Buch Wien 2021: Das Fazit

© LCM/Nicola Montfort
© LCM/Nicola Montfort

Vor vier Wochen endete die „Buch Wien“ des Jahres 2021, der Termin für die nächste Buchmesse steht bereits fest (23. bis 27. November 2022). Es wird höchste Zeit, ein Fazit zu ziehen. Laut Veranstalter bot diese Messe den mehr als 40.000 Besucher*innen ein Programm von 225 Stunden. In der Messehalle standen 12.150 Quadratmeter Ausstellungs- und Bühnenfläche zur Verfügung, in der ganzen Stadt boten 23 weitere Orte allerlei Bücher-Veranstaltungen: Lesungen, Diskussionen, Autogrammstunden.

Ich habe nur eine einzige Veranstaltung besucht, die nicht auf dem Messegelände war. Im wunderbaren Bücherladen-Café „phil“, in dem ich 2013 Nadine Kegele und ihre Literatur bei einer Lesung entdeckte, las die in Belgrad geborenen Autorin Barbi Marković aus ihrem neuen Roman „Die verschissene Zeit“; später bin ich ihr auch noch einmal auf der Buchmesse begegnet. Das „phil“ ist ohnehin immer einen Besuch wert – wer also Wien besucht, sollte da unbedingt mal reinschauen, auch wenn gerade nicht Buchmesse ist.

Freude am eigenen Text

Die Lesung habe ich in besonders guter Erinnerung behalten. Nicht nur wegen des interessanten Romans, sondern vor allem wegen der mitreißenden Art, wie die Autorin ihr Buch vorstellte. Sie lächelte, ja, lachte viel an diesem Abend beim Vorlesen – es war wunderbar, ihr die Freude am eigenen Text so deutlich anzusehen. 

Der Besuch der Messehalle stand natürlich immer ganz unter dem damals aktuellen Stand der Pandemie. Österreich hatte in der Woche die 2G-Regel eingeführt, es durften nur Geimpfte und Genesene in die Halle, was an den Eingängen peinlich genau überprüft wurde. In der Halle war es erlaubt, die Maske abzusetzen, die Veranstalter wiesen aber jeweils darauf hin, dass sie eine Maske empfehlen. Am Eröffnungsabend hatte ich noch das Gefühl, dass wesentlich mehr Besucher*innen ihre Maske abnahmen, an den darauffolgenden Tagen sah man nur noch wenige Menschen ohne Maske durch die Gänge streifen.

Das hat gut funktioniert

Die Veranstalter hatten ein „gut durchdachtes Hygienekonzept“ angekündigt. An stark frequentierten Orten werde „ein umfassendes Crowdmanagement eingesetzt, das ungeplante Menschenansammlungen mittels technologischer Hilfe frühzeitig erkennt“. Dies ermögliche „der veranstaltungseigenen Sicherheitszentrale, rasch einzugreifen und jegliche Traubenbildung zu vermeiden“. Man muss sagen: das hat gut funktioniert. Vor den großen Bühnen war jeweils nur eine bestimmte Besucher*innen-Anzahl erlaubt, eine digitale Anzeige machte zu jeder Zeit deutlich, wie viele Zuschauer*innen der Bereich noch betreten durften. Ein Leitsystem führte die Messe-Besucher*innen kontrolliert aus den Bühnenbereichen, die Autogrammstunden waren ähnlich gut organsiert.

Das Programm der „Buch Wien“ war in diesem Jahr nicht so fett gefüllt wie in den vergangenen Jahren. Das hatte für mich den Vorteil, dass ich nicht von Veranstaltung zu Veranstaltung gehetzt bin, sondern Zeit hatte, mich ausgiebig an den Ausstellungsständen der Verlage herumzutreiben. Und das Angenehme an der „Buch Wien“ ist ja stets, dass sie sich nicht in riesigen Messehallen abspielt wie bei den Buchmessen in Leipzig oder Frankfurt, sondern sie sich auf eine Halle begrenzt. Damit ist und bleibt die Wiener Buchmesse herrlich überschaubar, angenehm und familiär.

