Die Vorort-Voyeurin

Wer linst nicht gerne bei einem abendlichen Spaziergang in die hell erleuchteten Wohnzimmer anderer Menschen? Yvonne Gärstrand, erfolgreiche Chefin einer Firma für Zeitmanagement und verheiratete Mutter eines fast erwachsenen Sohnes, frönt diesem Laster ganz ausgiebig.

Durch Zufall findet sie einen kleinen idyllischen Vorort. Dort streift sie durch die Gassen und beobachtet die Einwohner in ihrem Alltag. „Sie war mit der Zeit recht gut darin geworden, die Vorort-Variante des „Wer wohnt hier?“ zu spielen. Sie versuchte zu erraten, wer in den Häusern wohnte, und mußte ihr Bild dann eventuell korrigieren, wenn sie die Bewohner sah.“ Doch ein Haus bleibt ihr rätselhaft: Der Orchideenweg 9. Als sie an einer Anschlagtafel einen handgeschriebenen Zettel liest, mit dem für genau dieses Haus eine Haushaltshilfe gesucht wird, wittert sie ihre Chance, ihre Neugier zu befriedigen.

Unter dem Pseudonym Nora Brick tritt sie bei Bernhard Ekberg im Orchideenweg 9 eine Stelle als Putzfrau an. Der Hausherr ist ein seltsamer Kauz: Im Keller stehen fein säuberlich aufgereiht die eingemachten Früchte seiner Frau. Doch von der fehlt jede Spur. „Verreist“ sei sie, sagt Bernhard Ekberg. Doch glauben will Yvonne alias Nora das nicht. Sie ist zu neugierig und dringt weiter in das rätselhafte Mysterium um Bernhard Ekberg ein – und verliebt sich dabei in den Strohwitwer. Doch der ist weit entfernt von den titelgebenden sauberen Verhältnissen. Unter Schichten von Staub und Schmutz verbirgt sich ein dunkles Geheimnis und eine kranke Seele.

Das Buch ist vieles: Krimi, Anleitung zur Gartengestaltung, Einblick in die schwedische Provinz, Psychogramm, Liebesroman. Fast wirkt es, als könne es sich nicht für ein Genre entscheiden. Muss es auch nicht. Lesenswert ist es allemal, aber es genügt, es gelesen zu haben, um es dann weiterzugeben. Dies ist keines der Bücher, die man sich ins Regal stellt, weil sie so begeistert haben, dass man glaubt, man lese sie in einigen Jahren wieder. Kaum zu verstehen ist es, wie sich eine erfolgreiche Frau wie Yvonne Gärstrand in einen Schluffi wie Bernhard Ekberg verlieben kann. Zwar kriselt es in ihrer eigenen Ehe, ihr Mann geht fremd und zeigt kaum noch Interesse an ihr, aber die plötzliche Erkenntnis, dass sie sich in diesen Mann verliebt hat, wirkt nicht überzeugend.

Letztendlich bleibt es ein Buch, das durch seine Sprache und eine feine Spur Ironie begeistern kann. Vor dem Kauf empfehle ich unbedingt, die ersten Seiten anzulesen! Wer davon nicht begeistert ist, sollte zu einem anderen Buch greifen.

Marie Hermanson: Saubere Verhältnisse, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2007, 243 Seiten, Taschenbuch, 7,90 Euro, ISBN 978-3518459577

Ein Thriller, der keiner ist – oder doch?

Alles deutet auf den perfiden Plan eines Serienkillers: Obwohl die Opfer sonst nichts miteinander gemein haben, erhalten sie alle einen Tag vor ihrem Tod eine schlichte, weiße Postkarte mit ihrer Adresse in schwarzer Maschinenschrift. Auf der Rückseite steht das Datum des nächsten Tages; daneben ist mit schwarzer Tinte ein Sarg gemalt.

Natürlich muss es für diesen spektakulären Fall in New York einen Mann geben, der sich an die Lösung des Falls begibt. Hier ist das der altgediente FBI-Profiler Will Piper, der eigentlich nur noch die letzten Jahre bis zur wohlverdienten Pension absitzen will. Gerne gießt er sich den einen oder anderen Whisky hinter die Binde und genießt die eine oder andere schlanke Frau. Er ist geschieden und Vater einer erwachsenen Frau, die ein Buch über ihren Vater schreibt. Der Titel: „Die Abrissbirne“.

