewesen sei – das interessierte mich.“ Er habe dann viel recherchiert, auch in Spanien, wo die Eroberer noch immer sehr angesehen seien. Nur in den gebildeteren Schichten sei auch Kritik zu hören.

Als Desoto aufbrach, hatte er ein drittes Goldland erwartet, das ihm Reichtum bringen würde. „Dass die damaligen Goldschätze die Inflation unglaublich beschleunigt haben, wusste ich auch nicht“, sagte Franzobel in dem Zusammenhang.

Der Impuls zum Schreiben sei dann durch die Recherche entstanden. “Mich hat die Zeit fasziniert. Es gab ein anderes Weltbild, die Wissenschaft hat sich von der Religion getrennt, man hat die Kindheit kennengelernt, die der Gegenpol war die spanische Inquisition, die an den alten Werten festhalten wollte.“

Seinen neuen Roman wird Franzobel über die Physik schreiben, soviel verriet er schon. “Ich war vor zehn Jahren im CERN in der Nähe von Genf, und seitdem hat das Thema in mir gegärt – und jetzt schreibe ich darüber.“

Franzobel: Die Eroberung Amerikas, Zsolnay-Verlag, München, 2021, 544 Seiten, gebunden, 26 Euro, ISBN 978-3552072275, Leseprobe

Austrofred, Barbi und Christl Clear

Kaum zu übersehen: Austrofred (r.), neben ihm Moderator Stefan Weiss.
Kaum zu übersehen: Austrofred (r.), neben ihm Moderator Stefan Weiss.

Die letzten Lesungen, die ich an diesem Tag noch besucht habe, waren die von Austrofred, nochmal von Barbi Marković und von der österreichischen Bloggerin Christl Clear.

Austrofred hatte ich zuerst 2013 auf der “Buch Wien“ live gesehen, das neuste Werk des Freddie-Mercury-Wiedergängers trägt nun den doppeldeutigen Namen “Die fitten Jahre sind vorbei“, ein zwei Jahre andauerndes Frage-und-Antwort-Stück zwischen dem oberösterreichischen Tausendsassa und seinen Fans, geführt bei Facebook. Themen? “Nun, vielfältig: Ernährung, Metaphysik, altersbedingte Erscheinungen.“ Und so geht es oft los mit “Sehr geehrter Herr Austrofred, …“.

Zum Abschluss erfuhren die Zuschauer*innen noch einen kurzen Einblick in Austrofreds Fähigkeiten. Nein, er sang nicht, und er zeigte auch nicht seine viel gerühmten Mercury-Moves, sondern er beantwortete schlichtweg die Frage, wie lange es den Menschen noch gibt: “500 bis 600 Jahre.“ Woher er das weiß? “Das ist ein Gefühl. Ich habe eine Gabe dafür.“ Wie lange es Austrofred noch gibt? “Bis man mich von der Bühne trägt.“

Bei Barbi Marković bin ich nochmal gewesen, um so weitere Zitate für meine irgendwann folgende Rezension ihres Romans “Die verschissene Zeit“ zu bekommen.

Und die Bloggerin Christl Clear hat mich interessiert, weil sie als schwarze Feministin viele vor allem junge Menschen inspiriert. Christl Clear, die mit richtigem Namen Christina heißt, ist mit drei Geschwistern und ihren nigerianischen Eltern in einfach Verhältnissen aufgewachsen. Das Studium hat sie abgebrochen, sie hat für Lifestyle-Magazine geschrieben, sie hat gebloggt und ist jetzt bei Instagram. Mehr als 38.000 Menschen folgen ihr dort.

Christl Clear liest aus ihrem Debüt, neben ihr Moderator Michael Freund.
Christl Clear liest aus ihrem Debüt, neben ihr Moderator Michael Freund.

Frei nach dem Liedermacher Wolfgang Ambros nennt sie sich eine “Blume aus dem Gemeindebau“. Sie schreibt mit Slang und Wiener Schmäh, ihr Buch aber sei kein Ratgeber, sondern eine Textsammlung zu Themen, die sie interessieren und wichtig findet, erklärte sie bei der “Buch Wien“. Das Buch trägt den einprägsamen Titel “Let me be Christl Clear“. Lässt man ihren Namen weg, bleibt “Let me be“, “Lasst mich sein“.

