Die geblieben sind

Die Arbeiterliteratur ist endlich zurück in der deutschen Wohlstandsgesellschaft. Was Max von der Grün für die Kumpel war und Bruno Gluchowski für die Stahlarbeiter, das ist Domenico Müllensiefen für die Bestatter. Sein Roman „Aus unseren Feuern“ ist ein weiterer Glücksgriff des Kanon-Verlags, der so wunderbare Bücher wie „Meter pro Sekunde“ von Stine Pilgaard oder „Steine schmeißen“ von Sophia Fritz herausgebracht hat. Der in Magdeburg aufgewachsene und heute in Leipzig wohnende Domenico Müllensiefen beschreibt in seinem glänzenden Debütroman die Nachwendezeit in der ostdeutschen Großstadt Leipzig. „Aus unseren Feuern“ ist überzeugende Arbeiterliteratur und Milieustudie zugleich, schonungslos und rasant geschrieben.

Heiko Persberg ist Bestatter und wird im Sommer 2014 zu einem Unfall gerufen, den er nicht vergessen wird. Es ist Freitagabend, das Viertelfinalspiel der Fußballweltmeisterschaft zwischen Frankreich und Deutschland läuft. Als er das Kennzeichen des völlig zerstörten Unfallwagens sieht, wird ihm flau im Magen, und als er die Aluminiumplane von der Leiche zieht, hat er vollkommene Gewissheit: vor ihm liegt sein alter Freund Thomas. Mit ihm hatte er einst seine besten Jahre, wird er später sagen.

Heiko, Thomas und Karsten waren in den Nullerjahren eine Gang. Karsten ist heute in den USA, Thomas ist jetzt tot. Aber früher, da waren sie ganz dicke miteinander. Eine Szene ganz zu Anfang des Buches offenbart nicht nur die Qualität ihrer Freundschaft, sondern zeigt auch das Dilemma zwischen Ost und West, zwischen denen, die geblieben sind, und denen, die aus dem Westen rübergekommen sind. In den Sommerferien 1999 kommen die drei auf die wenig glorreiche Idee, ihre Schulbücher zu verbrennen. Niemand werde die im neuen Schuljahr zurückfordern, meint Heiko. Sie grillen Würstchen über dem lodernden Feuer des Wissens – und müssen zu Beginn des nächsten Schuljahrs mit ihren Eltern zum Schuldirektor.

„Und wo kommen wir her?“

Ihr Vergehen fällt dort jedoch schnell unter den Tisch, denn der neue Schuldirektor ist aus dem Westen. Der letzte musste seinen Posten aufgeben, weil er früher bei der Stasi war. Jetzt sitzt da also dieser Dr. Rademacher, und eine unbedachte Äußerung zündet von 0 auf 100 die nächste Eskalationsstufe. Auf die Frage, woher er komme, antwortet Dr. Rademacher: „Aus dem Siegerland.“ Thomas‘ Vater, ein Schlachter, explodiert förmlich. „Und wo kommen wir her? Aus dem Verliererland?“ Dr. Rademacher ist schwer um ein friedliches Gespräch bemüht, sagt, Deutschland sei jetzt wiedervereinigt. Für Schlachter Meier aber ist das ein Reizwort, nix sei wiedervereinigt, allenfalls annektiert. „Ihr kommt hier rüber, macht es euch in unseren Betrieben bequem, verkauft uns Schrott, fickt unsere Weiber, und dann faselst du was von wiedervereinigt? (…) Ihr Wessis habt uns nie verstanden.“ Es braucht nur diese wenigen Seiten, um zu zeigen, wie abwesend der Toleranzbereich zwischen Ost und West war. Und mitunter noch oder wieder ist.

Heiko macht nach der Schule eine Ausbildung zum Elektriker und erlebt den 11. September 2001 in einer Plattenbausiedlung. Seine Kollegen Maik und Mike (ja, wirklich!) schauen an diesem Tag auf einem im Müll entdeckten Fernseher lieber Pornovideos als „diese schwachsinnige Amerika-Scheiße“, während Heiko Kupferkabel abschneidet und -isoliert. Die Beute bringt am Abend eine hübsche Summe bei einem Schrotthändler, der keine Fragen stellt. Heiko sieht dort die Bilder aus Amerika im Fernsehen, erhascht aber nur einen kleinen Einblick, dann übernimmt wieder die Realität vor Ort. Dieser Tag ist für Heiko nicht der Tag der Terroranschläge, sondern der Tag des Reichtums. „Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich richtig viel Geld, und ich hatte keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte.“