Ich bin die Rückreise angetreten mit sieben neuen Büchern im Gepäck: David Schalko – „Bad Regina“, Thomas Mulitzer – „Pop ist tot“, Uli Brée – „Du wirst mich töten“, Arno Schmidt, gezeichnet von Mahler – „Schwarze Spiegel“, Barbi Marković – „Die verschissene Zeit“, Stefan Franke – „Der Konzern“, Malet/Tardi – „Burma“. Dazu wird es irgendwann Besprechungen von mir geben.

Weitere Rezensionen sind natürlich schon in Vorbereitung und werden bald erscheinen – eine bereits in der kommenden Woche. Wer nochmal nachlesen will, was ich bisher so über die „Buch Wien“ geschrieben habe, folgt diesem Link, wer nur die Berichte aus 2021 lesen möchte, folgt diesem Link.

Seitengang berichtet von der „Buch Wien 2021“

Vom 10. bis 13. November berichtet „Seitengang – ein Literatur-Blog“ wieder von der Internationalen Buchmesse in Wien, der „Buch Wien 2021“. Mehr als 400 Veranstaltungen an 23 Orten in der österreichischen Bundeshauptstadt, tausende Neuerscheinungen auf einer Messefläche von rund 12.000 Quadratmetern und Aussteller aus insgesamt 31 Nationen, das alles verspricht die diesjährige „Buch Wien“.

Nach der pandemiebedingten Absage der letztjährigen Messe bringt die „Buch Wien“ in diesem Jahr also wieder die hellen Köpfe aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft sowie die wichtigsten literarischen Stimmen der Gegenwart nach Wien und präsentiert deutschsprachige sowie internationale Autor*innen mit ihren neuesten Werken.

Isolde Charim als Festrednerin

Für die Eröffnung des größten Bücher-Events Österreichs haben die Veranstalter einmal mehr eine hochkarätige Festrednerin verpflichtet: Isolde Charim. Die renommierte Philosophin wird auf einige der brennenden gesellschafts- und kulturpolitischen Themen der Gegenwart eingehen, heißt es. Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der taz und des Falters. Zuletzt hat sie 2018 das viel beachtete Werk „Ich und die anderen: Wie die neue Pluralisierung und alle verändert“ veröffentlicht und ist dafür mit dem „Philosophischen Buchpreis 2018“ ausgezeichnet worden.

Nach der feierlichen Eröffnung beginnt wie immer die beim Publikum sehr beliebte „Lange Nacht der Bücher“. Der Abend beginnt mit einem Konzert der oberösterreichischen Zwei-Mann-Band „Attwenger“, über deren neues Album die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Musik von einem anderen Stern“. Danach werden Eva Menasse, Sebastian Fitzek, Michael Köhlmeier und Doris Knecht ihre neuen Bücher vorstellen, in der Donau Lounge wird über Political Correctness diskutiert und die IllustrationLadies Vienna sind auch am Start. Nicht mehr wegzudenken ist außerdem die Poetry-Slam-Nacht. Außerdem wird natürlich Raphaela Edelbauer, die Gewinnerin des am Montag, 8. November, verliehenen Österreichischen Buchpreises erwartet.

Zu den literarischen Stars der „Buch Wien“ gehören in diesem Jahr Namen wie Edmund de Waal, Nick Thorpe, Rumena Bužarovska, Ayelet Gundar-Goshen, Benedict Wells, Marc Elsberg oder Barbi Marković.