In Las Vegas treibt sich derweil ein Mann namens Mark Shackleton herum, der in einer Identitätskrise steckt. Sein Alter Ego träumt davon, Drehbücher in Hollywood unterzubringen, und auch Mark Shackleton will endlich etwas Herausragendes bewirken. Das scheint eine Folge seiner geheimnisumwobenen Arbeit zu sein, denn Shackleton ist ein hochintelligenter Computerfachmann, der für die Regierung der USA an einem geheimen Projekt in der Hochsicherheitszone von Area 51 arbeitet. Mit Ufos haben die nämlich gar nichts zu tun…

Und dann sind da noch die anfangs verwirrenden Rückblicke in die Vergangenheit, die seltsam anmuten, aber für die Lösung des Falls unabdingbar sind.

Das Debütwerk des Amerikaners Glenn Cooper ist schlichtweg genial. Hochspannend. Es ist auch unsicher, ob der Stempel „Thriller“ der richtige ist. Aber ein Krimi ist es auch nicht. Dann also doch ein Thriller? Auf jeden Fall: spannend. Zwar ahnt der Leser recht früh die ersten Ansätze der Lösung, aber trotzdem bleibt die Geschichte bis zur letzten Seite faszinierend.

Glenn Cooper: Die Namen der Toten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2009, 508 Seiten, Taschenbuch, 9,95 Euro, ISBN 978-3499249280

Glenn Cooper: Der siebte Sohn, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2010, 445 Seiten, Taschenbuch, 9,95 Euro, ISBN 978-3499249297

Das Ende eines Mythos‘ und der Anfang von etwas

Wie lange haben wir auf das neue Buch von ihm gewartet! Wie gespannt waren wir, als die ersten Nachrichten durchsickerten, es würde eine Fortsetzung seines fulminanten Erstlingswerkes werden! Wie sehr fieberten wie jenem Datum entgegen, als das Buch druckfrisch in den Buchhandlungen liegen sollte! Mit welcher Lust lasen wir die ersten Seiten! Und mit welcher Enttäuschung hatten wir dann zu kämpfen!

Bret Easton Ellis gilt in der US-Gegenwartsliteratur immer noch als der „bad boy“. Errungen hat er den rühmlichen Titel 1985 mit seinem Debütroman „Unter Null“ (Original: „Less than zero“), festgezurrt durch den „American Psycho“ genannten Reigen der Grausamkeiten des Patrick Bateman. Nun scheint es also an der Zeit zu sein, „Unter Null“ zu einem Ende zu führen. Das Ende eines Mythos‘. Vielleicht ist es Ellis leid, immer wieder mit diesem Buch in Verbindung gebracht zu werden. So wie alternde Rockstars immer und immer wieder ihre ersten Hits spielen müssen.

Wie bei „Unter Null“ kehrt der Protagonist Clay auch in „Imperial Bedrooms“ in seine einstige Heimatstadt Los Angeles zurück. Clay ist mittlerweile ein bekannter Drehbuchautor, der in L.A. einen seiner Filme promoten muss. Es wäre keine Fortsetzung, wenn neben Clay nicht auch die anderen Personen wieder ihre Rollen bekämen. So treten ebenfalls auf: Clays Ex-Freundin Blair, die die Trennung von ihm immer noch nicht recht verwunden hat, mittlerweile aber mit dem ebenfalls bereits bekannten Trent verheiratet ist und eine Affäre mit dem gemeinsamen Freund Julian hatte. Julian ist mittlerweile clean, ist aber weit davon entfernt, dass sein Leben in sauberen Bahnen verläuft. Dann ist da noch der ehemalige Drogendealer Rip, der durch mehrere operative Gesichtsstraffungen aussieht, wie ein Erschrecker in der Geisterbahn. Neuzugang in diesem Potpourri ist die schöne Rain. Rain ist so sexy und schön, wie die Traumfabrik Hollywood austauschbare zehntklassige Schauspielerinnen für die Nebenrollen benötigt.

Wir haben es ja schon geahnt: Geändert hat sich auch in 25 Jahren nichts. Diese Gesellschaft, in der sich Clay und die übrigen tummeln, ist oberflächlich und spaßorientiert geblieben. „Die alte Traurigkeit: Sie ist überall“, sagt Clay (S. 24). Schön zusammengefasst, alter Junge. Um die Traurigkeit zu vertreiben, um wieder auf den Trip zu kommen, Spaß, Spaß, Spaß zu verspüren, ist Sex ein gern genutztes Mittel. Die unbegabte Schauspielerin Rain kommt ihm da gerade recht. Er gaukelt ihr vor, er würde sie in seinem nächsten Film unterbringen. Als Gegenleistung verspricht sie ihm Sex und auch ein bisschen Liebe, ist aber gleichzeitig auch noch mit Julian und Rip liiert. Ständig unterwegs zu sein, möglichst drei Partys an einem Abend zu besuchen und stets aneinander vorbei zu reden, das scheinen die Freizeitbeschäftigungen der Neuzeit zu sein. Eine Aneinanderreihung von langatmigen Szenen ist Ellis hier gelungen. Mehr nicht.

