Lebst du schon, oder existierst du noch?

Den ersten Spatenstich gab’s bereits im September 2015 im Internet. Die 1972 geborene Comic-Autorin und Cartoonistin Katharina Greve zeichnete seitdem online Woche für Woche jeweils eine Etage eines Hochhauses, bis sie im September 2017 das Dachgeschoss fertig hatte. Inzwischen hat der Webcomic es in die Welt der Bücher und Buchrollen geschafft. Das farbig illustrierte „Hochhaus“ dokumentiert schonungslos mit Witz und manchmal fiesem Humor das Leben unterschiedlichster Menschen in einem Wolkenkratzer.

Im Kellergeschoss beginnt die Reise quer durch alle Wohnungen mit einem Blick in eine Ehe, in der die Partner das Liebenswürdige aneinander schon lange aus den Augen verloren zu haben scheinen. Loriot und Ekel Alfred hätten diese Szene nicht besser beschreiben können: Ein Mann kramt in einer Umzugskiste, die wahrscheinlich schon lange kein Tageslicht mehr gesehen hat. Seine Frau leuchtet ihm mit der Taschenlampe – funktionierendes Kellerlicht scheint es nicht zu geben. „Wie schon Goethe sagte: ‚Mehr Licht!‘ – blöde Kuh!“, herrscht er seine Frau bildungsbürgerlich an. Die denkt im „Morgen bring‘ ich ihn um, morgen bring‘ ich ihn um“-Mantra der genervten Ehefrau vor sich hin: „Wenn ich ihn jetzt umbringe, wären sogar seine letzten Worte abgedroschen.“

Es treffen sich Not, Rassismus, Chauvinismus und Vergnügen

Menschliche Eiseskälte herrscht da im Keller. Aber das zieht sich nicht durch alle 102 Stockwerke dieses mehr oder minder ehrenwerten Hochhauses. Es gibt Orte der Nachbarschaftshilfe, ja, sogar der Nachbarschaftsliebe. Es grassieren Klatsch und Tratsch und es treffen sich Not, Leid, Rassismus, Chauvinismus, Masochismus und Vergnügen. Im Erdgeschoss strickt Frau Möller ihrem Mann die Norwegerpullis, die er mit Vorliebe oder voller Devotie trägt. Über dem Plüschsofa hängen gerahmte Fotos der Lieben, in der Küche steht der Hackenporsche für die nächsten Einkäufe parat. Im Flur und hinter der Wohnzimmertür stapeln sich Pakete – die Paketdienste klingeln immer nur hier. Herr Möller ist genervt, schon wieder ist ein Paket bei ihnen abgegeben worden, dabei sind die Mutlus aus der 5. Etage sicher zu Hause. Seine Frau aber sieht in dem Nachbarschaftsdienst vor allem etwas Gutes: sie hätten sonst gar keine sozialen Kontakte mehr.

Mag vielleicht an dem Geruch in ihrer Wohnung liegen. Davon erfährt der Leser allerdings erst, als er bei den Mutlus in der 5. Etage angekommen ist. Die Tochter ist regelrecht angewidert, dass sie ihr Paket dort abholen muss. Im 4. Stock erfahren wir, dass in der 8. Etage eine Wohnung frei wird, in anderen Wohnungen ist eingebrochen worden, in der 7. ist eine Mutter verärgert, dass ihr Sohn, der im selben Haus wohnt, sie nie besucht. Dessen Partnerin aber, das wird im 16. offenbar, muss davon ausgehen, dass der Peter zweimal in der Woche bei seinen Eltern ist. Stattdessen aber geht er zu einer Domina und lässt sich den Hintern versohlen. Und so geht es Stockwerk für Stockwerk höher und höher in die Welt der deutschen Spießigkeit.

Architektonischer Aufriss der deutschen Durchschnittswohnung

Der Leser sieht dabei oft dasselbe Dreierlei: Küche, Flur, Wohnzimmer. Ein architektonischer Aufriss der deutschen Durchschnittswohnung. Oscar Wilde soll gesagt haben: „Leben ist das Allerseltenste in der Welt – die meisten Menschen existieren nur.“ Er könnte „Das Hochhaus“ rezensiert haben. Niemand will in diesem Haus wohnen, niemand, und doch erkennt man Anzeichen von sich selbst in manchen Bildern. Weil wir ja alle auch Durchschnittsmenschen sind, weil Katharina Greve auch von uns erzählt, von dir und von mir. Und so gerät „Das Hochhaus“ auch zu einem diskreten Anschubser zum Hinschauen und Nachdenken.

