Buch Wien: Einst mondäne Kurorte, das Böse in Hundewelpen und Comic-Tipps

Ein Besucher der „Buch Wien 2021“ © LCM / Nicola Montfort

Der Samstag ist immer mein letzter Messetag bei der „Buch Wien“, weil ich schon am Sonntag die lange Zugfahrt nach Hause antrete. In diesem Jahr habe ich am Samstag noch zwei Lesungen besucht und außerdem Sebastian Broskwa vom Wiener Comic-Buchladen „Pictopia“ einen Besuch abgestattet.

Den Anfang machte David Schalko. Der österreichische Schriftsteller und Regisseur ist bekannt geworden mit seinem Fernsehformat „Sendung ohne Namen“ und ist auch den Serienjunkies ein Begriff, nachdem 2019 seine Mini-Serie „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ (ein Remake des berühmten Fritz-Lang-Films) ausgestrahlt wurde (sehenswert übrigens!). 2018 hatte Schalko seinen letzten Roman „Schwere Knochen“ bei der „Langen Nacht der Bücher“ in Wien vorgestellt. Der aktuelle Roman, der schon am 14. Januar 2021 erschienen ist, trägt den Titel „Bad Regina“.

Der Verlag fasst das Buch so zusammen: Nur noch 46 Menschen leben in Bad Regina, einem einst glamourösen Touristenort in den Bergen, starren auf die Ruinen ihres Ortes und schauen sich selbst tatenlos beim Verschwinden zu. Denn ein mysteriöser Chinese namens Chen kauft seit Jahren für horrende Summen ihre Häuser auf – nur um sie anschließend verfallen zu lassen. Als er auch noch das Schloss des uralten örtlichen Adelsgeschlechts erwerben will, entschließt sich Othmar, der von Gicht geplagte ehemalige Betreiber des berühmtesten Partyklubs der Alpen, herauszufinden, was es mit diesem Chen auf sich hat und was dieser mit Bad Regina vorhat. Dabei erleben Othmar und die verbliebenen Einwohner eine böse Überraschung.

„Und ich bin immer wieder in diese leeren Häuser eingestiegen“

„Die Ähnlichkeiten mit Bad Gastein sind natürlich rein zufällig“, sagte Schalko gleich zu Beginn zum Publikum und lachte. Dann erzählte er, dass er mit seiner Familie mehr als 15 Jahre in Bad Gastein Urlaub gemacht habe. „Und ich bin immer in diese leeren Häuser eingestiegen.“ Der österreichische Ort Bad Gastein war wie Bad Regina einst ein mondäner Kurort für die gehobenen Gesellschaftsschichten und hat (wie Bad Regina) einen steilen Abstieg hinter sich. Hotels und Gebäude im historischen Kern stehen leer und verrotten zunehmend, ein Wiener Immobilien-Unternehmer kaufte einige der Gebäude, sanierte sie aber nicht, sondern überließ sie weiter dem Verfall.

„Da steht natürlich auch eine Kulturmetapher hinter“, erklärte Schalko, „aber ich würde es nicht metaphorisch lesen, auch wenn der Klappentext das vorgibt – das ist Verlagsmarketing.“ Beim Schreiben des Romans habe es ein starkes Grundkonstrukt gegeben, das viel mit der Legende zu tun habe, die es auch über Bad Gastein gibt: Dass ein Mann alles kauft und es verrotten lässt. Wichtiger seien ihm aber die Figuren gewesen, für deren Schrullen und Eigenarten Schalko immer einen scharfen Blick beweist. „Alles, was auf den ersten Blick nach Klischee aussieht, entpuppt sich bald als etwas anderes.“

Eine der Besonderheiten von Bad Regina ist, dass es in diesem Ort alles nur noch einmal gibt: „Zum Beispiel nur eine Single-Frau und einen Single-Mann, und es gibt auch nur noch ein Kind – das hat dann die Spielplätze ganz für sich allein, besonders trostlos im Winter.“ Es sei eine Art Robinsonade, befand Schalko.

„Mit einer kulturellen Überlegenheit hausieren gehen“

Moderator Günter Kaindlstorfer sagte, im „Schalkoversum“ seien die Figuren nie normal, sondern immer seltsam, traurig, komisch und dem Untergang geweiht. „Aber das ist ja Naturalismus!“, scherzte Schalko. Das Sujet selbst, der mondäne Kurort, sei ja schon häufig strapaziert worden. Unweigerlich denke man natürlich an Thomas Manns „Zauberberg“. Und hier sei das jetzt ins 21. Jahrhundert gesetzt worden. Das Problem aber sei, sagte Schalko, dass „wir mit einer kulturellen Überlegenheit hausieren gehen und gerne zurückschauen – das ist nostalgisch, aber nicht gegenwärtig“.