Zum ersten Mal: „Buch Wien“-Debatte

Zum ersten Mal setzt die Buchmesse dieses Jahr den neuen Programmschwerpunkt „‚Buch Wien‘-Debatte“ in die Tat um. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe treffen sich Meinungsführer*innen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Literatur für einen produktiven Austausch. So soll es spannende Diskussionen, Streitgespräche und packende Vorträge über gesellschaftspolitische Themen geben wie Feminismus oder radikalisierten Konservativismus. Expert*innen wie die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder, Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl oder Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani legen ihre Standpunkte dar. Herfried Münkler, Florian Illies sowie Hannelore Veit und Peter Fritz sorgen mit ihren neuen Sachbüchern für Gesprächsstoff. Und live von der UN-Klimakonferenz in Glasgow bieten Luisa Neubauer und Bernd Ulrich Einblicke und erste Analysen.

Als erstes Gastland in der Geschichte der „Buch Wien“ begrüßen die Veranstalter Russland in der Messehalle. Der Gastauftritt erstrecke sich über das gesamte Programm und sei eine einmalige Gelegenheit, die russische Verlags- und Kreativbranche intensiv kennenzulernen, heißt es in der Vorschau. Das komplette Programm des Gastlandes finden Sie hier.

Die Buchmesse unter Corona-Bedingungen

Da auch in Österreich die Corona-Zahlen wieder steigen und ab Montag, 8. November, landesweit die 2G-Regel gilt, verspricht die Messe-Leitung ein „gut durchdachtes Hygienekonzept“. An stark frequentierten Orten werde „ein umfassendes Crowdmanagement eingesetzt, das ungeplante Menschenansammlungen mittels technologischer Hilfe frühzeitig erkennt“. Dies ermögliche „der veranstaltungseigenen Sicherheitszentrale, rasch einzugreifen und jegliche Traubenbildung zu vermeiden“.

„Seitengang – ein Literatur-Blog“ wird bis einschließlich Samstag, 13. November, von der „Buch Wien“ berichten, die Messe läuft bis zum 14. November. Informationen zur diesjährigen „Buch Wien“ und wie Sie auch digital an Veranstaltungen teilnehmen können, finden Sie hier.

Sie wollen alle bisherigen Seitengang-Berichte über die „Buch Wien“ lesen? Dann bitte hier entlang!

Verlosung zum Gratis-Comic-Tag am 13. Mai 2017

Einmal im Jahr feiert die deutschsprachige Comicszene den sogenannten Gratis-Comic-Tag (GCT). Dann liegen in vielen Comic-Läden und Buchhandlungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz 30 eigens für diesen Tag produzierte Hefte aus, die kostenlos mitgenommen werden können. Ziel der Aktion ist es, das narrative Potential, die thematische Vielfalt und künstlerische Qualität des Mediums einer breiteren Öffentlichkeit vertraut zu machen. Vor allem aber soll sie all jenen Menschen, die ihren Lesestoff über das Internet beziehen, einen Anreiz bieten, wieder mehr die lokalen Buch- und Comicläden zu besuchen.

Die Auswahl in diesem Jahr ist wieder mal fein: 30 unterschiedliche Hefte haben die Verlage produzieren lassen, darunter Auszüge aus aktuellen Manga-Bestsellern wie „One-Punch Man“, crossmediale Comic-Stories zu TV-Formaten wie „Sherlock“ und „Dr. Who“, traditionelle US-Comic-Helden wie Superman und Spider-Man oder moderne zeitgeistige Heldinnen wie die „Paper Girls“ aus dem Verlag Cross Cult.

Dazu intelligente Independent- und freche Pulp-Unterhaltung aus Deutschland, Kindercomics und allerlei Phantastisches. Und natürlich nicht zu vergessen: die Ausgabe zum 65. Geburtstag von Entenhausens genialischen Erfinder Daniel Düsentrieb oder André Franquins Berufschaot „Gaston“, der auch schon 60 Jahre alt wird (man sieht’s ihm nicht an!).