Apropos Hinschauen: Der Webcomic hatte natürlich den Charme, dass er sich die Eigenheiten des Internets zu Nutze machte, sodass man liftgleich und schier endlos durch die Etagen scrollen konnte. In der Buchrolle von „Round not Square“ gelingt Ähnliches. Hier ist das Hochhaus auf einer sieben Meter langen Seite komplett gedruckt und dann zusammengerollt worden.

Einzig bei der Edition des Avant-Verlags ändert sich die Art des Hinschauens. Das sehr schlanke, hochformatige Buch muss zum Lesen um 90 Grad gekippt werden, dann blättert man sich jeweils zwei Stockwerke pro Seite in die Höhe. So gelingt ein noch genaueres Hinsehen und Betrachten, und man entdeckt auch bald die noch so feinen Details, die Greve in ihrem Wimmelbild für Große versteckt hat.

„Das Hochhaus“ ist ein Buch zum Vielfachschauen, das sich immer wieder zur Hand nehmen lässt, eine Erzählung, die nie auserzählt ist. Nehmen Sie den Lift und drücken Sie alle Tasten!

Katharina Greve: Das Hochhaus, Avant Verlag, Berlin, 2017, 56 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3945034712, Leseprobe

Katharina Greve: Das Hochhaus, Round not Square, Berlin, 2017, 30 Euro, Bezug über den Verlag

Seitengang dankt dem Avant-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Solange wir uns erinnern

Welches Erbe tritt man an, wenn der Vater stirbt? Wie gehen wir Söhne und Töchter mit dem Tod um, und wie halten wir das Andenken und die Erinnerungen an die Eltern und die Kindheit wach? Der spanische Illustrator Paco Roca hat mit „La casa“ versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden – und zugleich sein persönlichstes Werk vorgelegt: ein zutiefst berührendes Buch über sich und den Tod seines eigenen Vaters.

Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters Antonio kommen die drei Geschwister Vicente, José und Carla im ehemaligen Ferienhaus der Familie zusammen, um das verwitternde Gebäude zu renovieren und es danach zu einem guten Preis verkaufen zu können. Vicente ist dabei einer der hilfreichsten Gesellen, denn der Mechaniker weiß mit Werkzeug umzugehen und beginnt gleich mit den ersten Instandsetzungen.

Ganz anders als José: der verdient sein schmales Geld als Schriftsteller, hat eher zwei linke Hände und steht sich oft selbst im Weg. Als er mit dem Schlauch den trockenen Garten bewässern soll, macht der Tollpatsch sich erst mal selber nass. Niemand käme wohl auf die Idee, diesen Mann einen Liegestuhl aufbauen zu lassen, geschweige denn, ihn mit Handwerksarbeit zu betrauen. Und dann ist da noch Carla, das Nesthäkchen, das den Papierkram rund ums Haus übernommen hat, aber auch sonst keine Arbeit liegen lässt.

Vorwurf als scheinbar unüberwindbare Mauer

Zwei Geschwister, die anpacken können, und ein Heiopei-Bruder, dem man eher unterstellt, dass er schon eine Ausrede finden wird, warum er dieses oder jenes nicht tun kann – schon diese Konstellation sorgt für Streitereien. Vicente aber macht zusätzlich noch das Fass auf, dass er im Krankenhaus ganz allein die Entscheidung treffen musste, ob Papa Antonio reanimiert werden soll oder nicht. Er ließ den Vater gehen. Und zweifelt nun furchtbar, ob er die richtige Wahl getroffen hat. Zudem steht der gegenseitige Vorwurf, man habe sich nicht ausreichend um den kranken Antonio gekümmert, als scheinbar unüberwindbare Mauer zwischen den Geschwistern.