Heiko will ein Moped, später ist eine Karre der ganz große Traum des Freunde-Trios. Sie hängen ab, trinken Bier, rauchen und palavern. Heiko hat bald die erste Freundin, Jana. Aus der Coming-of-Age-Geschichte erwächst eine Arbeiter-Geschichte. Der Autor Domenico Müllensiefen weiß, wovon er schreibt. Er selbst machte in Magdeburg eine Ausbildung zum Systemelektroniker, fand danach eine Anstellung als Techniker in Leipzig und ging später zum Studium ans Leipziger Literaturinstitut. Nebenher arbeitete er als Bestatter. Seine persönlichen Erfahrungen schlagen sich voll in seinem Debütroman nieder, mit ganzer Wucht, in aller Schönheit und Hässlichkeit.

Ratlosigkeit, Trotz und Lethargie

Müllensiefen zeigt die Abgehängten der Wiedervereinigung, die einfachen Leute aus Stadt und Land, den Verlust ihrer bis dato wahrgenommenen Prägung als Mensch und Staatsangehörige, ihre Ratlosigkeit, ihren Trotz und auch die Lethargie, ganz besonders die der Jugend, die nun mit ihrer neu gewonnen Freiheit nichts anzufangen weiß. Ihm gelingt das, weil er sich nicht darüber erhebt, sondern seine Figuren bis in die Nebenrollen mit einer wunderbaren Zärtlichkeit beschreibt. So etwa Mandy, Heikos heimliche Jugendliebe, die nach der Schule nach Regensburg ging. Eine, die rauskam, hieß es damals. Doch nach wenigen Wochen packte sie ihre Sachen und kam zurück nach Leipzig. Die Bayern hatten sich über ihren Dialekt lustig gemacht und ihr erklärt, „dass man ihr das Arbeiten schon beibringen würde“. Mandy kehrte also zurück. Ihr Autor schreibt auf seiner Webseite: „Ich lebe in Leipzig. Den Osten zu verlassen, kam für mich nie in Frage.“

Sprachlich ist der Roman zu fast jeder Zeit auf dem Punkt, der Jargon treffend, und die Dialoge sind der Knaller. Müllensiefens scharfe Beobachtungsgabe ist eine Wohltat für die deutsche Gegenwartsliteratur. Man kann nur hoffen, dass auch ein Nachfolgeroman aus diesem Schatz schöpfen kann. Müllensiefen gibt darauf die beste Antwort: „Vielleicht ist das sogar das Geheimnis: Man schreibt die Literatur, die man am liebsten selbst lesen möchte, wenn ich so an die Sache herangehe, dann kann das nächste Ding nur ein Kracher werden!“

Domenico Müllensiefen: Aus unseren Feuern, Kanon-Verlag, Berlin, 2022, 336 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 24 Euro, ISBN 978-3985680153

Seitengang dankt dem Kanon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Der Preis der Leipziger Buchmesse 2014: Die Gewinner

Alle Preisträger: Saša Stanišić (v. l.), Robin Detje  und Helmut Lethen. Foto: Leipziger Messe GmbH / Uli Koch
Alle Preisträger: Saša Stanišić (v. l.), Robin Detje und Helmut Lethen. Foto: Leipziger Messe GmbH / Uli Koch
Eine Dekade ist geschafft! Zum zehnten Mal ist am Donnerstagnachmittag in Leipzig der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen worden. Der mit insgesamt 45.000 Euro dotierte Preis gilt mittlerweile als einer der renommiertesten Buchpreise im deutschsprachigen Raum. In diesem Jahr entschied sich die siebenköpfige Jury unter dem Vorsitzenden Hubert Winkels für:

Saša Stanišić (Kategorie Belletristik) mit seinem Roman „Vor dem Fest“, erschienen im Luchterhand Literaturverlag,

Helmut Lethen (Kategorie Sachbuch/Essayistik) mit seinem Buch „Der Schatten des Fotografen“, erschienen bei Rowohlt Berlin, und

Robin Detje (Kategorie Übersetzung) mit seiner Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von William T. Vollmanns „Europe Central“, erschienen im Suhrkamp Verlag.

Als Henry Hasenpflug, Staatssekretär für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen, den Namen Saša Stanišić als Sieger des Buchpreises in der Kategorie Belletristik nennt, ist Jubel und Hochstimmung im Publikum. Stanišićs Roman über ein fiktives Dorf in der Uckermark ist erst am Anfang der Buchmesse-Woche erschienen und hat dennoch bereits begeisterten Anklang in den Feuilletons gefunden.