Kaindlstorfer wollte dann wissen, wo auf der Welt noch aufregende Trends passieren. Schalko: „Kunst entsteht dort, wo länger ein Vakuum war – dass zum Beispiel Südkorea jetzt plötzlich bei den TV-Serien („Squid Game“) der Renner ist, hätte doch vorher niemand vermutet. Ob es aber nochmal solche kulturellen Umwälzungen geben wird wie im 20. Jahrhundert, halte ich für fraglich.“ Dennoch gebe es natürlich noch die kulturellen Hotspots in Berlin, Paris oder New York.

Am Ende der Lesung wollte Kaindlstorfer noch ein Assoziationsspiel mit Schalko spielen. Er solle einfach spontan auf die Fragen antworten, darunter diese beiden: Dieses Buch lese ich als nächstes: „‚Die Dinge‘ von Georges Perec lese ich wieder, weil ich für mein nächstes Buch recherchiere.“ Und: Welche Assoziationen bestehen zu Alexander Schallenberg, seit dem 11. Oktober 2021 österreichischer Bundeskanzler (ÖVP)? „Man hat immer das Gefühl, dass das im Schwarzweiß-Fernsehen besser aufgehoben wäre.“

David Schalko: Bad Regina, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2021, 400 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3462053302, Leseprobe

Überraschend, brutal und poetisch“

Uli Brée liest aus seinem Roman vor, Moderatorin Esther Csapo hört zu.

Die zweite Lesung, die ich am Samstag besucht habe, war die von Uli Brée. Der 1964 in Dinslaken geborene deutsch-österreichische Drehbuchautor, Regisseur, Schauspieler und jetzt auch Schriftsteller las auf der „Buch Wien“ aus seinem ersten Roman vor. Aufmerksam geworden bin ich darauf, weil ich beim Messestand des Amalthea-Verlags zufällig zu diesem Buch gegriffen und die erste Seite verschlungen habe. Deshalb wollte ich gerne mehr aus und zu dem Buch hören.

Uli Brée ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Drehbuchautoren. Er hat Drehbücher für diverse „Tatort“-Folgen des Teams Moritz Eisner/Bibi Fellner geschrieben und ist bekannt für seine österreichische TV-Serie „Vorstadtweiber“. Im Wiener Amalthea-Verlag ist jetzt „Du wirst mich töten“ erschienen. Für den Verlag ist er „ein verstörender und zugleich feinsinniger Roman voll dunkler Geheimnisse, greller Albträume und tiefer Abgründe: überraschend, brutal und poetisch“.

Der Inhalt laut Verlag: Seit Tabata Goldstaub als Mädchen ins Grab ihrer ermordeten Mutter gefallen ist, verfolgen sie dunkle Ohnmachten. Jahre später wird sie Polizistin: eine unkonventionelle Einzelgängerin, die stets an ihre Grenzen geht. Als die junge Frau in eine Mordserie verwickelt wird, steht plötzlich alles auf dem Spiel – auch das Leben ihres ungeborenen Kindes, das ihre einzige Hoffnung ist, endlich wieder etwas zu empfinden. Tabata ahnt nicht, dass ihr der Mörder näher ist, als sie denkt und dass ihre Schicksale auf fatale Weise miteinander verknüpft sind.

Wanderschuh und Stöckelschuh

Was der Unterschied zwischen Drehbuchschreiben und Romaneschreiben für ihn sei, möchte Moderatorin Esther Csapo zunächst von Brée wissen. Der antwortet, das sei wie der Unterschied zwischen Wanderschuh und Stöckelschuh, wobei ein Roman letzteres sei. „Beim Drehbuch schreibe ich eine Art Gebrauchsanweisung, aber die Bilder entstehen erst durch die Kameraleute und die Regie; beim Roman muss man die Bilder selbst schaffen – und das gefällt mir, ich liebe es, Bilder entstehen zu lassen.“ Gleich auf der ersten Seite ist ein solches Bild, das sich einprägt wie gefilmt (s. Leseprobe unten): Tabata Goldstaub fällt in das offene Grab ihrer Mutter, und für die Trauergäste schaut es so aus, als umarme sie ein letztes Mal ihre Mutter und wolle sie nicht gehenlassen.

