Der Sommer bedeutet für viele Familien: Nichts wie raus ans Meer! Dass der Strand dadurch jedes Jahr zur Spielwiese der Eitelkeiten wird, aber auch zum Theater der Nacktheit, zum Schauplatz von Konflikten und zur Bühne eines Sozialkosmos sondergleichen, ist nie treffender und vergnüglicher beschrieben worden als in der Graphic Novel „Rein in die Fluten!“ vom französischen Comic-Duo David Prudhomme und Pascal Rabaté. Die perfekte Lektüre für den sich noch einmal aufbäumenden Sommer.
Schon auf dem Weg in den fiktiven Badeort Polovos Plage begegnen sich die ersten Charaktere dieses Lustspiels: Die Familienväter, die argwöhnisch die Autos der anderen Tankstellenbesucher beäugen („Wieviel pumpt der denn in seine Karre?“, „Was braucht der auch ’nen Allrad, um ans Meer zu fahren?“) und auf dem Rücksitz die eigene Brut sitzen haben, die sich entweder missmutig einen MP3-Player teilen muss oder damit beschäftigt, alle Varianten von „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ zu singen, zur Freude ihrer Eltern („Singt uns doch mal was Schönes, ihr Racker!“). Die zugreisenden Bierbäuchigen mit ihren überheblichen Sprüchen und die jovialen Jungväter mit ihren frenetischen Ausrufen, die jedes Abteil zur Weißglut treiben. Die Stausteher, die bereits am Vortag Angelangten und die Yuppies von Welt. Doch dieses Menschen-Potpourri ist noch steigerungsfähig, denn erst am Strand entrollt sich das wahre Panorama.
Und mal ehrlich: Wir kennen sie alle, diese wunderlichen Typen, denen man an so einem Tag am Meer unweigerlich begegnet. Wir kennen sie alle, und auch deshalb ist dieser Comic so amüsant. Diese Geschichte braucht keine Hauptfigur, denn die Protagonisten sind wir selbst, die wir uns an den Meeren dieser Welt zum Zeitvertreib, zum Sonnenbad oder auch – das würde natürlich keiner zugeben – aus voyeuristischen Motiven tummeln.
Cineastische Struktur
Prudhomme und Rabaté haben den ganzen Wahnsinn erzählerisch fantastisch eingefangen: Oft mutet die Struktur cineastisch an, wenn etwa eine Szene zunächst das vor der Bahnschranke stehende Auto zeigt, die nächste Szene einen Perspektivwechsel vornimmt und der Leser plötzlich im vorbeirauschenden Zug sitzt, dort einige Augenblicke verweilt, bis ein Auto vorübersaust und den Leser dorthin katapultiert. Es ist, als säße man in einem chinesischen Restaurant an einem dieser drehbaren Tische, und jeder der Gäste dürfte mal drehen, um sich die Szene aus einem anderen Blickwinkel anzusehen. Es wird gezoomt und geschwenkt.
Das führt auch grafisch zu feinen Überraschungen, wenn sich Illusionen auflösen: eine der schönsten ist sicherlich jene, als sich ein Herr mit gelbem Sonnenhut, sonnenbrandroten Armen und dickem weißen Bauch dem FKK-Strand nähert und man wähnt, er komme über eine Düne. Doch tritt der Betrachter ein Stück zurück, entpuppt sich die Düne als nackter Frauenkörper. Wenige Seiten später suchen Eltern ihren Jungen. Die Mutter entdeckt ihn am Horizont in einem steinernen Wellenbrecher, der Leser aber ist ähnlich blind wie der Vater. Erst als die Szenerie weiter heranrückt, kann man ihn mit Mühe und Not zwischen den Steinen klettern sehen. Die Mutter: „Wir müssen ihm echt so ’ne Neonhose besorgen.“
„Die Ferien des Monsieur Hulot“
Der cineastische Gedanke kommt nicht von ungefähr, auch wenn Autor und Zeichner damit weniger die Kamerafahrten verbinden, denn tatsächlich hat ein alter Kultfilm die beiden zu ihrem Comic inspiriert: „Die Ferien des Monsieur Hulot“ von und mit Komiker und Regisseur Jacques Tati. Der hatte schon 1953 seine Landsleute am Meer ordentlich persifliert. Gegenüber Kai Löffler vom Deutschlandfunk sagte Rabaté: „Wir bewundern beide sehr die Arbeit von Jaques Tati; sie ist gleichzeitig poetisch und burlesk komisch. Ich würde sogar sagen, Tati ist einer unserer Haupteinflüsse.“
Und so wie Tati in die Rolle des Monsieur Hulot schlüpft, haben auch Prudhomme und Rabaté ihren Platz in Polovos Plage gefunden. Entdecken Sie die beiden am Strand oder im Dorf oder irgendwo im Meer! Und auf dem Weg dorthin und beim Lesen ihres Comics können Sie förmlich den heißen Sand unter den Füßen spüren, und die See rauschen und die Kinder juchzen und manche Paare streiten hören. Sie werden die Augen verdrehen, Sie werden lachen und den Kopf schütteln ob der grotesken Figuren, und sich darin vielleicht ein wenig selbst erkennen. Unbedingt aber werden Sie eines des besten Sommerbücher dieses Jahres lesen – und damit einen Schatz heben, von dem Sie noch in grauen Herbsttagen zehren können.
David Prudhomme, Pascal Rabaté: Rein in die Fluten!, Reprodukt Verlag, Berlin, 2016, 120 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3956400742, Leseprobe
Seitengang dankt dem Reprodukt-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
Diese Rezension ist auch auf NW.de erschienen, dem Onlinedienst der Neuen Westfälischen (Bielefeld).
Einfach wunderbar!!