„Stanišić hat ein Dorf aus Sprache erfunden, ein Kaleidoskop, einen Kosmos aus vielen Stimmen, Klangfarben, Jargons, die Welt in nuce, magisch zusammengehalten von einem kollektiven Erzähler, der dazugehört, einem, der verschmitzt ist und gewitzt und klug und ein bisschen weise“, urteilt die Jury über den Roman des Mannes, der zuvor schon als Autor, Blogger und Kolumnist zahlreiche Preise und Stipendien erhalten hat.

Stanišić nimmt den Preis sichtlich überrascht entgegen. Er sei „wahnsinnig froh“ und erzählt, er habe auf dem Weg zur Preisverleihung ein Ei geschenkt bekommen. „Ich glaube, das ist aus der Uckermark.“ Er dankt dem Verlag, der Uckermark und seiner eigenen Freundin, die zuletzt auch zu seiner Lektorin geworden sei, erzählt er. So einsam sei das Schriftstellerleben also nicht.

In der Kategorie „Sachbuch/Essayistik“ kürte die Jury den Essay „Der Schatten des Fotografen“ des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen. Woher rührt die ungeheure Wirkung, die Fotos auf uns haben? Und wie viel Wirklichkeit steckt in oder hinter den Bildern? Lethen geht diesen Fragen auf einem Streifzug durch die Kunst- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts nach.

Die Jury sagt: „Wenn man dieses Buch als Verhaltenslehre des Sehens bezeichnet – als nützliche, sinnliche, analytische Verhaltenslehre des Sehens –, dann nur, wenn man einen Aspekt noch ergänzt. Nichts Autoritäres gibt es hier, im Gegenteil. „Der Schatten des Fotografen“, das ist eine Lehre zum Mitdenken; anregend noch lange nach der Lektüre.“

Als Lethen ans Mikrofon tritt, ruft er als erstes aus: „Da ist ein Scheck!“ Das Publikum lacht. Dann grüßt er, so wie er es von der Oscar-Verleihung gelernt habe, seine Frau, seine fünf Kinder sowie seine Ex-Frau im Amsterdam und verlässt dann die Bühne.

In der Kategorie „Übersetzung“ wird Robin Detje für seine Übertragung von William T. Vollmanns “Europe Central” aus dem amerikanischen Englisch mit dem Leipziger Buchpreis prämiert. Das rund 1.000 Seiten umfassende Buch, in den USA bereits 2005 erschienen, ist ein historischer Roman über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa und Russland.

„Robin Detje schreibt seine Übersetzung stimmig am amerikanischen Original entlang. Immer wieder findet er überzeugende Entsprechungen für Töne, Bilder, Motivreihen. Mit diesem Sprachgefühl, Akribie und auf Augenhöhe mit dem Autor bringt er uns diese Hymne auf die Kunst des Erzählens, die dabei selbst die Grenzen klassischen Erzählens immer wieder durchbricht, auch musikalisch nah“, begründet die Jury ihre Entscheidung. Detje habe das Werk „eindrucksvoll übersetzt“, es seien Sätze „voller Schönheit und Abgründe, in denen Zynismus, Lakonie und Poesie aufeinander fallen“.

Insgesamt sind in diesem Jahr 410 Titel von 136 Verlagen für den Preis eingereicht worden. Daraus nominierte die Jury fünf Autoren oder Übersetzer in jeder Kategorie.

Nominierte Kategorie Belletristik:
Fabian Hischmann:
„Am Ende schmeißen wir mit Gold“ (Berlin Verlag)
Per Leo: „Flut und Boden: Roman einer Familie“ (Klett-Cotta)
Martin Mosebach: „Das Blutbuchenfest“ (Carl Hanser Verlag)
Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“ (Suhrkamp Verlag)
Saša Stanišić: „Vor dem Fest“ (Luchterhand Literaturverlag)

Nominierte Kategorie Sachbuch/Essayistik:
Diedrich Diederichsen:
„Über Pop-Musik“ (Kiepenheuer&Witsch)
Jürgen Kaube: „Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen“ (Rowohlt Berlin)
Helmut Lethen: „Der Schatten des Fotografen“ (Rowohlt Berlin)
Barbara Vinken: „Angezogen: Das Geheimnis der Mode“ (Klett-Cotta)
Roger Willemsen: „Das Hohe Haus: Ein Jahr im Parlament“ (S. Fischer)