Sie sind Krimi- und Thriller-Fan? Auch an diese Interessen ist gedacht: Die französische Serie „Gil St. Andre“ (All Verlag) ist ein Entführungs-Thriller mit überraschenden Wendungen. „Sherlock“ ist eine japanische Version der BBC-Serie mit Benedict Cumberbatch. Etwas freier, aber auch Sherlock Holmes: „Die Chroniken des Moriaty“ ist eine Horror-Lovecraft-Variante des legendären Stoffes von Arthur Conan Doyle. „Silver“ ist ein stylischer Vampir-Krimi in Schwarzweiß. Und aus Deutschland kommt der Verschwörungs-Thriller „Seneca Akte: Die Ustica-Verschwörung“.

Welcher Laden macht mit?

Knapp 330 Händler haben sich zum diesjährigen Gratis-Comic-Tag angemeldet. Bei einigen Comic-Händlern gibt es am Samstag darüber hinaus auch noch Signierstunden mit Comic-Künstlern, Ausstellungen oder zusätzliche Sonderangebote. Wer wissen möchte, welcher Händler denn aus der Nähe überhaupt mitmacht, kann das hier auf der Webseite zum Comic-Tag nachsehen.

In Ostwestfalen-Lippe nehmen sieben Händler teil: Der Comic-Laden in Lemgo (Kreis Lippe), das Comic- und Musik-Archiv in Bielefeld, der Laden „Moderne Zeiten“ in Bielefeld, sowie die Thalia-Buchhandlungen in Bielefeld, Minden, Paderborn und Bad Oeynhausen.

Verlosung von drei Comics

„Seitengang – Ein Literatur-Blog“ verlost in diesem Jahr mit dem Veranstalter drei Comics (nicht deren Gratis-Hefte!): „Sherlock Holmes & das Necronomicon“ (Splitter Verlag), „Hilda und der Mitternachtsriese“ (Reprodukt Verlag) sowie „Superman: Lois und Clark“ (Bd.1, Panini Verlag). Was Sie tun müssen, um eines dieser Comics zu gewinnen? Kommentieren Sie einfach diesen Artikel und schreiben Sie, warum Sie so gerne Comics bzw. Graphic Novels lesen, und vielleicht auch, welchen der drei Comics Sie am liebsten gewinnen würden.

Alle Kommentare bis Freitag, 12. Mai, 11.59 Uhr, landen im Lostopf (beachten Sie auch die Teilnahmebedingungen am Ende dieses Artikels!).

Die Verlosung ist beendet und die Gewinner bereits benachrichtigt!

Die Geschichte des Gratis-Comic-Tags

Der GTC ist noch ein sehr junger Aktionstag. Es ist nämlich gerade erst sieben Jahre her, dass der deutschsprachige Comic- und Buchhandel und die Comic-Verlagslandschaft den Aktionstag ins Leben gerufen haben. Siebzehn Verlagshäuser, von Marktführern wie Carlsen, Egmont Ehapa und Panini bis hin zu Einmannverlagen und Independent-Comic-Schmieden, hatten sich anfangs zusammengetan und 30 verschiedene Comic-Hefte produziert, die am GTC mit einer Startauflage von 180.000 Stück bei Händlern in fast allen größeren Städten kostenlos an alle Interessierten verschenkt wurden.

Der Erfolg gab den Machern Recht, und 2011 und 2012 wurde die Druckauflage der GCT-Hefte bereits fast verdoppelt. 300.000 Comics gingen unters Volk. 2013 und 2014 stießen immer mehr klassische Buchhandlungen zu den GCT-Läden dazu und führten ihre Kundinnen und Kunden in die Welt der Neunten Kunst ein. Im Jahr 2017 werden erstmals 400.000 Comic-Hefte ausgeliefert.

