Der Debütroman „Und Nilas sprang“ der schwedischen Kulturjournalistin Maria Broberg ist ein langsames Buch, das Zeit braucht, um sich und seine Geschichte zu entwickeln. Die Mühe durchzuhalten lohnt sich aber! Am Ende wissen Sie: Ich habe soeben gute, schwedische Literatur gelesen. „Und Nilas sprang“ erzählt von einem spurlos verschwundenen Jungen, einer heimlichen Liebe; und von Familiengeheimnissen, von Rassismus, Vaterfiguren und solchen, die es nie sein werden.
Der Roman spielt in Olsele, einem kleinen Dorf in Norrland, dem nördlichsten der drei schwedischen Landesteile. Olsele, gelegen in der Provinz Västerbotten, ist nur eine Ansammlung von Häusern und landwirtschaftlichen Höfen. Es gibt eine Kirche und eine Art Kaufmannsladen, den Sigurd jedoch in seinem Wohnhaus am Ende eines langen Flurs betreibt. Immerhin: mit einer richtigen Kaufmannstheke.
Dabei ist das verboten
Die Einwohner von Olsele sind wortkarge Menschen. Sogar die Kühe sollen in Olsele blasser sein als anderswo, heißt es. Aber die Landschaft ist schön, und es gibt auch einen Fluss, an dem es sich fischen lässt und auf dem die Flößer das Holz befördern. Die Kinder gehen auf den im Wasser treibenden Stämmen balancieren und zwischen ihnen schwimmen, dabei ist das verboten.
Der Roman setzt 1948 ein, als der 17-jährige Assar die neu ins Dorf gezogene Margareta kennenlernt, die wesentlich älter ist als er. Nach acht Kilometern, die sie gemeinsam gehen, ist er sozusagen in Liebe entbrannt. Doch Margareta ist mit dem noch wesentlich älteren Hebbe liiert, einem Musiker, der fantastisch Ziehharmonika spielen kann. Margareta sagt über ihre Beziehung treffend: „Es hat seine Vorteile, und es hat seine Nachteile. Ich habe viel Musik im Leben. Aber vielleicht nicht viel anderes.“
Wir lernen außerdem Håkan kennen. Seine Sicht der Geschichte beginnt 1956. Hebbe lehrt ihm in diesem Sommer das Fischen, verbietet ihm ab weiterhin, ihn Papa zu nennen. „Hebbe. Nicht Papa, nicht Vati, nicht einmal Vater.“
Dabei hat er doch nur diesen Vater, so wie er nur diese eine Mutter hat, die er selbstverständlich Mama nennt. Nicht: Margareta. Aber Hebbe bleibt eisern. Viele Tage haben sie nicht mehr gemeinsam, denn es ist Hebbes letzter Sommer.
Der dramatische Reigen der Charaktere
Der Roman erzählt sich in Zeitsprüngen bis zum Jahr 2008 überwiegend aus Sicht von Assar und Håkan. Assar wird die Liebe zu Margareta zeit seines Lebens nicht aufgeben, Margareta bandelt nach dem Tod von Hebbe mit dem Sami Lars an, der bei ihr einzieht, und mit ihr einen Sohn zeugt: Nilas. Gleichzeitig beruht Assars Leidenschaft für Margareta auf Gegenseitigkeit, sie hat sich nur wesentlich besser im Griff als er. Voilà, der dramatische Reigen der Charaktere ist aufgestellt.
Die drei zentralen Figuren gelingen der Autorin hervorragend. Die eigentlich verbotene Liebe zwischen Assar und Margareta, das gegenseitige Angezogensein und das Nichtvoneinanderlassenkönnen, die fortwährende Faszination, die auch Jahre später nicht nachlässt, das ist mitreißend beschrieben. Wer bereits verzweifelt geliebt hat, wird in diesen Passagen emotional zutiefst berührt werden. Insbesondere Margareta steht uns lebendig vor Augen, die pragmatisch sein will, aber nicht kann, und von ihrer Umgebung in ein zu enges Korsett geschnürt wird.
Suche nach der eigenen Identität
Auch Håkan ist stark gezeichnet: Das Kind, das einen Vater sucht, den einen nicht so nennen darf, der zweite ist fast nie da, weil er sich ständig um seine Rentiere kümmern muss. Und dann ist da noch die Sache mit Nilas, seinem verschwundenen Bruder. Auch Håkan ist zerrissen von Schuldgefühlen und der Suche nach der eigenen Identität.
„Und Nilas sprang“ ist kein Kriminalroman, sondern eine dramatische Familiengeschichte auf sprachlich hohem Niveau, melancholisch und sehr nordisch. Das Rätsel um das verschwundene Kind entwirrt sich erst am Ende des Buchs. Doch es bleiben genügend Fragen offen, und das ist klug gelöst von Maria Broberg, denn so befriedigend ist das Leben nun mal nicht. Von dieser Autorin werden wir hoffentlich bald mehr lesen.
Maria Broberg: Und Nilas sprang, Verlag Nagel & Kimche, München, 2021, 266 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3312012503
Seitengang dankt dem Verlag Nagel & Kimche für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.