Es geht um das Lebenlassen, ohne Alltagsrassismus, Sexismus und den ganzen Druck von außen (etwa zum Heiraten, was sie vorliest: „Ihr müsst nicht heiraten“, “Ihr braucht keine bessere Hälfte, ihr seid das bessere Ganze“). „Macht das Nickerchen. Sagt die Party ab, fahrt (alleine) auf Urlaub, besteht beim Sex darauf, dass ihr auch befriedigt aus der Geschichte rausgeht, und sagt öfter mal ‚Nein’ zu Dingen, auf die ihr keinen Bock habt.“

Austrofred: Die fitten Jahre sind vorbei, Czernin-Verlag, Wien, 2021, 200 Seiten, Taschenbuch, 18 Euro, ISBN 978-3707607321

Barbi Marković: Die verschissene Zeit, Residenz-Verlag, Salzburg und Wien, 2021, 229 Seiten, Taschenbuch, mit Beiheft, 24 Euro, ISBN 978-3701716982, LeseprobeSpielmaterial

Christl Clear: Let me be Christl Clear, Kremayr & Scheriau, Wien, 2021, 160 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3218012874

German Scham

Endlich! Endlich ist auch in Deutschland der hervorragende Debütroman von Katharina Volckmer erschienen. „Der Termin“, von Volckmer in ihrer Zweitsprache Englisch verfasst, fand lange Zeit keinen deutschen Verlag, wurde aber in zwölf andere Sprachen übersetzt. In England erschien das Buch 2020 als „The Appointment (Or, The Story of a Cock)“, in den USA als „The Appointment (Or, The Story of a Jewish Cock)“, in Frankreich als „Jewish Cock“.

In Deutschland jetzt also als „Der Termin“ ohne Untertitel, verlegt beim neu gegründeten und mit vielversprechendem Herbst-Katalog startenden Kanon-Verlag. In diesem an Philip Roths „Portnoys Beschwerden“ erinnernden Buch (andere Rezensenten halten dem Buch gerne den Thomas-Bernhard-Spiegel vor) hält eine namentlich nicht bekannte Patientin einen 117 Seiten langen Monolog, während sie auf dem Behandlungsstuhl des jüdischen Gynäkologen Dr. Seligmann liegt.

Sie obduziert das peinliche Schweigen

Die Themenvielfalt dieses Bewusstseinsstroms ist groß, das Unbehagen beim Lesen nicht minder. Die Patientin eröffnet ihre Rede mit dem Bekenntnis, sie habe mal davon geträumt, Hitler zu sein. Ihre Ausführungen darüber, dass man niemals hätte davon ausgehen können, dass die Deutschen „mit der miserablen Landesküche ein Reich für tausend Jahre würden halten können“ wandeln sich zu in sehr drastischen Worten umschriebenen sexuellen Fantasien, bei denen Hitler ebenfalls Rollen zugesprochen werden, bis sie schließlich auch darüber redet, welche Scham sie als Deutsche empfindet. Sie obduziert die Geschichte Deutschlands und das peinliche Schweigen der Täter- und Nachkriegsgenerationen. „Der Termin“ ist auch eine Coming-of-Silence-Geschichte.

Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich von ihrer katholisch geprägten nachkriegsdeutschen Familie abgenabelt und lebt, wie die Autorin, in London. In einer Rückschau macht sie ihre eigene Geschlechtsidentität sowie die Beziehung zu Mutter, Vater, Urgroßvater („Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er ein richtiger Nazi war“) zum Thema. Ihr Ton ist dabei oft lakonisch-komisch.

Sie erzählt, wie sie bei einer Wutattacke im Büro einem Kollegen drohte, sein Ohr am Tisch festzutackern. Dann ist sie überrascht, wieso ihr nach dieser Geschichte gekündigt wurde. Obwohl doch jedem klar sein müsse, dass man mit diesen Billigtackern eher sich selbst verletzt, als anderer Leute Ohren an Schreibtischplatten festtackern zu können.