Die Teilnahmebedingungen des Gewinnspiels:
1. Veranstalter des Gewinnspiels ist der Blog „Seitengang – Ein Literatur-Blog“. Das Gewinnspiel gehört zur Aktion „Gratis-Comic-Tag 2017“.
2. Die Teilnahme ist kostenlos. Mit der Teilnahme am Gewinnspiel akzeptiert der Benutzer diese Teilnahmebedingungen.
3. Teilnahmeberechtigt sind nur Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die bei der Teilnahme mindestens 18 Jahre alt sind. Teilnehmer des Gewinnspiels ist diejenige Person, der die eMail-Adresse gehört, die beim Kommentar des Blog-Artikels angegeben wird. Es ist pro Teilnehmer nur eine Teilnahme möglich. Ein regelwidriger oder wiederholter Kommentar hat den Spielausschluss des Teilnehmers zur Folge.
4. Es werden nur die im Artikel genannten Preise vergeben.
5. Das Gewinnspiel beginnt am 09. Mai 2016 um 10 Uhr und endet am 12. Mai 2016 um 12 Uhr.
6. Die Gewinner werden noch am 12. Mai unter Verwendung der bei der Kommentierung angegebenen Mailadresse benachrichtigt. Die Gewinner haben den Erhalt der Gewinnbenachrichtigung unverzüglich, spätestens jedoch bis zum 15. Mai 2016 zu bestätigen und die noch benötigten Angaben zu machen, um den Gewinn zuzustellen. Andernfalls ist „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ berechtigt, einen neuen Gewinner auszulosen.
7. Der Preis wird den Gewinnern per Post an die bei der Bestätigung angegebene Adresse geschickt. Mit Aufgabe des Preises bei der Post geht die Gefahr auf den Gewinner über. Für Lieferschäden ist „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ nicht verantwortlich.
8. Eine Barauszahlung oder ein Tausch des Gewinns ist nicht möglich. Der Preis ist nicht übertragbar.
9. Der Gewinner erklärt sich einverstanden, dass sein Name und sein Wohnort am Ende des Gewinnspiels auf „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ veröffentlicht wird.
10. Jegliche Schadenersatzverpflichtung von „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ und ihres Verantwortlichen aus oder im Zusammenhang mit dem Gewinnspiel, gleich aus welchem Rechtsgrund, ist, soweit gesetzlich zulässig, auf Fälle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beschränkt.
11. Die bei diesem Gewinnspiel von Ihnen gemachten Angaben werden von „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ nur zur Abwicklung des Gewinnspiels genutzt. Sie werden nicht zum Zwecke der Werbung gespeichert.
12. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Ein Revoluzzer verkauft den Zwang

von-allen-guten-geisternLange Zeit erinnerte in Hamburg nur noch die Friedrichsberger Straße und die S-Bahn-Haltestelle Friedrichsberg an die einstige Heil- und Irrenanstalt aus dem 19. Jahrhundert. Jetzt aber ist es dem Schriftsteller Andreas Kollender in vortrefflicher Weise gelungen, diese Geschichte wieder ans Licht zu holen – und nicht nur das. Mit seinem neuen Roman „Von allen guten Geistern“ würdigt er besonders den Begründer der Anstalt und schreibt diesen Mann furchtbar schön und direkt ins Herz des Lesers. Eine Wucht von einem Roman!

In der alten Hansestadt Hamburg schreibt man das Jahr 1864, als die Zeitungen von einem seltsamen Vorfall auf dem Heiligengeistfeld berichten. Ein Mann namens Ludwig Meyer verkauft auf dem Markt alte Zwangsjacken – und die Leute reißen sie ihm förmlich aus den Händen. Dieser Meyer war niemand Geringeres als der neue Leiter der Heil- und Irrenanstalt Friedrichsberg, der, wie Kollender es ihm so schön in den Mund legt, den „Zwang verkauft“ hat. Der Psychiater war seiner Zeit und dem Wissen und Wollen seiner Kollegen weit voraus und Anhänger der sogenannten „No Restraint“-Bewegung. Keine Zwangsmaßnahmen sollten die Patienten einengen, sondern sie sollten sich weitestgehend frei entfalten können.