Ihm sei es wichtig gewesen, gleich stark in den Roman einzusteigen. Er folge da deshalb den zehn goldenen Regeln des österreichischen und später US-amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Billy Wilder („Manche mögen’s heiß“) für gutes Filmemachen. Die erste Regel lautet: „The audience is fickle.“ („Zuschauer sind launisch.“) Die zweite Regel: „Grab ’em by the throat and never let ’em go.“ („Pack sie an der Gurgel und lass sie nicht mehr los.“)

In seinem Roman gehe es auch um die immer wieder gestellte Frage, woher das Böse im Menschen kommt? Ist das angeboren oder entwickelt es sich? „Wir haben vor einiger Zeit einen Hund bekommen, einen Welpen, ein sonniges, fröhliches Hundekind, das noch nie etwas Böses erlebt hat – man kommt nicht als böse auf die Welt, sondern wird das erst durch Prägung mit dem Bösen.“ In seinem Buch gebe sich der Böse dem Bösen hin, und dennoch suche er doch genauso wie die Hauptfigur nur die Liebe.

Braucht es kriminelle Energie?

Von einem Journalisten sei er mal gefragt worden, ob er für sein Schreiben eine kriminelle Energie brauche. Das habe er verneint. „Ohne überheblich klingen zu wollen: Wenn mein Talent es hergibt, dann ist das doch toll“, sagte er. Ob aus dem Buch auch etwas Filmisches entstehen wird, wollte Brée nicht so recht beantworten. Zum Buch gibt es einen hochwertigen Trailer mit der österreichischen Schauspielerin Ruth Brauer-Kvam (s. unten), „und ich habe auch den Gedanken, daraus vielleicht eine düstere Netflix-Serie zu machen“. Mehr aber wollte er nicht verraten.

Zum Schluss erklärte er noch, warum er stets von sich behauptet, eine „österreichische Seele“ zu haben, obwohl er doch ursprünglich aus dem Ruhrgebiet stammt: „Ich bin zufällig in Deutschland geboren, aber der österreichische Humor ist mir lieber als der nicht-existente deutsche Humor.“

Uli Brée: Du wirst mich töten, Amalthea-Verlag, Wien, 2021, 288 Seiten, gebunden, inklusive Hörbuch-Download, 25 Euro, ISBN 978-3990502068, Leseprobe, Buchtrailer

Die Graphic-Novel-Tipps

Abschließend ging es für mich zum „Pictopia“-Messestand, um von Sebastian Broskwa neue Graphic-Novel-Tipps zu bekommen. Sebastian hatte bei der „Buch Wien“ im Jahr 2013 bei mir den Grundstein für mein Interesse an Graphic Novels gelegt. Ich hatte damals nur eine einzige gelesen (Nine Antico „Coney Island Baby“), als mir Sebastian bei der Buchmesse Charles Burns‘ „Black Hole“ empfahl. Seitdem lese ich immer wieder gerne Graphic Novels und habe auf meinem Blog einen eigenen Bereich dafür.

In diesem Jahr hatte er gleich so viele Empfehlungen, dass ich nur zwei von ihnen mitnehmen konnte (leider nur begrenzter Platz im Koffer, da ich ja auch noch ein paar andere Bücher gekauft habe): zum einen Nicolas Mahlers Literaturadaption „Schwarze Spiegel“ (Suhrkamp Verlag) nach Arno Schmidt, die ich mir von einem glücklicherweise am Messestand anwesenden Mahler auch gleich habe signieren lassen, sowie Jacques Tardis „Burma“, eine Neuedition von vier Kurzgeschichten aus der Feder von Leo Malet. Die anderen Tipps von Sebastian waren: „Ich, der Verrückte“ von Antonio Altarriba (dem Nachfolger von „Ich, der Mörder“), „Yoshios Jugend“ von Yoshiharu Tsuge, „Goldjunge: Beethovens Jugendjahre“ von Mikael Ross, „The Artist: Ode an die Feder“ von Anna Haifisch sowie „Celestia“ von Manuele Fior.

Die „Buch Wien 2021“ endet damit für mich. Ich werde in rund einer Woche ein Fazit schreiben, wenn sich die Eindrücke aus den vergangenen Tagen ein wenig gesetzt haben. Weitere Rezensionen sind außerdem bereits in Vorbereitung. Es wird also nicht langweilig.

Wer nochmal nachlesen will, was ich bisher so über die „Buch Wien“ geschrieben habe, folgt diesem Link, wer nur die Berichte aus 2021 lesen möchte, folgt diesem Link.

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