Sieben Bundesländer sind schon in den Sommerferien – es wird also Zeit, die Buchtipps für den Sommerurlaub auszugeben. Empfohlen werden nur bereits rezensierte Bücher, die sich als Urlaubslektüre anbieten. Für die bessere Übersicht sind die Tipps in Kategorien unterteilt.
Romane & Erzählungen
1. Simon Lelic: Ein toter Lehrer: Ein Lehrer geht in eine Schulvollversammlung und erschießt drei Schüler sowie eine Kollegin. Danach richtet er sich selbst. Das Motiv ist rätselhaft. Was wie der Beginn eines Krimis klingt, ist ein zutiefst erschütterndes menschliches Drama. Man sollte es gelesen haben.
Samuel Szajkowski ist der neue Geschichtslehrer an einer renommierten Londoner Schule. Dort hat er es von Anfang an schwer. Der ignorante Schulleiter stellt ihn nur ein, weil er “der am wenigsten unterqualifizierte einer wahrlich nicht begeisternden Truppe” von Bewerbern war. Der machohafte Sportlehrer der Schule schikaniert Szajkowski, wo es nur geht. Auch die Schüler gehen mit ihm nicht gerade zimperlich um. Schon in der ersten Schulstunde schlägt Ober-Rowdy Donovan den neuen Geschichtslehrer in die Flucht – weinend.
Man kann sicherlich behaupten, dass Szajkowski der Lehrerrolle nicht unbedingt gewachsen ist und er wahrscheinlich den falschen Beruf ergriffen hat, aber was den Leser wirklich tief erschüttert, ist nicht nur Szajkowskis Hilflosigkeit, sondern vor allem das Versagen der Schule, das sich nach und nach entrollt. Zur Rezension.
Simon Lelic: Ein toter Lehrer, Droemer Verlag, München, 2011, 349 Seiten, gebunden, 16,99 Euro, ISBN 978-3426198698
Knaur Taschebuch Verlag, München, 2012, 352 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro, ISBN 978-3426505199
2. Paul Murray: Skippy stirbt: Selten ist die Titelfigur eines Romans so schnell gestorben wie in Paul Murrays Zweitlings-Werk. Bereits auf Seite zwölf lässt der irische Schriftsteller seinen Helden das Zeitliche segnen, die restlichen 768 Seiten beschäftigen sich mit den Hintergründen von Skippys Tod. Der ist übrigens kein Känguru, sondern Schüler an einem altehrwürdigen katholischen Jungeninternat. Richtig heißt er Daniel Juster, wird von seinen Freunden wegen seiner vorstehenden Zähne aber nur „Skippy“ gerufen.
Skippy wohnt mit seinem besten Freund Ruprecht van Doren im Turmzimmer des Seabrook Colleges. Während Skippy sich für das Computerspiel „Hopeland“ begeistert, ist Ruprecht auf der Suche nach außerirdischer Intelligenz und stellt komplexe mathematische Gleichungen auf. Als sich Skippy jedoch in die wunderschöne, Frisbee-spielende Lori Wakeham vom Mädcheninternat gegenüber verliebt, gerät alles aus den Fugen. Zur Rezension.
Paul Murray: Skippy stirbt, Antje Kunstmann Verlag, München, 2010, 780 Seiten, broschiert im Schuber, 26 Euro, ISBN 978-3888977008
Goldmann Verlag, München, 2012, 784 Seiten, Taschenbuch, 12,99 Euro, ISBN 978-3442476954
Krimi, Thriller und all das
1. Austin Wright: Tony & Susan: Es ist ein Roman im Roman. Rund zwanzig Jahre lang hat Susan Morrow nichts von ihrem Exmann Edward gehört, da bekommt sie mit einem Mal einen Brief von ihm. Er bittet sie, sein Roman-Manuskript zu lesen. Die Neugier siegt: Sie liest es. Der Roman im Roman ist ein dramatischer und fesselnder Thriller: Edwards “Nachttiere” erzählt von dem Mathematikprofessor Tony Hastings, der mit seiner Frau und seiner Tochter auf dem Weg in den Urlaub ist.