Und dann sind da noch die Erinnerungen. Jeder Leser kennt sie, diese Erinnerungen, die einen plötzlich überfallen: an gemeinsam Erlebtes, an Schrullen und Marotten der Eltern, an Liebgewonnenes und Eigentümliches, an Vertrautes und Fremdgewordenes. Carla erzählt: „Neulich war mir, als hätte ich ihn auf der Straße gesehen. Ich wollte ihn rufen, aber dann fiel mir ein, dass er nicht mehr da ist. Das hat mich traurig gemacht.“

Vicente und Carla stehen am Pool, der – fast metaphorisch – wasserlos vor sich hinrottet, während die Erinnerungen sie überschwemmen. Wie sie als Kinder fast einen Aufstand angezettelt und gedroht haben, erst dann beim weiteren Ausbau des Hauses mitzuhelfen, wenn sie einen Pool bekämen. „Den ganzen Sommer haben wir gegraben.“ – „Aber fertig war er erst im November, als es zu kalt zum Baden war.“ Vor dem geistigen Auge flimmern der stets schuftende Vater, mal im Garten, mal in der Garage, und die Mutter, die in der Tür steht und ruft, dass das Essen kalt wird.

Zeichnerisch grandios gelungen

Zeichnerisch sind die Überänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Zeitsprünge und Erinnerungsblitze grandios gelungen. „La casa“ ist kein Comic der grellen Farben, sondern ein behutsam koloriertes Werk, das sich in vielen herbstlichen Ockertönen ergeht, ohne dadurch eintönig zu wirken. So gelingt es Paco Roca ganz wunderbar, (Ver-)Stimmungen einzufangen, auch durch den Einsatz von filmischen Gestaltungsmitteln wie Zoom oder Nahaufnahmen.

Nehmen Sie sich Zeit für diese Graphic Novel. „La casa“ benötigt Muße und Geduld, um wie ein leichter Herbstwind durch die Geschichte zu ziehen und zaghaft ein paar Erinnerungen aufzuwirbeln. Am Leser geht dieses Buch nicht spurlos vorbei; und im Erinnern an die eigene Familie wird gewiss, dass das Altern und das Abschiednehmen lange Prozesse sind, vor denen wir nicht flüchten sollten. Und dass eine Familiengeschichte nicht stirbt, wenn ein Mensch von uns geht. Solange wir uns erinnern.

Paco Roca: la casa, Reprodukt Verlag, Berlin, 2016, 128 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3956401046, Leseprobe


Seitengang dankt dem Reprodukt-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Verlosung zum Gratis-Comic-Tag am 13. Mai 2017

Einmal im Jahr feiert die deutschsprachige Comicszene den sogenannten Gratis-Comic-Tag (GCT). Dann liegen in vielen Comic-Läden und Buchhandlungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz 30 eigens für diesen Tag produzierte Hefte aus, die kostenlos mitgenommen werden können. Ziel der Aktion ist es, das narrative Potential, die thematische Vielfalt und künstlerische Qualität des Mediums einer breiteren Öffentlichkeit vertraut zu machen. Vor allem aber soll sie all jenen Menschen, die ihren Lesestoff über das Internet beziehen, einen Anreiz bieten, wieder mehr die lokalen Buch- und Comicläden zu besuchen.

Die Auswahl in diesem Jahr ist wieder mal fein: 30 unterschiedliche Hefte haben die Verlage produzieren lassen, darunter Auszüge aus aktuellen Manga-Bestsellern wie „One-Punch Man“, crossmediale Comic-Stories zu TV-Formaten wie „Sherlock“ und „Dr. Who“, traditionelle US-Comic-Helden wie Superman und Spider-Man oder moderne zeitgeistige Heldinnen wie die „Paper Girls“ aus dem Verlag Cross Cult.

Dazu intelligente Independent- und freche Pulp-Unterhaltung aus Deutschland, Kindercomics und allerlei Phantastisches. Und natürlich nicht zu vergessen: die Ausgabe zum 65. Geburtstag von Entenhausens genialischen Erfinder Daniel Düsentrieb oder André Franquins Berufschaot „Gaston“, der auch schon 60 Jahre alt wird (man sieht’s ihm nicht an!).

Sie sind Krimi- und Thriller-Fan? Auch an diese Interessen ist gedacht: Die französische Serie „Gil St. Andre“ (All Verlag) ist ein Entführungs-Thriller mit überraschenden Wendungen. „Sherlock“ ist eine japanische Version der BBC-Serie mit Benedict Cumberbatch. Etwas freier, aber auch Sherlock Holmes: „Die Chroniken des Moriaty“ ist eine Horror-Lovecraft-Variante des legendären Stoffes von Arthur Conan Doyle. „Silver“ ist ein stylischer Vampir-Krimi in Schwarzweiß. Und aus Deutschland kommt der Verschwörungs-Thriller „Seneca Akte: Die Ustica-Verschwörung“.