Die Heil- und Irrenanstalt Friedrichsberg, die tatsächlich maßgeblich nach Meyers Plänen eingerichtet wurde, galt als eine der fortschrittlichsten Psychiatrien der damaligen Zeit. Erstmalig blieben die Fenster ohne Gitter, und die Menschen wurden nicht mehr wie Gefängnisinsassen behandelt, sondern bekamen Freizeitangebote. Sie konnten malen, musizieren, ihr eigenes Gemüse anpflanzen. Bis dato ein Ding der Unmöglichkeit, denn wer im frühen 19. Jahrhundert psychisch erkrankte, dem wurde in der Regel nicht geholfen, sondern der wurde weggesperrt, von der Öffentlichkeit ferngehalten. Psychischen Erkrankungen haftete ein Makel an, dem man besser aus dem Wege ging.

Schrecken einer psychischen Erkrankung

Der junge Ludwig Meyer erlebt in der eigenen Familie den Schrecken einer psychischen Erkrankung. Seine Mutter wird zunehmend depressiv, der Arzt weiß sich keinen Rat. Der strenge Vater erklärt seinem wissbegierigen Sohnemann, seine Mutter habe nur eine Verstimmung. „Eine Gemütssache. Frauenunsinn.“ Doch dass seiner Mutter nicht nur Frauenunsinn widerfährt, ist Meyer spätestens klar, als sie versucht, sich in den Tod zu stürzen. Der Vater ist völlig überfordert, fürchtet um den guten Ruf der Kaufmannsfamilie. Die Kutsche, die die Mutter ins Krankenhaus bringt, soll tunlichst nicht gesehen werden. Und als sie aussteigen, sagt er seiner Frau: „Die Schultern zurück, strengerer Blick, Annette, stramm, sonst halten die dich noch für verrückt.“

Bloß nicht verrückt sein. Nur Frauenunsinn. Für Ludwig Meyer folgt an diesem Tag wohl das Erweckungserlebnis für die viel spätere Entscheidung, den Zwang zu verkaufen. Denn er muss mit ansehen, wie seine Mutter überwältigt und in eine Zwangsjacke gesteckt wird. „Die drei Graukittel zogen sie durch eine Tür. Mutters Fersen schleiften über den Boden, sie verlor ihre Schuhe. Sie kreischte. (…) Rums. Weg.“ Oft schreibt Kollender bloß kurze, einfach wirkende Hauptsätze. Doch er schafft damit immer wieder eine Eindringlichkeit, der man sich nicht entziehen kann. Das ist wahre sprachliche Raffinesse, die mit wenigen Worten das Herz erreicht und das Denken anschiebt.

Ludwig Meyer macht sich auf, ein Reformer der Behandlung geistig kranker Menschen zu werden. Im Studium nennen ihn manche einen „eleganten Spinner“, andere verspotten ihn als „Advocatus der Irren“. Und seine Professoren der Medizin glauben, es sei eine rhetorische Frage, die sie stellen, wenn sie ins Auditorium rufen: „Meine Herren, wirklich, wofür braucht ein Irrer einen Arzt?“ Ja, wofür braucht ein Irrer einen Arzt? Der hat schließlich kein gebrochenes Bein, das man behandeln könnte. Der Irre ist nicht ganz klar im Kopf, dem kommt man nicht bei, deshalb versteckt man ihn lieber im Keller hinter vergitterten Fenstern und überlässt ihn sich selbst. Ludwig Meyer besucht in England den Kollegen John Conolly, der ebenfalls historisch verbrieft ist. Conolly ist in England damals Vorreiter der „No Restraint“-Bewegung, und Kollender lässt ihn deutlich formulieren: „Wir nennen sie Irre. Wahnsinnige. Wir drängen sie weg. Warum, Meyer? Weil wir Angst haben. Wir haben Angst davor, etwas von uns selbst in diesen Menschen zu sehen. Wir haben Angst vor Erkenntnis.“

„Hauen Sie wieder ab mit diesem ganzen Dreckspack“

Und die furchtbare Erkenntnis ist: daran hat sich nach fast 200 Jahren kaum etwas geändert. Wie auch an der Reaktion der Öffentlichkeit nicht. Denn heute wie damals kocht die Volksseele, wenn in die Nachbarschaft ein psychiatrisches Krankenhaus ziehen soll: „Wir wollen Sie da nicht!“ „Hauen Sie wieder ab mit diesem ganzen Dreckspack.“ „Wir wollen keine Irrenanstalt bei uns. Wir wollen die da nicht haben.“ Das sind Sätze aus dem Roman. Aber sie könnten auch aus einer heutigen Bürgerversammlung stammen.