Das machen auch nicht die rätselhaften SMS wieder wett, die Clay empfängt. Oder dieser mysteriöse blaue Jeep, der Clay verfolgt. Dass Ellis auch mit verstörenden Horrorelementen spielen kann, hat er zuletzt in seinem Roman „Lunar Park“ bewiesen. „Imperial Bedrooms“ allerdings liest sich wie das Frühwerk eines noch nicht zu seiner wahren Reife entwickelten Autors. Möglicherweise verspürte Ellis den Zwang, das Kapitel „Unter null“ endgültig abzuschließen. Um bereit zu sein für eine neue, andere Ära „Ellis“. Kaum anders zu deuten ist der letzte Satz, der mehr nach Inschrift auf einem Grabstein klingt: „1985-2010“. Das Kind „Unter null“ ist mit 25 Jahren verstorben. Zeit, ein neues zu zeugen. Doch man könnte ihn auch als allerletzten Satz verstehen. Ist Ellis am Ende?

In einem Interview, das er mit Henning Kober führte (erschienen am 30. Juli 2010 in der Wochenzeitung „Die Zeit“), wurde Ellis gefragt, welche Bedeutung erste und letzte Sätze für ihn haben. Er antwortete: „Beide sind wichtig, und ich habe sie gern, bevor ich anfange zu schreiben. Es hilft mir, mich auf den Roman zu konzentrieren und ihn zu verstehen, sie sind ein Bezugspunkt.“ Kober: „Ihr letzter Satz in ‚Königliche Schlafgemächer‘ klingt fast wie ein allerletzter Satz.“ Ellis: „Ja, das tut er, das ist wahr.“ Kober: „Es ist ein furchterregender Satz.“ Ellis: „Es ist entweder das Ende von etwas oder ein Anfang.“

Lass es das Ende von „Unter null“ und der Anfang von etwas sein. Wir warten.

Bret Easton Ellis: Imperial Bedrooms, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2010, 215 Seiten, gebunden, 18,95 Euro, ISBN 978-3462042368

Mörder, ick hör dir trapsen

Sie nennt sich selbst zynisch „eine lebende Leiche“: Elise Andrioli ist eine glücklich verheiratete Frau, da zerstört ein Bombenattentat in Irland ihr Leben und nimmt das ihres Verlobten. Sie selbst überlebt gelähmt und erblindet. An den Rollstuhl gefesselt und völlig auf die Hilfe ihrer Haushälterin Yvette angewiesen. Die nimmt sie eines Tages mit zum Supermarkt, wo Elise die kleine Virginie kennen lernt. Doch was als launige Unterhaltung mit einem siebenjährigen Mädchen beginnt, entwickelt sich zu einer Schauergeschichte. Denn Virginie erzählt Elise von einer Bestie, die nach und nach Jungen umbringt. Erst am vergangenen Tag habe die Bestie wieder zugeschlagen. Und sie, Virginie, habe den Mörder gesehen. Doch bevor sie mehr erzählen kann, wird sie von ihrer Mutter, die vom Einkaufen zurückkommt, unterbrochen.

Elise tut die Geschichte zunächst als Spinnerei ab, doch noch am selben Tag hört sie, man habe einen kleinen Jungen gefunden – ermordet. Elise, die nach und nach in den Freundeskreis von Virginies Eltern aufgenommen wird, beginnt, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Dabei rückt sie selbst immer mehr in den Mittelpunkt der Ereignisse. Merkwürdigerweise vertrauen die Menschen in ihrer näheren Umgebung ihr die intimsten Geheimnisse an. Die Spannung nimmt zu, weil die Raunenden, Flüsternden und Gestehenden stets unterbrochen werden, bevor sie die ganze Wahrheit präsentieren können.

Nicht umsonst wurde dieser Krimi der Autorin Brigitte Aubert mit dem französischen Krimipreis ausgezeichnet. Die Idee, eine Frau, die fast all ihrer Sinne beraubt ist, zur Protagonistin eines Krimis zu machen, ist ein dramaturgischer Schachzug. Man zittert und lauscht mit. Rätselt. Ist schockiert. 1997 ist der Krimi erstmalig auf Deutsch erschienen. Bis heute hat er keinen würdigen Nachahmer gefunden in der Krimiliteratur. Eine Seltenheit.

„Im Dunkel der Wälder“ ist der Krimi, der in jeder freien Minute gelesen werden will. Danach kommt er ins Bücherregal, denn er ist eines der Exemplare, die sich in wenigen Jahren wieder lesen lassen.