Nominierte Kategorie Übersetzung:
Paul Berf:
„Spielen“, aus dem Norwegischen, von Karl Ove Knausgård (Luchterhand Literaturverlag)
Robin Detje: „Europe Central“, aus dem amerikanischen Englisch, von William T. Vollmann (Suhrkamp Verlag)
Ursula Gräfe: „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“, aus dem Japanischen, von Haruki Murakami (Dumont Buchverlag)
Hinrich Schmidt-Henkel: „Jacques der Fatalist und sein Herr“ aus dem Französischen, von Denis Diderot (Matthes & Seitz Berlin)
Ernest Wichner: „Buch des Flüsterns“, aus dem Rumänischen, von Varujan Vosganian (Paul Zsolnay Verlag)

Seitengang fährt zur Leipziger Buchmesse 2014

Druck„Seitengang – Ein Literatur-Blog“ fährt auch in diesem Jahr wieder zur Leipziger Buchmesse. Vom 13. bis 16. März 2014 berichtet Seitengang direkt aus Leipzig über Lesungen, Autoren und Verlage sowie natürlich auch über die Sputnik LitPop 2014.

Zu den besonderen Höhepunkten in diesem Frühjahr zählen die Auftritte berühmter Autoren wie Margaret Atwood, Simon Beckett, Margriet de Moor, Arne Dahl, Håkan Nesser, Ingrid Noll, Frank Schätzing oder Friedrich Ani. Leipzig bereitet aber auch erneut die Bühne für politische Autoren und Themen: Pankaj Mishra etwa, Publizist und Historiker aus Indien, bekommt in diesem Jahr den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

Im Jahr 2006 ist der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch mit diesem Preis geehrt worden – derzeit demonstriert er auf dem Majdan-Platz in Kiew und reist im März nach Leipzig, um unter anderem über die politischen Entwicklungen seines Landes zu informieren.

Vorstellung der Neuerscheinungen des Frühjahrs

Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse ist neben der Vorstellung der Neuerscheinungen des Frühjahrs zum dritten Mal in Folge das Programm “tranzyt. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus”. Dort präsentieren wie schon in den vergangenen beiden Jahren etablierte und aufstrebende Autoren aus Mittelosteuropa zum Teil noch unbekannte Literaturwelten. Eines der wichtigsten Themen wird dabei der Erste Weltkrieg sein. Polen, die Ukraine und Belarus waren wichtige Schauplätze des Krieges, der diese Länder mit all seinen Folgen heimsuchte.

Gastland der diesjährigen Buchmesse ist die Schweiz, die mit mehr als 80 Autorinnen und Autoren sowie vielen Aktionen nach Leipzig reist. Angekündigt haben sich unter anderem Milena Moser, Adolf Muschg, Peter Stamm und Martin Suter.

Außerdem wird am 13. März um 16 Uhr in der Glashalle der Messe der Preis der Leipziger Buchmesse für herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen und Übersetzungen verliehen. Zum zehnten Mal ist das Rennen um den begehrten Preis eröffnet. Im Jubiläumsjahr reichten 136 Verlage insgesamt 410 Titel ein, die im Zeitraum bis zur Leipziger Buchmesse 2014 erscheinen werden. Unter der Leitung von Journalist und Literaturkritiker Hubert Winkels nominierte die siebenköpfige Jury jeweils fünf Autoren und Übersetzer in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung.

Bis zum 6. März können Sie Ihren Favoriten in der Kategorie Belletristik wählen. Unter allen Teilnehmern wird ein Paket mit den nominierten Belletristiktiteln sowie Eintrittskarten zur Leipziger Buchmesse verlost.

Die drei Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse erfahren Sie am schnellsten, wenn Sie Seitengang bei Twitter folgen. Dort werden die Preisträger noch während der Preisvergabe bekannt gegeben, so schnell es möglich ist. Der ausführliche Text folgt dann selbstverständlich später hier im Blog.

Clemens Meyer : „Sexualität ist wie ein Überraschungsei“

DSC_0260Am Donnerstagabend las der Leipziger Kult-Autor Clemens Meyer in Wien aus seinem gefeierten Roman „Im Stein“, den er selbst als „Lebensstoff“ bezeichnet. Dabei zeigte er sich nicht nur als offener und sympathischer Interviewpartner, sondern auch als ernsthafter Vorleser des eigenen Stoffes.