Das deutsche Brot ist zu trocken

Über Nürnberg, einst Stadt der Reichsparteitage der Nationalsozialisten, unkt sie, dass dort jetzt jährlich Messen für Waschmaschinen abgehalten werden und ruft die Erinnerung an deutsche Fernsehwerbung auf, die meterweise reine, weiße Wäsche verspricht. Gedankensprung: Das deutsche Brot ist zu trocken, deshalb gelingt Deutschen der Oralverkehr nicht gut.

Volckmer ist provokant, ja. Und einiges davon glaubt man auf den ersten Blick gleich erkannt zu haben: Hitler und Juden als Aufreger, der Skandal scheint programmiert.

Was soll das eigentlich?

Ist das nicht Verharmlosung der deutschen Geschichte? Wird hier nicht zu sehr auf Hitler fokussiert? Hitler, mal als komische Figur, dann wieder als Sexphantasie – was soll das eigentlich?

Ja, das alles brodelt an der Oberfläche. Aber wie beim qualvollen Häuten der Zwiebel treten nach und nach untere, verborgene Schichten nach oben, die Frage der Geschlechtsidentität vor allem. Bin ich Mann, bin ich Frau? Warum fühle ich mich als Mann, bin aber als Frau geboren? Welchen Prozess durchlaufen Transmenschen? „Jedenfalls glaube ich, dass unsere Körper manches wissen, lange bevor unser Kopf es tut“, sagt die Patientin, die als heterosexuelle Cis-Frau sozialisiert wurde.

Der Gynäkologe bleibt die meiste Zeit stumm, und doch spricht die Patientin nie ins Leere. Erst spät fragt er sie, und wir lesen nie seine Frage, sondern nur ihre Antwort, ob sie wütend auf ihre Eltern sei. Ist sie nicht. Denn ihr Kopf ist nach dem Körper schon ein Stück auf dem Befreiungsweg vorangekommen.

„Ich wünschte, wir beide hätten das durchschaut“

Sie erzählt von ihren Schwierigkeiten, als sie jung ist, und die Mutter sie zu einer jungen Dame machen will, mit Schminke und Parfüm und schönen Kleidern. „Ein Großteil unserer Schwierigkeiten miteinander rührte von einem völlig unnötigen Lampenfieber, das uns von einer Welt aufgezwungen wird, die Leute ohne Schwanz auf ihren Platz verweisen will, und ich wünschte, wir beide hätten das durchschaut.“

Das auf den ersten Blick „nur“ die deutsche Scham und Vergangenheit ankratzende Buch ist wie ein trojanisches Pferd, das ein Hitlerbärtchen trägt, vielleicht auch nur einen Hoden hat und von Dirty Talk-AnhängerInnen geschoben wird, das aber bei genauerer Betrachtung und Überwindung der Befestigungsanlagen gefüllt ist mit Kriegerinnen und Kriegern, Cis- und Transmenschen, die traditionelle Geschlechterrollen, Geschlechterbinarität, Transphobie und das Patriarchat bekämpfen. Und letztlich schaut man sich um, wie man hergekommen ist, sieht das trojanische Pferd, und muss sich doch wieder der eigenen Vergangenheitsbewältigung und dem deutschen Völkermord stellen. Dr. Seligmann kann beides verbinden, und die Patientin ist genau deshalb bei ihm.

Katharina Volckmer, wurde 1987 in Deutschland geboren und zog mit 19 Jahren zum Sprachen-Studium nach England. Heute lebt sie in London und arbeitet für eine Literatur-Agentur. „Der Termin“ ist ihr erster Roman, und es ist so ein temporeiches Wahnsinnsbuch! Man verschlingt es in wenigen Stunden und lacht und weint und fühlt sich furchtbar und interessiert und pikiert. Das ist wirklich raffinierte, konzertante und elegant kurzweilig geschriebene Literatur, die ihresgleichen sucht. Wenn das gleich beim kühnen Debüt dermaßen reinhaut, was kommt mit dem Zweitwerk auf uns zu? Kann nur gut werden für die Literatur!

Katharina Volckmer: Der Termin, Kanon-Verlag, Berlin, 2021, 128 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3985680009

Seitengang dankt dem Kanon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.