Brigitte Aubert: Im Dunkel der Wälder, Goldmann Verlag, 1997, 284 Seiten, Taschenbuch, 8,50 Euro, ISBN 978-3442721634

So bitter und wahr

Friedrich Ani schreibt nicht die Art von Kriminalroman, die jeder mag. Die gelesen werden, nur um Nervenkitzel zu verspüren. Friedrich Ani schreibt Kriminalromane, die vieles sein können, aber nicht bloß das, was lapidar als „Krimi“ bezeichnet wird. Friedrich Anis Kriminalromane halten unserer Gesellschaft in sprachlicher Brillanz den so oft zitierten Spiegel vor. Einen Spiegel, der trotz Staubschicht die Wahrheit abbildet wie kein anderer. Wir haben ihn verstauben lassen, denn warum sollten wir einen Spiegel streifenfrei putzen, der uns nur das Elend zeigt. Ani ist der würdige Nachfolger von Georges Simenon. Wer die Eigenwilligkeit Maigrets unwiderstehlich findet, kann auch die Romane um Polonius Fischer nicht wieder weglegen.

Polonius Fischer ist Ermittler bei der Münchener Mordkommission und ehemaliger Mönch. Das führt zu seltsamen Ritualen, wenn Fischer etwa seinem zwölf Personen starkem Team zum Mittag philosophische Texte vorliest. Im Polizeipräsidium heißt seine Truppe deshalb scherzhaft „Die zwölf Apostel“. In seinem dritten Kriminalroman über Polonius Fischer („Totsein verjährt nicht“) lässt Ani ihn in einem Mordfall ohne Leiche ermitteln. Das alleine ist schon ein spannendes Sujet, wird aber brisanter durch die Anlehnung an einen realen Fall: Am 7. Mai 2001 verschwand das neunjährige Mädchen Peggy aus Lichtenberg. Weder das Mädchen noch ihre Leiche wurden bis jetzt gefunden. Trotzdem ist der geistig behinderte Ulvi K. wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Und das nur, weil der Tatverdächtige ein Geständnis abgelegt hatte, was er allerdings zwei Tage später widerrief.

Ani hat den Fall auf die heutige Zeit übertragen und lässt Polonius Fischer nach der verschwundenen Scarlett suchen, die vor sechs Jahren in München spurlos verschwunden ist. Verurteilt wurde auch bei Ani ein geistig behinderter Mann, Jonathan Krumbholz, der die Tat gestand und das Geständnis wenig später widerrief. Ein junger Mann schreibt Polonius Fischer einen Brief, er habe Scarlett lebend gesehen. Das nimmt Fischer zum Anlass, um zunächst heimlich zu ermitteln. Immer in seinen Gedanken: Seine Lebensgefährtin, eine Taxifahrerin, die brutal überfallen worden ist und nun bewusstlos im Krankenhaus liegt.

Immer neue Hinweise, Fakten, Ungereimtheiten lassen Fischer mehr und mehr daran zweifeln, dass seine Polizeikollegen damals bei der Lösung des Falls alle Möglichkeiten in Betracht gezogen haben. Es verdichtet sich die böse Ahnung, dass schnell ein Tatverdächtiger präsentiert werden musste. Und vielleicht ist Scarlett doch nicht tot, obwohl ihre Mutter auf dem Friedhof bereits ein Grab für sie gekauft hat. Fischer wird zunehmend wütender auf seine Kollegen, je mehr sich ein Knäuel von Fragen auftut. Gleichzeitig schaukelt der Leser zwischen Wut und Fassungslosigkeit. Die Kälte der Mitmenschen, das Elend, die Ratlosigkeit von Eltern und ihre Ungeübtheit, mit Kindern umzugehen. Klarzukommen im Leben. Martin Luther hat geschrieben: „Kinder sind das lieblichste Pfand in der Ehe, sie binden und erhalten das Band der Liebe.“ In dem Roman „Totsein verjährt nicht“ scheint die Lieblichkeit vergessen. Brutal ist diese Welt. Wir leben in ihr und schauen doch am liebsten weg. Den Spiegel lassen wir blind werden. Nur Friedrich Ani kommt dann und wann und zeigt uns die Realität. Die so bitter und so wahr ist.

Es gibt eine Lösung. Friedrich Ani hat sie für den Fall Scarlett. Sie ist ebenso bitter und kaum befriedigend. Noch bitterer aber ist die Lösung, die keine ist. Der Leser klappt das Buch zu. Denkt nach. Sinnt über das Gelesene. Und es folgt die Frage, für die es bis jetzt keine Lösung gibt: Was ist mit Peggy?

Friedrich Ani: Totsein verjährt nicht, Paul Zsolnay Verlag, 2009, 285 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3552054707