Welcher Laden macht mit?

Knapp 330 Händler haben sich zum diesjährigen Gratis-Comic-Tag angemeldet. Bei einigen Comic-Händlern gibt es am Samstag darüber hinaus auch noch Signierstunden mit Comic-Künstlern, Ausstellungen oder zusätzliche Sonderangebote. Wer wissen möchte, welcher Händler denn aus der Nähe überhaupt mitmacht, kann das hier auf der Webseite zum Comic-Tag nachsehen.

In Ostwestfalen-Lippe nehmen sieben Händler teil: Der Comic-Laden in Lemgo (Kreis Lippe), das Comic- und Musik-Archiv in Bielefeld, der Laden „Moderne Zeiten“ in Bielefeld, sowie die Thalia-Buchhandlungen in Bielefeld, Minden, Paderborn und Bad Oeynhausen.

Verlosung von drei Comics

„Seitengang – Ein Literatur-Blog“ verlost in diesem Jahr mit dem Veranstalter drei Comics (nicht deren Gratis-Hefte!): „Sherlock Holmes & das Necronomicon“ (Splitter Verlag), „Hilda und der Mitternachtsriese“ (Reprodukt Verlag) sowie „Superman: Lois und Clark“ (Bd.1, Panini Verlag). Was Sie tun müssen, um eines dieser Comics zu gewinnen? Kommentieren Sie einfach diesen Artikel und schreiben Sie, warum Sie so gerne Comics bzw. Graphic Novels lesen, und vielleicht auch, welchen der drei Comics Sie am liebsten gewinnen würden.

Alle Kommentare bis Freitag, 12. Mai, 11.59 Uhr, landen im Lostopf (beachten Sie auch die Teilnahmebedingungen am Ende dieses Artikels!).

Die Verlosung ist beendet und die Gewinner bereits benachrichtigt!

Die Geschichte des Gratis-Comic-Tags

Der GTC ist noch ein sehr junger Aktionstag. Es ist nämlich gerade erst sieben Jahre her, dass der deutschsprachige Comic- und Buchhandel und die Comic-Verlagslandschaft den Aktionstag ins Leben gerufen haben. Siebzehn Verlagshäuser, von Marktführern wie Carlsen, Egmont Ehapa und Panini bis hin zu Einmannverlagen und Independent-Comic-Schmieden, hatten sich anfangs zusammengetan und 30 verschiedene Comic-Hefte produziert, die am GTC mit einer Startauflage von 180.000 Stück bei Händlern in fast allen größeren Städten kostenlos an alle Interessierten verschenkt wurden.

Der Erfolg gab den Machern Recht, und 2011 und 2012 wurde die Druckauflage der GCT-Hefte bereits fast verdoppelt. 300.000 Comics gingen unters Volk. 2013 und 2014 stießen immer mehr klassische Buchhandlungen zu den GCT-Läden dazu und führten ihre Kundinnen und Kunden in die Welt der Neunten Kunst ein. Im Jahr 2017 werden erstmals 400.000 Comic-Hefte ausgeliefert.

