In diesen Tagen jährt sich zum zehnten Mal die Explosion mehrerer Atom-Reaktoren in Fukushima und damit die erneut deutliche Warnung vor der Atomenergie – für all diejenigen, die schon Tschernobyl nicht verstanden haben. Über Fukushima wird jetzt viel geschrieben, das Fernsehen berichtet, zeigt die Bilder, die 2011 um die Welt gingen, als ein Erdbeben einen gigantischen Tsunami auslöste und die Katastrophe ins Rollen brachte.
Es gibt Bücher und bedrückende Bildbände über Fukushima (etwa Alexander Neureuter mit „Fukushima 360º“ oder Carlos Ayesta und Guillaume Bression mit „Retracing Our Steps: Fukushima Exclusion Zone 2011-2016“), und natürlich ist über Tschernobyl noch ungleich mehr geschrieben und berichtet worden. Die US-amerikanisch-britische Miniserie „Chernobyl“ machte 2019 Schlagzeilen, heimste Golden Globes und Emmys ein und sorgte für ein neues Interesse am Super-GAU in der damaligen Sowjetunion. Der Katastrophentourismus erblühte, und immer mehr Menschen wollten in die Geisterstadt Prypjat reisen, rein in die 30-Kilometer-Sperrzone rund um das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl. Sehen, wie es dort aussieht. Viele auch: Fotos machen für Instagram. Manche auch: respektlose Fotos machen für Instagram.
Eindrücklich, respektvoll, aktuell
Aus allen Büchern und Bildbänden über Tschernobyl sticht einer ganz besonders heraus: der des deutschen National Geographic-Fotografen Gerd Ludwig. Für den großformatigen Bildband „Der lange Schatten von Tschernobyl“ reiste er über einen Zeitraum von 20 Jahren mehrfach nach Tschernobyl und dokumentierte die Zerstörung und den Verfall, aber auch das Überleben in der radioaktiv verseuchten Zone und wie die Natur sich dort behauptet. Im Gegensatz zu den dreisprachigen Bilderklärungen sprechen die Fotos wortlos alle Sprachen dieser Welt. Sie sind eindrücklich, zu Herzen gehend, den Atem nehmend, respektvoll, bedrückend, einfühlsam, aktuell. Und sie zeigen, wie die Katastrophe vom 26. April 1986 auch heute noch das Leben der Menschen und der ganzen Region überschattet.
Wir sehen Bilder aus einer Geisterstadt, der man die überfallartige Evakuierung ansieht. In einem Klassenzimmer, in dem Bäume wachsen, liegen noch Schulbücher aufgeschlagen auf den Tischen, als kämen die Schülerinnen und Schüler jeden Moment lärmend zurück. Wir sehen den Schlafsaal eines Kindergartens, der offenbar ebenso hektisch verlassen worden ist. Wie bei einem Wimmelbild sieht man zunächst nur die auffälligen Dinge. Die zurückgelassenen Puppen und Kuscheltiere, die leeren Betten. Dann aber fällt der Blick auf: die fein säuberlich ausgeschnittenen Tierfiguren, eine Untertasse, ein gemaltes Bild mit einem Stern, Stifte, eine Nähmaschine.
Wir sehen mit Schutt übersäte Korridore, haufenweise verrottende Gasmasken und eine Luftaufnahme von Tausenden hoch kontaminierter Fahrzeuge, die bei den Aufräumarbeiten benutzt wurden. Wir sehen Fotos von überlebenden Liquidatoren, die nach dem Unglück damit beschäftigt waren, stark strahlenden Schutt und Graphitblöcke zu beseitigen. Und wir sehen ihre Kinder, die zum Teil selbst schwer geschädigt sind. „Ich weiß nicht, wie ich sterben werde … Nur eins weiß ich genau: Mit meiner Diagnose lebe ich nicht lange.“ Das Kapitel „Opfer“ gibt einigen von ihnen – stellvertretend für alle – ein Gesicht.
15 Minuten im Bereich der höchsten Strahlung
Kaum ein Fotograf ist seit der Katastrophe von Tschernobyl jemals so weit in den Reaktor #4 hineingegangen wie Gerd Ludwig. Er hatte die einmalige Gelegenheit, mit Arbeitern, die mit der Stabilisierung des Sarkophags beschäftigt waren, ins Innere vorzudringen. Die Strahlung dort ist noch immer so hoch, dass der Aufenthalt auf 15 Minuten pro Tag begrenzt ist. In Schutzkleidung versteht sich. Bei Dunkelheit, und mit Angst und Beklemmung. Die dabei entstandenen Fotos und seine Erinnerung an das Erlebte sind nicht in andere Worte zu fassen.
Die Gefahr der Strahlung ist weder sichtbar, noch hörbar oder schmeckbar, und doch ist sie unmittelbar. Dem Buch ist ein Zitat vorangestellt, das es auf den Punkt bringt: „Tschernobyl … der Krieg aller Kriege. Nirgendwo ist der Mensch in Sicherheit. Weder auf der Erde noch im Wasser. Und auch nicht am Himmel.“ Eine radioaktive Wolke verteilte sich nach der Explosion in Richtung Nordwesten über Europa und machte Tschernobyl zu einer internationalen Katastrophe. „Renommierte Umweltorganisationen schätzen, dass bis zum heutigen Tag bereits mehr als 100.000 Menschen an den Folgen der Katastrophe gestorben sind“, schreibt Ludwig in der Einleitung. „Im Gedenken an Tschernobyl und angesichts der Situation im Kernkraftwerk Fukushima nach dem Erdbeben in Japan halten uns diese Fotos vor Augen, dass Unfälle im Ausmaß von Tschernobyl zum Wesen von Kernkraft gehören und sich überall und jederzeit wiederholen können.“
Wenn nicht Tschernobyl und Fukushima Mahnungen genug sind, so sind es Bücher wie „Der lange Schatten von Tschernobyl“, die Entscheidern in Politik und Gesellschaft regelmäßig einen Schlag in den Nacken verpassen sollten. Denn die Themen Strahlung, Atomkraft und Radioaktivität versiegen ja nicht wie die Berichte zum Jahrestag der Katastrophen. Laut dem World Nuclear Report sind im Februar 2021 weltweit immer noch 414 Reaktoren in Betrieb. Rund um Deutschland sind es zum Teil sehr alte Reaktoren, Beispiele sind Tihange und Doel in Belgien sowie Cattenom/Frankreich. In Aachen sind deshalb schon Jodtabletten an die Bevölkerung ausgegeben worden, im Saarland werden sie bereits vorsorglich gelagert.
Sowohl Tschernobyl als auch Fukushima galten immer als sichere Atomkraftwerke. Wie sicher „sicher“ ist, wissen wir nicht erst seit 2011. Für hundertprozentige Sicherheit hilft nur eins: abschalten.
Gerd Ludwig: Der lange Schatten von Tschernobyl – mit einem Essay von Michail Gorbatschow, Edition Lammerhuber, Baden, 2017, 252 Seiten, 127 Fotos, dreisprachig (Deutsch, Englisch, Französisch), im Schuber, 75 Euro, ISBN 978-3901753664