„Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel. Der Teufel verändert dich.“ Dieses Bonmot aus dem thematisch überhaupt nicht passenden Kinofilm „8mm“ ist für sich genommen die treffendste Umschreibung für den neusten Wurf von Stuart Turton. Nachdem er mit „Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle“ debütierte und das Buch in mehr als 30 Sprachen übersetzt und international ein Bestseller wurde (völlig zurecht übrigens), durfte man gespannt sein, was Turton mit dem zweiten Roman vollbringen würde.
Kurz gesagt: Es ist eines der besten Bücher des Jahres 2021 geworden, ein Schmöker, der seinen Namen verdient hat, und ein Buch, das man am liebsten nicht zu Ende gehen lassen möchte. Wenn Sie in diesem Jahr nur noch ein Buch lesen können oder wollen, lesen Sie dieses.
Erneut eine klar umrissene Bühne
Während wir uns in Turtons Erstling auf einem herrschaftlichen Anwesen befanden und das Grundstück kaum verließen, wählte der britische Autor, der mit seiner Frau und seiner Tochter in London lebt, für seinen zweiten Roman erneut eine klar umrissene Bühne aus. Auch hier ist ein Entkommen nur schwer möglich.
Man schreibt das Jahr 1634. Im Hafen von Batavia, heute bekannt unter dem Namen Jakarta, liegt ein Ostindienfahrer namens „Saardam“ vertäut. Mit Schiffen wie diesem bringt die Vereinigte Niederländische Ostindien-Kompanie regelmäßig Gewürze und Seidenstoffe aus den Kolonien nach Europa. Der Seeweg nach Amsterdam ist lang und gefährlich. Es lauern Piraten, Pest und pöbelnde Stürme auf See, und noch weist kein Radar sicher den Weg. Wer also von der Route abweicht, findet mitunter nicht mehr das Land, was er ansteuern wollte.
Essensrationen können knapp werden, wenn die Strecke länger ist als erwartet. Und ein Kapitän muss in manch ausweglos scheinenden Situation die Meuterei befürchten. „Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön“, das galt zumindest nicht für die Seefahrt im Jahr 1634.
Im Bann seiner Fabulierkunst
Turton schreibt „Der Tod und das dunkle Meer“ mit cineastischem Blick. Schon mit den Eingangsszenen, bei der die handelnden Personen nach und nach den Hafen von Batavia betreten, ist man im Bann von Turtons Fabulierkunst, der man sich nicht entziehen kann. Das geschäftige Treiben hier, das Beladen des Schiffes dort; Schweine, Hühner, Kühe, Fährboote kommen an und fahren wieder. Wohlhabende Passagiere stehen unter weißen Schirmen in der sengenden Sonne und warten darauf, die „Saardam“ betreten zu dürfen. Ja, fast meint man, sogar die Gerüche in der Nase zu haben, die durch den Hafen wehen.
Menschen jubeln einer Prozession zu, die einige der wichtigsten Personen dieses Romans zum Schiff bringt: Vorne weg der stolze Generalgouverneur Jan Haan auf einem weißen Hengst, hinter ihm in einer Sänfte seine Frau Sara und Tochter Lia, die körperlich und seelisch unter ihm leiden. Beide aber sind stark und selbstbewusst unter dem Deckmäntelchen des scheinbaren Gehorsams, und beide werden sich emanzipieren, wie man es nicht erwartet, aber umso mehr feiert. Das ist eine der vielen raffinierten Wendungen.
Der frühe Sherlock Holmes
Mit der Prozession kommen auch Arent Hayes und Samuel „Sammy“ Pipps, besser bekannt unter ihren Spitznamen „der Bär und der Spatz“, zum Schiff. Arent ist groß wie ein Bär und Sammy klein wie ein Spatz. Sammy ist sozusagen der frühe Sherlock Holmes, der knifflige Kriminalfälle löst, und Arent der frühe Dr. Watson, der Sammys Fälle aufschreibt und ihm ein Freund und ständiger Begleiter ist. Die Geschichten von Sammy und Arent sind in allen Teilen der zivilisierten Welt bekannt – doch jetzt ist Sammy in Ungnade gefallen und soll in Amsterdam hingerichtet werden.
Dabei hat er gerade noch für den Generalgouverneur die geheimnisvolle Phantasterei wiedergefunden – die kostbarste Fracht der „Saardam“. Was sie kann und wer sie erfunden hat (nein, es waren nicht die Schweizer), wird man später erfahren. So viel aber ist sicher: Kostbarste Fracht bleibt nie unbeobachtet, im Guten wie im Bösen.
Und das Böse ist mit an Bord. Ob es schon da war, oder der Teufel erst in Batavia als blinder Passagier auf die „Saardam“ geschmuggelt wurde, ist lange nicht klar. Wandelt der Teufel in Menschengestalt oder ist er unsichtbar? Im 17. Jahrhundert glauben die Seeleute ohnehin an vielerlei übersinnliches Unheil und versuchen, sich bestmöglich zu schützen. Sei es mit einem Talisman um den Hals, einer glücksbringenden Münze in der Hosentasche oder einem hoffnungsmachenden, ewige Liebe versprechenden Brief einer Frau in der Brusttasche über dem Herzen. Und ein jeder fasst sich an den gewählten Glücksbringer oder murmelt Gebete, als die „Saardam“ die Taue löst und die Mannschaft die Segel setzt. Denn als das Großsegel gehisst wird, prangt auf dem weißen Tuch plötzlich das Zeichen eines Auges mit einem Teufelsschwanz. Schockschwerenot!