Die Teilnahmebedingungen des Gewinnspiels:
1. Veranstalter des Gewinnspiels ist der Blog „Seitengang – Ein Literatur-Blog“. Das Gewinnspiel gehört zur Aktion „Gratis-Comic-Tag 2017“.
2. Die Teilnahme ist kostenlos. Mit der Teilnahme am Gewinnspiel akzeptiert der Benutzer diese Teilnahmebedingungen.
3. Teilnahmeberechtigt sind nur Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die bei der Teilnahme mindestens 18 Jahre alt sind. Teilnehmer des Gewinnspiels ist diejenige Person, der die eMail-Adresse gehört, die beim Kommentar des Blog-Artikels angegeben wird. Es ist pro Teilnehmer nur eine Teilnahme möglich. Ein regelwidriger oder wiederholter Kommentar hat den Spielausschluss des Teilnehmers zur Folge.
4. Es werden nur die im Artikel genannten Preise vergeben.
5. Das Gewinnspiel beginnt am 09. Mai 2016 um 10 Uhr und endet am 12. Mai 2016 um 12 Uhr.
6. Die Gewinner werden noch am 12. Mai unter Verwendung der bei der Kommentierung angegebenen Mailadresse benachrichtigt. Die Gewinner haben den Erhalt der Gewinnbenachrichtigung unverzüglich, spätestens jedoch bis zum 15. Mai 2016 zu bestätigen und die noch benötigten Angaben zu machen, um den Gewinn zuzustellen. Andernfalls ist „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ berechtigt, einen neuen Gewinner auszulosen.
7. Der Preis wird den Gewinnern per Post an die bei der Bestätigung angegebene Adresse geschickt. Mit Aufgabe des Preises bei der Post geht die Gefahr auf den Gewinner über. Für Lieferschäden ist „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ nicht verantwortlich.
8. Eine Barauszahlung oder ein Tausch des Gewinns ist nicht möglich. Der Preis ist nicht übertragbar.
9. Der Gewinner erklärt sich einverstanden, dass sein Name und sein Wohnort am Ende des Gewinnspiels auf „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ veröffentlicht wird.
10. Jegliche Schadenersatzverpflichtung von „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ und ihres Verantwortlichen aus oder im Zusammenhang mit dem Gewinnspiel, gleich aus welchem Rechtsgrund, ist, soweit gesetzlich zulässig, auf Fälle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beschränkt.
11. Die bei diesem Gewinnspiel von Ihnen gemachten Angaben werden von „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ nur zur Abwicklung des Gewinnspiels genutzt. Sie werden nicht zum Zwecke der Werbung gespeichert.
12. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Philosophie in wüsten Zeiten

imageIn seiner spanischen Heimat erschien das Buch „Odem“ des katalanischen Comic-Künstlers Max bereits 2012. Deutsche Comic-Fans mussten sich gedulden, bevor das Werk jetzt auch im Avant-Verlag aus Berlin erhältlich ist. Es erzählt hervorragend gezeichnet und mit zahlreichen philosophischen Bezügen von Nick, der in die Einsamkeit der Wüste flüchtet. Ein Buch, das man aufmerksam lesen sollte.

Nikodemus hat die Nase voll (und er hat eine ziemlich lange Nase!). Der Lärm und die Oberflächlichkeit der Welt nerven ihn vollends. Nur die Wüste erscheint ihm noch als einziger Rückzugsort, um den Sinn, den „endgültigen, unanfechtbaren Sinn, falls es den gibt“, zu finden. „Ich habe es satt, und zwar alles! Die Welt und die Menschen, die Dinge und die Ideen, die Wörter und die Bilder!“ Spricht’s und kippt rücklings in die Wüste.

Doch dass die Wüste lebt, wusste schon der Dokumentarfilmer James Algar. Und so verwundert es nicht, dass Nikodemus zunächst auf einen ziemlich grundentspannten Kater namens Moses trifft, der die Dinge gerne vereinfacht, zu allererst die Namen. So wird aus Moses Mosh und aus Nikodemus Nick – der übrigens in des Katers Augen einen ziemlichen Sonnenstich hat. Neben der wahrlich coolen Socke Mosh trifft Nick auch noch die kleptomanische Elster Juanita, einen traumdeutenden Schiffbrüchigen sowie seinen eigenen Schatten.

Die Geschichte einer Entsagung

Allerlei Ablenkungen versuchen ihn, vom rechten Weg abzubringen, und seine letzte Prüfung kommt mit der betörenden Allmacht der unnahbaren Königin von Saba. „Odem“ ist auch die Geschichte einer Entsagung, um dadurch der absoluten Wahrheit begegnen zu können. Wer Nick nicht in sein Herz schließt, hat wohl noch nie eine Sinnkrise erlebt.

Nicks Suche nach seinem spirituellen Gleichgewicht wird in wunderbar stilisierten Schwarz-Weiß-Zeichnungen erzählt und passt damit hervorragend in die klare Farblosigkeit der Wüste. Gerne wird seine klare Linie mit der des US-Comic-Erneuerers Chris Ware verglichen.

Max selbst erklärt zu Beginn des vorliegenden Buches, es sei partiell inspiriert von „The Wiggle Much“, der „einzigartigen, legendären Comicarbeit von Herbert E. Crowley“. Der frühe, sehr surreale Comic erschien zwischen März und Juni 1910 auf dreizehn halbseitigen Seiten in der New York Herald Tribune. Als Hommage lässt Max die von Crowley erfundene Figur in einem seiner Panels auftauchen.