„Sexualität ist wie ein Überraschungsei, nur dass es nicht ganz so gut schmeckt am Ende“, sagt Clemens Meyer in Wien. Sein Roman offenbart das Rotlichtmilieu in all seinen Facetten. „Kaum jemand unter den Schriftstellern seiner Generation weiß so viel wie Clemens Meyer“, schreibt Ina Hartwig in der Süddeutschen Zeitung. Die Feuilletonisten überschlagen sich, begeisterte Synonyme für diesen Roman, dieses Panoptikum und Sittenbild zu finden.

Der Roman erzählt nicht linear, sondern ist voller Zeitsprünge. „Mein Roman ist schwierige Literatur, auch für den Leser nicht leicht“, hat er Gerrit Bartels vom Tagesspiegel in einem lesenswerten Interview gesagt. Meyer ist ein Kunstschaffender, ein Suchender. Und er hat ein surreales Epos geschrieben, das schonungslos und dennoch mit Herz von der Subkultur der käuflichen Liebe erzählt, von Gewalt und Konkurrenz, aber auch vom Geld, das mit der Prostitution verdient wird.

Das „steinere Geschäft“ der Baulöwen

Eine Vielzahl von Gründen haben zum Titel des Buches geführt, erklärt Meyer in Wien. Zum einen versinnbildliche der Stein diese unbekannte Großstadt, in der der Roman angesiedelt ist. Rund 600.000 Einwohner seien in einem Hybrid aus Halle/Saale und Leipzig gefangen. Der „Schweinehans“ lebt teilweise in Katakomben, eine andere Figur im Krematorium. „Es ist auch der archäologische Blick – wir leben ja auch alle auf früheren Städten, und vielleicht werden auch wir irgendwann eine Schicht unter einer Stadt sein.“ „Im Stein“ meine aber auch das „steinere Geschäft“ der Baulöwen und Wohnungsvermieter.

„Wir leben in einer Zeit, in der die Gier nach dem Geld üblich ist, aber in diesem Bereich kommt plötzlich die Moral ins Spiel“, erklärt er. Das fände er interessant. Es gehe um Körper, um das Körperliche an sich, das sich zu Geld machen lasse. „So wie Badelatschen, und doch sind es keine. Ich dachte, hier kannst du mit Sprache, mit Struktur etwas zeigen, die Welt, in der wir leben.“ Auch die Geschleusten, die Geschleppten kommen im Roman vor. Clemens Meyer formuliert es so: „Die Stimmen der Frauen füllen den Stein.“

Reale Vorbilder für die Figuren gibt es indes nicht. „Es gab aber im Jahr 1998 einen Zündfunken.“ Ein Zeitungsartikel über einen Rotlichtboss in Leipzig, dem beide Beine weggeschossen worden sind. „Da habe ich gedacht: Das ist ein interessanter Fall – wenn der das überlebt und zurückkommt, ist der stärker als zuvor, ein König, fast schon von shakespeareschen Ausmaßen.“ Und trotzdem sei er nicht der Rotlichtboss seines Romans geworden. „Der würde mich auch verklagen“, sagt er und lacht. „Nein, er ist es nicht. Er hat das Buch auch gelesen und gemerkt, dass er das nicht ist.“

„Man muss viel zuhören können“

Seit 1998 hat Meyer an seinem Roman gearbeitet. Da war er Anfang 20, und der Roman trug noch den Arbeitstitel „Das Hurenhaus“. Er traf sich mit Leuten, sprach mit Frauen aus dem Gewerbe und hörte vor allem viel zu. „Man muss viel zuhören können“, wiederholt er. Erst im Jahr 2008 begann er mit dem Schreiben. „Zwischendurch habe ich dann „Gewalten“ geschrieben, weil ich mit dem „Stein“ nicht weiterkam.“

Als er am „Stein“ schrieb, war der Schreibtisch mit Notizen bedeckt, Zeitungsausschnitte und Bücher stapelten sich, rundherum standen Pinnwände. Jetzt hat er wie in einem Akt der Loslösung und der Trennung von seinen Romanfiguren alle seine Notizen und Bücher vernichtet. „Ich habe alles weggeworfen – in so eine Aschetonne und musste sogar mehrfach draufspringen“, erzählt er dem Publikum in der Wiener Hauptbücherei. Er habe sogar die Bücher weggeworfen, solche von Sexarbeiterinnen und Bordellkönigen. Milieuliteratur.

Nur zwei Bücher hat er aufgehoben: „Im Strich“, ein Buch, das in Wien spielt und „gar nicht leicht zu kriegen“ war sowie ein Callgirlführer aus München vom Anfang der 70er Jahre. „Das ist sehr schön, dieses Buch, das hat eine ganz eigene Philosophie, und früher konnte ich die Sprüche daraus auswendig.“ Außerdem habe er natürlich den „Zündfunken“ aufgehoben, den Zeitungsausschnitt, mit dem alles begann.