In einer Szene, wie sie aus einer alten Stephen-King-Verfilmung stammen könnte, gerät er nachts auf einer einsamen Straße mit einem merkwürdigen Trio aneinander. Die drei in ihrem Buick drängen ihn von der Straße ab, entführen seine Frau und seine Tochter, vergewaltigen und ermorden sie. Was nach üblichem Thriller-Schema klingt, wird vielmehr zum verstörenden Psychogramm eines Mannes, dem die Realität mit all ihren Strukturen abhanden kommt, der sich verirrt. Zur Rezension.
Austin Wright: Tony & Susan, Luchterhand Literaturverlag, München, 2012, 414 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3630873664
2. Glenn Cooper: Die Namen der Toten: Alles deutet auf den perfiden Plan eines Serienkillers: Obwohl die Opfer sonst nichts miteinander gemein haben, erhalten sie alle einen Tag vor ihrem Tod eine schlichte, weiße Postkarte mit ihrer Adresse in schwarzer Maschinenschrift. Auf der Rückseite steht das Datum des nächsten Tages; daneben ist mit schwarzer Tinte ein Sarg gemalt.
In Las Vegas treibt sich derweil ein Mann namens Mark Shackleton herum, der in einer Identitätskrise steckt. Sein Alter Ego träumt davon, Drehbücher in Hollywood unterzubringen, und auch Mark Shackleton will endlich etwas Herausragendes bewirken.
Und dann sind da noch die anfangs verwirrenden Rückblicke in die Vergangenheit, die seltsam anmuten, aber für die Lösung des Falls unabdingbar sind. Hochspannend! Zur Rezension.
Glenn Cooper: Die Namen der Toten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2009, 508 Seiten, Taschenbuch, 9,95 Euro, ISBN 978-3499249280
3. Reginald Hill: Rache verjährt nicht: Wilfred “Wolf” Hadda, ein einfacher Holzfäller, hat sich in die adelige Imogen verliebt, ihr Herz erobert und sie schließlich geheiratet. Mittlerweile ist er ein erfolgreicher Hedgefondsmanager mit einem millionenschweren Vermögen, einem Privatjet und mehreren Wohnsitzen, und er hat diese bezaubernde Frau an seiner Seite. Doch eines Morgens findet das alles ein jähes Ende.
Wolf wird verhaftet. Erst auf dem Polizeirevier erfährt er, dass er Kinderpornografie gehortet und verkauft haben soll. Als er nach sieben Jahren aus der Haft entlassen wird, zieht er zurück in die Wälder von Cumbria in Nordengland, wo alles seinen Anfang nahm, und macht sich daran, die Hintergründe seines Falls zu erforschen. Lesen, lesen, lesen! Zur Rezension.
Reginald Hill: Rache verjährt nicht, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2012, 686 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3518463901
Ganz klassisch
1. Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf: Ein junger Mann von 16 Jahren erschießt im russischen Bürgerkrieg einen Reiter. Noch Jahre später bedrückt ihn die Erinnerung daran. Doch eines Tages fällt ihm ein Buch in die Hände, in dem genau diese Szene beschrieben steht – aus der Sicht des vermeintlich Getöteten. Hat er überlebt? Der inzwischen erwachsen gewordene Erzähler macht sich auf die Suche nach einem Schriftsteller namens Alexander Wolf, der offenbar ihr gemeinsames Erlebnis aufgeschrieben hat.
Doch erst als er Heiligabend in einem russischen Restaurant einen Mann namens Wladimir Petrowitsch Wosnessenski kennenlernt, kommt er dem Phantom auf die Spur. Denn durch einen wahrhaft erstaunlichen Zufall kennt ausgerechnet Wosnessenski den geheimnisvollen Alexander Wolf. “Das Phantom des Alexander Wolf” ist eine Entdeckung für deutsche Leser. Zur Rezension.
Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf, Hanser Verlag, München, 2012, 191 Seiten, gebunden, 17,90 Euro, ISBN 978-3446238534
2. Francis Scott Fitzgerald: Zärtlich ist die Nacht: Dick und Nicole Diver sind auf den ersten Blick ein harmonisches Pärchen, das in den Roaring Twenties an der französischen Riviera ein mondänes, ausschweifendes Leben führt. In ihrer Villa gehen Künstler ein und aus, am Strand treffen sich die Reichen, die Schauspieler und Lebenskünstler, schlürfen Gin zur Mittagsstunde, gehen dann und wann im Mittelmeer schwimmen und sind stets bestrebt, den Tag und die Nacht bestmöglich zu genießen.
So trifft eines Tages auch die attraktive 18-jährige Schauspielerin Rosemary am Strand ein. Unbedarft und naiv verliebt sie sich sogleich in Dick Diver und will ihn unbedingt verführen. Sie hätte womöglich von ihrem Plan Abstand genommen, hätte sie gewusst, welches Geheimnis Dick und seine Frau Nicole verbergen. Und wie das alles enden würde.
Im Diogenes Verlag ist jetzt erstmals die ursprüngliche Fassung von 1934 erschienen, übersetzt von Renate Orth-Guttmann. Es ist ein Genuss. Zur Rezension.
Francis Scott Fitzgerald: Zärtlich ist die Nacht, Diogenes Verlag, Zürich, 2006, 553 Seiten, gebunden, 24,90 Euro, ISBN 978-3257065213
Diogenes Verlag, Zürich, 2007, 552 Seiten, Taschenbuch, 11,90 Euro, ISBN 978-3257236958
Draculas Erben
1. Matt Haig: Die Radleys: Die Radleys sind alles andere als eine normale Familie – sie sind Vampire. Siebzehn Jahre lang haben die Eltern Helen und Peter ihr Geheimnis für sich behalten können. Doch nachdem ihre Tochter Clara auf einer Party einen zudringlichen Mitschüler in Notwehr zu Tode beißt, müssen sie ihr und ihrem Bruder Rowan die erschütternde Wahrheit offenbaren: Sie sind abstinente Vampire, die sich bisher dem Blutdurst verweigert und der Gesellschaft angepasst haben.
Es ist wohl vor allem dem tiefschwarzen Humor des britischen Autors zu verdanken, dass dieser Roman nicht als einer der “Twilight”-Nachahmer gehandelt werden muss. Wer allerdings spannungsgeladene, bluttriefende Seiten erwartet, wird enttäuscht werden. “Die Radleys” ist kein Reißer mit Reißzähnen, sondern ein vergnüglicher Trip mit skurrilen Einfällen. Zur Rezension.
Matt Haig: Die Radleys, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2010, 429 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3462042337;
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 2012, 432 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro, ISBN 978-3499255274
Graphic Novel
1. Nine Antico: Coney Island Baby: Bettie Page und Linda Lovelace sind zwei der berühmtesten amerikanischen Sex-Ikonen. Die französische Zeichnerin Nine Antico erzählt in ihrer großartigen Doppelbiografie von der Karriere dieser beiden Frauen, aber auch vom Wesen und Unwesen der Pornoindustrie. Mit Respekt, aber auch mit dem nötigen Abstand.
Die nüchternen schwarz-weißen Zeichnungen zeigen die Wege der beiden Frauen in ihrem gesellschaftlichen und historischen Kontext. Und obwohl das Buch erst ab 18 empfohlen wird und einige sexuelle Passagen zu sehen sind, wird es nie schlüpfrig oder unangenehm. Das Buch erregt viel weniger, als dass es erschüttert. Zur Rezension.