Einer der bekanntesten spanischen Comic-Künstler

Max, mit bürgerlichem Namen Francesc Capdevila, wurde 1956 in Barcelona geboren und gilt heute als einer der bekanntesten spanischen Comic-Künstler und ist vielfach preisgekrönt. „Odem“ wurde 2013 beim internationalen Comicsalon in Barcelona als bestes nationales Werk nominiert. Auf Deutsch erschienen bereits „Der geheime Kuss“ und „Der Werwolf Punk“ beim Alpha Comic Verlag, sowie „Der lange Traum des Herrn T.“ und „Bardín der Superrealist“ bei Reprodukt.

Lesen Sie „Odem“ und erkennen Sie, dass man selbst in der Wüste nicht von Ablenkungen verschont bleibt. Sind Sie gar selbst in einer Sinnkrise, so ist „Odem“ eines dieser Bücher, die für surrealistisch-philosophisch veranlagte Menschen eine durchaus hilfreiche Lektüre sein können.

Max: Odem, Avant-Verlag, Berlin, 2016, 111 Seiten, gebunden, 24,95 Euro, ISBN 978-3945034491, Leseprobe

Seitengang dankt dem Avant-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Goethe und der Schweizer Wilhelm Busch

IMG_2044-1Comics sind nur etwas für junge Leute? Von wegen! Johann Wolfgang von Goethe war 82 Jahre alt, als er jene Bildergeschichte las und lobte, die manche Wissenschaftler heute als den ersten Comic bezeichnen. Jetzt sind drei von Rodolphe Töpffers Geschichten unter dem Titel „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten“ in einer bibliophilen Ausgabe im Berliner Avant-Verlag erschienen. Der Herr Geheimrat hätte seine wahre Freude gehabt!

Schon die titelgebende Geschichte hat fulminanten Witz! Der arme Tropf Monsieur Vieux Bois ist schwer verliebt, wird aber von seiner Auserwählten (die nur als „das geliebte Ding“ („l’objet aimé“) bezeichnet wird) nicht erhört. Also will er aus dem Leben treten und ersticht sich. Hält sich 48 Stunden lang für tot und „kommt äußerst abgemagert wieder zu Bewusstsein“. Er erhängt sich, und schafft auch das nicht. Nicht nur das geliebte Ding nimmt keine Notiz von ihm, nein, auch der Tod scheint kein Interesse zu zeigen, wie immer er es auch anzustellen versucht. Allzu gern folgt der Leser den wahnwitzigen Erlebnissen des Monsieur Vieux Bois, die rasant und wahrlich komisch erzählt sind. Wie übrigens auch die zweite und dritte Geschichte der Sammlung, die deutlich machen, aus welchem bildgestalterischen Schatz Töpffer schon schöpfen konnte.

Manch ein Rezensent stellt inzwischen die Frage, ob es möglicherweise ohne Johann Wolfgang von Goethe heutzutage keine Comics gegeben hätte. Thomas von Steinaecker spricht in der Süddeutschen Zeitung von Goethe gar als „Hebamme bei der Geburt der neunten Kunst“. Ja, es ist verbrieft, dass der Herr Geheimrat geradezu entzückt war, als er im Alter von 82 Jahren den Bildergeschichten des Genfer Zeichners gewahr wurde: „Töpffer ist Original durch und durch. (…) Es funkelt alles von Talent und Geist! Einige Blätter sind ganz unübertrefflich!“ So jubilierte Goethe und ermutigte Töpffer, seine Geschichten unbedingt in Buchform zu veröffentlichen.

Chronisches Augenleiden macht Pläne zunichte

Der 1799 in Genf geborene Töpffer war ein regelrechtes Multitalent. Von seinem Vater, einem anerkannten Landschaftsmaler, ist Rodolphe Töpffer früh zum Künstler ausgebildet worden – ein Traum für viele angehende Künstler, bei den Eltern so selbstverständlich auf Verständnis für die Berufswahl zu treffen. Doch es sollte anders kommen: Ein chronisches Augenleiden macht Pläne zunichte, es gilt, andere Professionen zu finden. Nach einem Griechisch- und Lateinstudium beginnt er, als Lehrer zu arbeiten. Seine Schüler sind es schließlich, die sich für seine zunächst noch außerhalb des Lichts der Öffentlichkeit entworfenen Skizzen so sehr begeistern, dass er mehrere Skizzenbücher füllt. Über einen alten Schulfreund gelangen die Skizzen bald nach Weimar – zu Goethe.