Jetlag in Tokio mit Whisky bekämpft

Meyer ist einer jener Schriftsteller, die an den Schauplätzen ihrer Romane gewesen sein müssen, sofern sie nicht völlig der Phantasie entspringen. Deshalb flog er 2002 nach Tokio. Er habe versucht, den Jetlag mit Whisky zu bekämpfen. „Aber der kam zurück und schlug mich wieder mehrere Stunden zurück – vielleicht hätte ich so viel trinken müssen, dass ich da angekommen wäre, wo ich herkam.“ Er lacht.

Als die Moderatorin und Standard-Kulturchefin Andrea Schurian erklärt, Meyer würden schriftstellerische Vorbilder wie Daniel Woodrell unterstellt, sagt der: „Wer? Den kenn‘ ich gar nicht.“ Uwe Johnson, Alfred Döblin, Hubert Fichte oder Wolfgang Hilbig, die hätten ihn beeindruckt. Und dann: „Wie hieß der Amerikaner?“ „Woodrell.“ „Kenn ich gar nicht!“ Er klappt sein Leseexemplar auf und notiert sich den Namen.

Seinem Lieblingsbuch von Fichte hat Meyer in seinem Roman ein kleines Denkmal gesetzt: „Ecki geht über den Naschmarkt: Der Tote Eisenbahner ist genau null Komma neun Kilometer vom Naschmarkt entfernt“, heißt es da. Bei Fichtes „Die Palette“ geht Jäcki über den Gänsemarkt. Es ist eine Huldigung an Meyers Vorbild. Und es ist einer der drei Teile des Romans, die Meyer in Wien seinem Publikum vorliest.

„Dann las ich das und dachte: Mensch, das ist ja gut!“

„Letztens habe ich ein Kapitel in meinem Buch entdeckt“, fängt er später wieder an zu erzählen. Das Publikum lacht und Meyer merkt, wie seltsam das klingt. „Ich saß in Greifswald bei einer Lesung, und der Moderator sagte, er wollte die Tokio-Szene hören.“ Da habe er erstmal suchen müssen in seinem 560 Seiten starken Buch. „Dann las ich das und dachte: Mensch, das ist ja gut!“ Man nimmt sie ihm ab, diese bescheidene Überraschung über die eigene Sprachgewalt und Kunstfertigkeit.

„15 Jahre habe ich an diesem Roman gearbeitet, es war einer meiner Lebensstoffe, das nächste Buch auch, obwohl das Thema schwieriger ist.“ Kroatisch müsse er nächstes Jahr lernen, so wie er für den „Stein“ habe BWL lernen müssen, weil eine seiner Figuren BWL studiert habe. Der neue Roman, so viel verrät er schon, werde in Kroatien spielen, an den alten Winnetou-Film-Schauplätzen und im Krieg der 90er. „Es gibt ein Kino zwischen den Fronten, das immer diese alten Filme zeigt – was man daraus machen kann, weiß ich aber noch nicht.“

Meyers erster Roman „Als wir träumten“ wird in der Zukunft auf deutschen Kinoleinwänden zu sehen sein. Regisseur Andreas Dresen („Halt auf freier Strecke“) verfilmt den Stoff derzeit, das Drehbuch stammt von Wolfgang Kohlhaase („Die Stille nach dem Schuss“). In Wien erzählt Meyer, dass er gerade erst am Set gewesen sei und seinen Hitchcock-Auftritt gehabt habe: „Ich habe einen Polizisten gespielt und meine Rolle sehr ernst genommen.“ Aber es sei schon seltsam, die Figuren seines Romans in Fleisch und Blut verkörpert zu sehen.

Bei Verfilmung am Drehbuch mitschreiben

Er habe auch schon darüber nachgedacht, „Im Stein“ verfilmen zu lassen. „Es gab eine Anfrage von einer Produktionsfirma, die eine Art amerikanische Serie daraus machen wollte.“ In jedem Fall wolle er aber bei dieser Verfilmung am Drehbuch mitschreiben, das sei ihm sehr wichtig.

„Aber jetzt ist erstmal das Buch da, das war auch schon schwierig genug. Und manchmal kann man sein Buch schon nicht mehr sehen“, sagt er und liest trotzdem noch eine Szene vor.