Kollender hat also nicht nur ein zu Herzen gehendes historisch exzellent recherchiertes Porträt über einen Psychiatrie-Revoluzzer geschrieben, sondern auch einen Roman, an dem wir uns selbst messen können: wie gehen wir denn heute mit psychisch Kranken um? Wie behandeln wir Menschen mit Behinderungen? Und braucht nicht jede Zeit Menschen wie Ludwig Meyer, die anderen voraus sind und uns daran erinnern, was wir alle sind? Ohne Ausnahme: Menschen. Meyer muss das sehr häufig sagen: Menschen! Das sind doch Menschen!

Ihm ist nichts Menschliches fremd, diesem Ludwig Meyer. Das ist schon ein dufter Typ, und allzu oft möchte man zu ihm in die Kutsche steigen und die Räder über das Pflaster Hamburgs rattern hören, während man mit dem Herrn Doktor Fallakten bespricht. Aber dann und wann möchte man ihn auch schütteln und zur Vernunft bringen, manchmal ist er gar ein arroganter Angeber – und in der Liebe ein hilfloses Wesen. Obgleich Ludwig Meyer in diesem Roman Bahnbrechendes vollbringt, macht Kollender ihn nicht zum Helden. Das ist er nicht, das macht aber auch einen weiteren Reiz dieses Buches aus: dass Ludwig Meyer seine eigenen Verschrobenheiten hat. Manche würden vielleicht sagen: Verrücktheiten.

Kollender, der mit seiner Familie in Hamburg lebt, ursprünglich aber aus Duisburg stammt, hat bereits 2015 mit der Wiederentdeckung eines historischen Helden brilliert: In dem Kriminalroman „Kolbe“ erweckte er eindrucksvoll den fast vergessenen Widerstandskämpfer Fritz Kolbe zum Leben. Das Buch, ebenfalls aus dem Pendragon-Verlag, liegt mittlerweile in der fünften Auflage vor und wird derzeit für den US-amerikanischen Markt übersetzt. „Kolbe“ war ein großer Erfolg – und auch Meyer könnte ein solcher werden. Warum? Einer von Meyers Kommilitonen sagt einen Satz, der treffender nicht sein könnte: „Eine gut erzählte Geschichte, Ludwig, das ist doch das Beste.“

Andreas Kollender: Von allen guten Geistern, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2017, 438 Seiten, broschiert, 17 Euro, ISBN 978-3865325754, Leseprobe

Diese Rezension ist in gekürzter Fassung auch im Wochenendmagazin der Neuen Westfälischen (Samstag/Sonntag, 18./19. März 2016) erschienen.

Verlosung: Gewinnen Sie eines von drei Kollender-Buchpaketen!
Mit diesem Beitrag bricht der Bielefelder Pendragon-Verlag zu einer fünftägigen Blogtour auf: fünf Literaturblogs aus Deutschland beschäftigen sich in unterschiedlichster Art und Weise mit dem neuen Buch von Andreas Kollender. Tag für Tag folgen nun die weiteren Beiträge auf den Blogs „Leckere Kekse“, „Der Buch- und Medienblog“, „Die dunklen Felle“ sowie auf dem Blog „Wortgestalt“. Folgen Sie der Blogtour mit dem Hashtag #KollendersGeister in den sozialen Netzwerken und verpassen Sie keinen Beitrag!