Den Rest der Geschichte schlagen Sie besser im lesenswerten Vorwort von Herausgeber Simon Schwartz nach. Dort lesen Sie auch, wie die Bildgeschichten entstanden und zu Lebzeiten Töpffers in der Öffentlichkeit aufgenommen worden sind, mitsamt den Schattenseiten von Raubkopien und bislang fehlendem Urheberrecht. Und dann stürzen Sie sich in die titelgebenden „Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois“! Was sofort auffällt: Die für Comics oft wesentlichen Sprechblasen fehlen bei Töpffers Bildergeschichten. Stattdessen sind die einzelnen Panels untertitelt, sowohl mit dem handgeschriebenen französischen Original, als auch mit der deutschen Übersetzung. Was jedoch ebenso ins Auge fällt, ist die Erzählweise: Bild folgt auf Bild, und die schnelle Abfolge sorgt für einen erzählerischen Fluss. Töpffers Strich ist sowohl skizzenhaft, als auch schwungvoll, oft jedoch überzeichnet, als fertige er Karikaturen seiner Figuren an.

Seine Bildgeschichten sind oft sehr amüsant, bisweilen aber auch ganz schön zotig und derb. Dagegen vermisst man manchenorts Tiefgründigkeit, wie sie etwa einem Wilhelm Busch gelungen ist. Möglicherweise ist Töpffer deshalb nach und nach in Vergessenheit geraten, auch weil er zunehmend in Buschs Schatten geriet. Es lohnt sich dennoch, ihn jetzt neu zu entdecken. Und die schmucke Ausgabe im Avant-Verlag erleichtert den Zugang, wenngleich auch diese Zusammenstellung aufgrund ihres ausladenden Querformats eher nicht als Buch für unterwegs geeignet ist – wie schon Héctor G. Oesterhelds „Eternauta“.

Wichtigste Ehrung für grafische Literatur

Dass sich der Avant-Verlag in letzter Zeit dadurch auszeichnet, dass er neben zeitgenössischen Comics und Graphic Novels auch Klassiker der Comic-Geschichte wiederveröffentlicht, und zwar jedes Mal in durchaus beachtlich liebevoller Ausstattung, ist auch der Jury des Max-und-Moritz-Preises aufgefallen. Der Preis, der alle zwei Jahre beim Internationalen Comic-Salon in Erlangen verliehen wird, gilt als die wichtigste Ehrung für grafische Literatur im deutschsprachigen Raum.

In diesem Jahr ist der Avant-Verlag, auch stellvertretend für die Bemühungen kleinerer Verlage, für seine Dienste um die Pflege des kulturellen Erbes mit dem Spezialpreis ausgezeichnet worden. Die Jury würdigte dabei besonders die Ausgaben von „Eternauta“, dem bekanntesten argentinische Comic der 50er Jahre, geschrieben von Héctor Germán Oesterheld, Hans Hillmanns Adaption von Dashiell Hammetts Roman „Fliegenpapier“ (Trailer) und, ja!, die soeben erschienene Edition „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten“ von Rodolphe Töpffer.

Wer sich darüber hinaus mit Töpffer und seinem Werk beschäftigen möchte, sollte noch bis zum 28. August 2016 im Wilhelm-Busch-Geburtshaus in Wiedensahl (Schaumburger Land/Niedersachsen) die Ausstellung „Literatur in Bildern – Die Bild-Geschichten des Rodolphe Töpffer“ besuchen. Zusammen mit der neu verlegten Töpffer-Sammlung im Avant-Verlag bietet sich so ein umfassender Einblick in die Anfänge der Comic-Historie. Schon deshalb unbedingt empfehlenswert, aber auch, weil es nach fast 200 Jahren immer noch nicht an Lesbarkeit und Vergnüglichkeit verloren hat. Das muss einem Autor erst mal gelingen.

Rodolphe Töpffer: Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten, Avant-Verlag, Berlin, 2016, 280 Seiten, gebunden, mit Leinenrücken, 39,95 Euro, ISBN 978-3945034286, Leseprobe

Seitengang dankt dem Avant-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

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