Nine Antico: Coney Island Baby, Verlag bbb Edition Moderne, Zürich, 2011, 232 Seiten, broschiert, 26 Euro, ISBN 978-3037310731
Für Kind und Kegel
1. Colin Meloy/Carson Ellis: Wildwood: Als die zwölfjährige Prue nur einen Moment nicht aufpasst, geschieht das Unfassbare: Ein Schwarm Krähen greift sich ihren kleinen Bruder Mac und fliegt mit ihm in die “Undurchdringliche Wildnis” jenseits der Stadt. Die mutige Prue zögert nicht lang und macht sich auf, ihren Bruder zu retten. So beginnt eines der derzeit schönsten Kinder- und Jugendbücher: “Wildwood”, geschrieben von Colin Meloy und zauberhaft illustriert von dessen Frau Carson Ellis.
Mit ihrem Klassenkameraden Curtis macht sich Prue auf, ihren kleinen Bruder aus den Fängen der Krähen zu retten. Auf ihrer Reise erleben sie noch viel eigentümlichere Dinge. Phantasievoll und mit Witz erzählen Meloy und Ellis ein skurriles Märchen über gefiederte Freunde, eine böse Hexe, Kojoten und Räuber. Es geht um Macht, Magie und Politik. Zur Rezension.
Colin Meloy/Carson Ellis: Wildwood, Heyne Verlag, München, 2012, 591 Seiten, gebunden, mit sieben Farbtafeln und 30 Schwarz-weiß-Illustrationen, 19,99 Euro, ISBN 978-3453267145
2. Leanne Hall: Die Nacht von Shyness: Als Nia in der Diskothek des “Diabetic Hotels” einen jungen Typen mit John-Travolta-Frisur kennenlernt, der nur unter dem Namen Wolfboy bekannt ist, beginnt die wohl schrägste Nacht ihres Lebens. Denn Wolfboy kommt aus dem Stadtviertel Shyness, wo die Sonne niemals aufgeht. Dort herrscht stets völlige Dunkelheit, und in den Straßen sind allerlei zwielichtige Gestalten unterwegs. “Die Nacht von Shyness” – nicht nur für Jugendliche ein ganz und gar ungewöhnliches Buch, das unbedingt nachts gelesen werden sollte. “Shyness” ist kein Fantasy-Buch, und doch strotzt es vor Phantasie.
Der Autorin ist eine besondere Art der Dystopie gelungen: Ein Stadtviertel, in dem seit fast drei Jahren die Sonne nicht mehr scheint, während in anderen Vierteln alles seinen gewöhnlichen Gang geht, zuckersüchtigte Kinderbanden, die von kleinen Affenhorden begleitet werden, sowie ein Psychiater, der offenbar einen rätselhaften Plan verfolgt – und niemand weiß den Grund für die plötzliche Dunkelheit. Zur Rezension.
Leanne Hall: Die Nacht von Shyness, Aufbau Verlag, Berlin, 2012, 280 Seiten, gebunden, 16,99 Euro, ISBN 978-3351041540
Sachgeschichten
1. John Jeremiah Sullivan: Pulphead: John Jeremiah Sullivans Reportagen aus der Neuen Welt übertreten in außergewöhnlicher Weise die Grenze zwischen Literatur und journalistischer Berichterstattung. Sie sind scharfsinnig, nahegehend, manche mit feinem Witz, ohne zu spotten, insgesamt ganz und gar erstaunlich.
Seine Herangehensweise ist stets direkt und ehrlich, seine Themen sind vielfältig: Das Reality-Fernsehen, ein Besuch im vom Hurrikan Katrina zerstörten New Orleans, Robert Johnson und die Wurzeln der Country-Blues-Musik, Disney-Land sowie eine Audienz bei Bunny Wailer, dem letzten noch lebenden Mitglied von Bob Marleys erster Band. Sullivan ist nicht nur Wissensvermittler und sturer Protokollant, seine Texte sind an keiner Stelle überheblich, sondern strotzen vor Lust am Erleben. Er ist ein Reportage-Hedonist. Zur Rezension.
John Jeremiah Sullivan: Pulphead, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2012, 416 Seiten, Taschenbuch, 20 Euro, ISBN 978-3518068908
Seitengang wünscht viel Spaß beim Lesen und einen schönen Urlaub!
Vielen Dank für die Empfehlung!