Im Rahmen der Blogtour verlost der Pendragon Verlag drei Kollender-Buchpakete mit jeweils einem Exemplar von „Kolbe“ und „Von allen guten Geistern“. Um an der Verlosung teilzunehmen, müssen die TeilnehmerInnen ein Lösungswort bilden. Das Lösungswort findet sich in den fünf Blogbeiträgen zu der Tour. In jedem Beitrag findet sich ein fett gedruckter Buchstabe – das Lösungswort besteht also aus fünf Buchstaben. Zur Teilnahme an der Verlosung muss das Lösungswort an presse@pendragon.de gesendet werden. Einsendeschluss ist Freitag, der 17. März 2017 um 23:59 Uhr.

Die drei Gewinner werden aus allen Teilnehmern ausgelost. Nach der Auslosung werden die Gewinner per Mail benachrichtigt und um ihre Adressdaten gebeten. Die Adressdaten der Gewinner werden nur für den Versand benötigt und nicht an Dritte weitergegeben. Eine Barauszahlung des Gewinns ist nicht möglich. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mit der Teilnahme am Gewinnspiel erklären Sie sich mit diesen Bedingungen einverstanden.

Die Spezialität des Pendragon-Verlags aus Bielefeld sind Krimis. Unter den Freunden der Spannungsliteratur ist der Verlag auch deshalb bekannt geworden, weil er angekündigt hat, alle 20 Bände der Dave-Robicheaux-Reihe von US-Autor James Lee Burke zum Teil erstmals auf Deutsch herauszubringen. Außerdem veröffentlicht der Verlag seit 2009 die Werkausgabe von Max von der Grün. Sämtliche Bände der zehnteiligen Werkausgabe sind gebunden erschienen und enthalten weitere Erzählungen, Reportagen und Erinnerungen sowie jeweils ein Nachwort (zur Seitengang-Rezension von Band I der Werkausgabe).

#KollendersGeister gehen auf Blogtour

blogtour-headerAm Montag bricht der Bielefelder Pendragon-Verlag zu einer fünftägigen Blogtour auf: fünf Literaturblogs aus Deutschland werden sich dann der lang erwarteten Frühjahrsneuerscheinung „Von allen guten Geistern“ widmen, die niemand Geringeres als Andreas Kollender geschrieben hat. Kollender sorgte bereits 2015 mit seinem Werk „Kolbe“ für Furore. In dem Kriminalroman erweckt er eindrucksvoll und sprachlich brillant den fast vergessenen Widerstandskämpfer Fritz Kolbe zum Leben. In seinem neuen Roman „Von allen guten Geistern“ beschäftigt sich Kollender nun mit der historischen Figur des Psychiaters Ludwig Meyer zur Zeit der 1848er-Revolution.

„Seitengang – Ein Literatur-Blog“ wird die Blogtour am Montag, 6. März, mit einer Rezension des Romans eröffnen. Dann folgen Tag für Tag weitere Beiträge auf den Blogs „Leckere Kekse“, „Der Buch- und Medienblog“, „Die dunklen Felle“ sowie auf dem Blog „Wortgestalt“. Folgen Sie der Blogtour mit dem Hashtag #KollendersGeister in den sozialen Netzwerken und verpassen Sie keinen Beitrag! Denn wer alle aufmerksam liest, soviel sei verraten, kann beim Pendragon-Verlag eines von drei Kollender-Buchpaketen gewinnen.

Der Pendragon-Verlag ist unter anderem bekannt, weil er angekündigt hat, alle 20 Bände der Dave-Robicheaux-Reihe von US-Autor James Lee Burke zum Teil erstmals auf Deutsch herauszubringen. Außerdem veröffentlicht der Verlag seit 2009 die Werkausgabe von Max von der Grün, und zwar in vortrefflicher Art und Weise. Sämtliche Bände der zehnteiligen Werkausgabe sind gebunden erschienen und enthalten weitere Erzählungen, Reportagen und Erinnerungen sowie jeweils ein Nachwort (zur Seitengang-Rezension von Band I der Werkausgabe).

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