Der 1977 geborene Clemens Meyer ist bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mitte November wurde bekannt, dass er für seinen neuen Roman am 27. Januar mit dem Bremer Literaturpreis 2014 ausgezeichnet wird. In diesem Jahr war er auch für den Deutschen Buchpreis nominiert, den Preis aber bekam Terézia Mora für ihren Roman „Das Ungeheuer“.

Die nächsten Lese-Termine von Clemens Meyer und weitere Informationen sind auf seiner Autoren-Homepage abrufbar. Eine Lesung von ihm ist in jedem Fall empfehlenswert. Nicht nur in Wien.

Clemens Meyer: Im Stein, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2013, 560 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, mit Lesebändchen, ISBN 978-3100486028, Leseprobe

Von der Lesung zum Politgespräch: Gorbatschow und Genscher in der Peterskirche in Leipzig

Schlange stehen für Gorbatschow
Schlange stehen für Gorbatschow
Es war die bewegendste Veranstaltung der Leipziger Buchmesse 2013: In der mit mehr als 1.500 Menschen besetzten Peterskirche traf Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher am zweiten Messetag auf Michail Gorbatschow, den früheren Präsidenten der Sowjetunion. Gorbatschow war zur Buchmesse gereist, um dort seine Memoiren „Alles zu seiner Zeit. Mein Leben“ vorzustellen. Am Vormittag hatte er zwei Termine auf der Buchmesse wegen Erschöpfung kurzfristig absagen müssen. Umso mehr herrschte am Nachmittag großes Interesse in der Stadt, in der 1989 durch die Montagsdemonstrationen die Friedliche Wende begann.

Bereits zwei Stunden vor Beginn der Veranstaltung standen die Menschen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt vor der Kirche Schlange. Der Andrang war größer, als die Pfarrkirche Platz bot, so dass viele Besucher draußen bleiben mussten. Moderiert wurde das Gespräch zwischen Genscher und Gorbatschow von Theo Sommer, dem ehemaligen Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“, der zu Beginn die Worte sprach, die während der nächsten Stunde gelten sollten: „Das ist ein sehr bewegender Moment, vor allem hier in Leipzig.“ Als Gorbatschow schließlich das Podest betrat, hielt es die Menschen nicht mehr auf ihren Stühlen. Anhaltend klatschten sie Beifall, applaudierten einem sichtlich geschwächten Mann.

Einen beträchtlichen Teil seiner Memoiren nehmen die Erinnerungen an seine geliebte Frau Raissa ein, die 1999 in Deutschland ihrem Krebsleiden erlag. „Sie war eine Frau, die ich über alles liebte, und ich hoffe, dass sie das auch empfand“, antwortete Gorbatschow, als Sommer zu Beginn nach Raissas Bedeutung fragte. „Jeden Tag denke ich daran, dass sie nicht mehr da ist.“ Dann fügte er hinzu: „Raissa hat die Belastungen und Prüfungen, die uns zuteil wurden, einfach nicht ausgehalten – sie ist daran zerbrochen.“ Gemeint sind die Anfeindungen, denen er sich nach seinem Rücktritt als Präsident gegenübersah, weil viele Menschen in Russland der Meinung waren, er habe zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen. In seiner Autobiographie geht der ehemalige Kreml-Chef deshalb der Frage nach, ob er den Tod seiner Frau hätte verhindern können.

Der Schlüssel liegt in Moskau

Die deutsche Wiedervereinigung war das beherrschende Thema in der Peterskirche. „Wir können jetzt sagen: Alles ist gut gelaufen“, erklärte Gorbatschow, „aber vorher haben wir uns Sorgen gemacht, wie man das alles löst. Wir mussten die Sowjetunion verändern und den Bürgern zeigen, was Offenheit („Glasnost“) bedeutet – wie viel mussten wir uns streiten! Alles war in Aufruhr, Veränderungen waren überall im Gange, wie sollte Deutschland da abseits bleiben?“ Natürlich habe Deutschland die deutsche Frage klären wollen, und irgendjemand habe gesagt, der Schlüssel dazu liege in Moskau, erinnerte sich Gorbatschow.