Der Teufel verändert die Bühne immerzu
Mit der Ankunft des Teufels geschehen seltsame Dinge an Bord, Menschen und Tiere sterben unnatürliche Tode, und immer wieder taucht dieses Teufelszeichen auf. Der Teufel verändert die von Wasser und Gezeiten umgebene Bühne immerzu. Und wir sind gefühlt überall dabei: Ob an der frischen Luft auf dem Achterdeck oder dem dicht gefüllten Orlopdeck für die Passagiere, ob in den großen Kabinen für die reichen Leute oder auf Deck bei den Matrosen. Wir sind im Frachtraum, in der Pulverkammer, rund um den Großmast und ganz vorne an der Galionsfigur. Und an keiner Stelle engt der begrenzte Raum die Geschichte ein, denn Turton gelingt es meisterhaft, diese Bühne bis in die letzte Ecke, wo keiner mehr putzt, zu nutzen.
Seine Figuren, vor allem aber die unvergesslichen Held*innen, zeichnet Turton sehr raffiniert. Wie beim Häuten einer Zwiebel oder dem Öffnen einer Matroschka erfährt man erst nach und nach mehr über die handelnden Personen – und das kann schon mal ein paar hundert Seiten dauern.
Erst auf Seite 248 etwa erfahren wir, wie groß der Hochbootsmann Johannes Wyck ist, eines der wichtigsten Besatzungsmitglieder, das zugleich eine zentrale Rolle in der Aufklärung um die seltsamen Vorfälle an Bord der „Saardam“ spielt. Und seine Größe ist alles andere als unwichtig für die Geschichte.
Turton aber gelingt es hervorragend, die Figuren in den Augen der anderen Protagonisten spiegeln zu lassen, so dass die scheibchenweise Charakterbeschreibung nicht unangenehm auffällt – eher im Gegenteil. Seine Figuren entwickeln so Licht und Schatten. Und den Rest übernimmt die Phantasie.
Das einzige Manko
Die Übersetzung ins Deutsche durch Dorothee Merkel, auch das muss man lobend erwähnen, ist ausgezeichnet. Das einzige Manko, was der Rezensent auch hier nicht müde wird zu erwähnen, ist, dass „lachen“ kein Wort aus dem Wortfeld „sagen/sprechen“ ist. Das ist eine eigentümliche Angewohnheit von immer mehr Autor*innen und Übersetzer*innen, Personen in Büchern in der wörtlichen Rede etwas lachen zu lassen. Hier etwa der Satz: „‚Ich werde gegen Arent wetten‘, lachte dieser.“ Das zeugt leider nicht von einem guten Verständnis der deutschen Sprache.
Sprachlich ist „Der Tod und das dunkle Meer“ eine Wucht. Das cineastische Auge, die ungewöhnliche Art der Personenbeschreibung und das bestechende Gespür für Situationsbeschreibungen ergeben eine wunderbare Mixtur für dieses Wunderwerk an Fiktion. „Eine kaum merkliche, filigrane, aber dennoch entscheidende Balance hatte sich auf der ‚Saardam‘ verschoben.“ Merken Sie sich diesen Satz – er wird Ihnen irgendwann im Buch begegnen, und Sie werden wissen, dass er stimmt. Wer Stimmungen beiläufig scheinend, aber so treffend mit nur einem Satz einfangen kann, ist ein Meister der Worte. Stuart Turton ist ein Meister der Worte.
Die Genre-Frage
Lässt sich Turtons Buch einem Genre zuordnen? Kurze Antwort: Nein. In seinem mit britischem Humor verfassten Nachwort, das den Titel „Eine Entschuldigung an die Geschichte und das Schifffahrtswesen“ trägt, schreibt er: „Ich mache mir ein wenig Sorgen, die Leute könnten es als ein Buch über Schiffe oder als historischen Roman bezeichnen.“ Seine Angst ist vermutlich nicht unbegründet. Menschen wollen Ordnung und stecken Dinge gerne in Schubladen. Doch „Der Tod und das dunkle Meer“ passt in keine.
Für einen historischen Roman passen manche Ereignisse in diesem Buch nicht, auch die Sprache ist nicht angepasst. Für einen Roman über Schiffe sind die Details der „Saardam“ zu ungenau. Die Kleidung der Passagiere und der Besatzung sind nicht bis zum letzten Knopf recherchiert, die technischen Errungenschaften waren 1634 teilweise noch nicht erfunden. „Ich habe gründlich recherchiert, und dann habe ich alles wieder verworfen, was meiner Geschichte hinderlich war.“ Vielleicht ist es genau das, was Turtons zweiten Roman so lesenswert macht: dass die Phantasie hier das Ruder übernehmen darf.
Stuart Turtons Roman ist ein Buch zum Lachen, denn es hat Witz. Es ist zum Weinen, denn es hat sehr anrührende und traurige Passagen. Es ist zum Mitfiebern und Miträtseln. Es ist zum Fürchten und zum Bangen und Hoffen. Es bringt hinreißende Menschen hervor, die einem so sehr ans Herz wachsen, dass sie die Tage und Nächte bestimmen und man sich keine Leseminute ohne sie vorstellen mag. Es macht süchtig und es bringt einen dazu, das Ende hinauszuzögern. Was will man denn mehr?
Deshalb: Egal, welches Buch Sie gerade lesen – legen Sie es beiseite und schlagen Sie diesen Roman auf. Er wird Ihre Zeit beglücken und Sie an das köstliche Lesegefühl erinnern, als Sie das erste Mal „Moby Dick“ oder „Die Schatzinsel“ gelesen haben.
Stuart Turton: Der Tod und das dunkle Meer, Tropen-Verlag, Stuttgart, 2021, 608 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3608504910, Leseprobe
Seitengang dankt dem Tropen-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
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