Hans-Dietrich Genscher war deutscher Außenminister, als er Gorbatschow zum ersten Mal traf. In Leipzig erzählte Genscher, dass der französische Staatspräsident François Mitterrand ihm vorher erklärt habe, Gorbatschow sei völlig anders als alle, die er bisher kannte. „Der liest ihnen nicht wie Breschnew alles vor“, habe Mitterand gesagt. Daraufhin habe sich Genscher ganz besonders auf das erste Treffen vorbereitet. „Danach habe ich zu meinem Mitarbeiter gesagt: Wenn der das alles schafft, was er vorhat, verändert er die Welt. Heute kann ich sagen: Er ist ein großer Staatsmann unserer Zeit, und als diesen schätze ich ihn.“

Gorbatschow erwiderte: „Ich halte ihm sehr zugute, dass er mir vertraut und sich für mich stark gemacht hat.“ Als erster westlicher Staatsmann hatte Genscher gesagt, man solle Gorbatschow ernst nehmen. Gorbatschow: „Die ganze Entwicklung war mühevoll, und es war unsere gemeinsame Leistung, was wir geschafft haben.“ Das Publikum antwortete mit Applaus.

„Wer zu spät kommt, den bezahlt das Leben“

Der Friedensnobelpreisträger, der das Ende des Kalten Krieges einleitete, wird immer wieder gerne mit dem Spruch zitiert „Wer zu spät kommt, den bezahlt das Leben“. Moderator Theo Sommer versuchte, in der Peterskirche nun endlich Licht in das Dunkle zu bringen, was mit diesem Zitat denn gemeint sei. Gorbatschow erklärte, er habe bei den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehen der DDR mit Erich Honecker über das Programm „Perestroika“ („Umgestaltung“) gesprochen und ihm dazu gesagt, wer hinter den Herausforderungen der Zeit hinterherlaufe, der werde bestraft.

Der Mauerfall aber, sagte Gorbatschow deutlich, sei erst durch das deutsche Volk möglich gewesen, gerade in Leipzig: „Eben hier in dieser Stadt fielen die Worte „Wir sind ein Volk“, und diese Worte wurden überall vernommen.“ 300.000 Soldaten seien zu dem Zeitpunkt auf deutschem Boden gewesen, aber sie hätten ihre Kasernen nicht verlassen – „es fiel kein Schuss“. Erneut lang anhaltender Applaus. Doch Theo Sommer ließ nicht locker und fragte nach, ob es im Kreml nicht doch auch Stimmen gegeben habe, die Panzer rollen zu lassen. Darauf reagierte Gorbatschow aber ganz entspannt: „Es wurde viel diskutiert, aber wenn man jetzt mit einem Spaten Geheimnisse ausgraben will, sollte man mit ihm lieber einen Baum pflanzen. Wir können doch alle stolz darauf sein!“

Dass man sich für den Frieden einsetzen müsse, habe er in der Zeit des Zweiten Weltkriegs sowie in den Jahren danach gelernt. Gorbatschow, dessen Eltern Bauern in einem Kolchos waren, hat fünf Monate unter deutscher Besetzung gelebt. „Um uns herum geschahen schreckliche Sachen: In einem Vorort wurden Zehntausende unserer Bürger in einer Schlucht erschossen, das bekamen wir alles mit.“ Als Gorbatschow zum Jurastudium nach Moskau fuhr, hielt der Zug immer im zerstörten Stalingrad. „Ich bin dort oft für einige Stunden ausgestiegen – es sah verheerend aus, aber aus der kurzen Zeit habe ich gelernt, dass man sich für den Frieden einsetzen muss. Und es ist ja schon wieder im Gange. Wir müssen das Wettrüsten verhindern!“

Forderung nach Abrüstung

Genscher pflichtete ihm bei: „Wir dürfen jetzt nicht stehenbleiben, wir können die Waffen am besten beherrschen, wenn wir sie vernichten!“ Und: „Wann werden die atomaren Vernichtungswaffen abgeschafft? Das ist wichtig zum Überleben der Menschheit.“ Das Gespräch, das ursprünglich der Vorstellung der Gorbatschow-Memoiren dienen sollte, wurde mehr und mehr zu einer offenen Forderung beider Staatsmänner nach Abrüstung. Schon vorher hatte Genscher an die doppelte Nulllösung zwischen den USA und der Sowjetunion erinnert: „Eine ganze Generation von Raketen wurde beseitigt, aber wir sollten nicht über Geschichte reden, sondern die nächste Generation beseitigen.“

Als Theo Sommer schließlich den früheren Präsidenten der Sowjetunion fragte, was er sich derzeit von Deutschland wünsche, antwortete der nur verschmitzt: „Das ist ein Thema für mein nächstes Buch.“ Und brachte damit ein überaus gelungenes Gespräch und einen sehr bewegenden Nachmittag zu einem Abschluss.

Michail Gorbatschow: Alles zu seiner Zeit. Mein Leben, Hoffmann und Campe, Hamburg, 2013, 546 Seiten, gebunden, 24,99 Euro, ISBN 978-3455502763

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