Sexisten sind immer die anderen

Im Jahr 2019 veröffentlicht der New Yorker erstmals Mary Gaitskills Novelle „This is Pleasure“. Sie ist der Versuch einer literarischen Auseinandersetzung mit der MeToo-Debatte und erzählt vom übergriffigen Verhalten eines US-amerikanischen Verlegers, von Machtmissbrauch, Sexismus und Machismo. Im April 2021 ist „Das ist Lust“ auf Deutsch erschienen.

Quinlan M. Saunders, kurz: Quin, ist der bekannte und gefeierte Leiter eines angesehenen New Yorker Verlagshauses. Seit Jahren im Geschäft, erfolgsverwöhnt, einflussreich. Bonvivant, Mann von Welt, Marke „Grab them by the Pussy“. Während Donald Trump diesen Satz 2005 stolz und triumphierend von sich gab, würde Quin über sich selbst nie in dieser Art und Weise sprechen. Quin prahlt nicht mit seinen Übergriffen, sondern er hält sie für das Ergebnis eines grundlegenden, neckischen Spiels zwischen Mann und Frau. Er glaubt, er habe die seltene Gabe, Menschen – vor allem natürlich: Frauen – nur anschauen zu müssen, um zu verstehen, was ihr Innerstes ausmacht. Quin hält sich für emotional schwer intelligent und überprüft sein Können bei jeder sich bietenden Gelegenheit, oft gut versteckt unter einem dünnen Überwurf aus Höflichkeit.

Im Central Park begegnet er einer in Melancholie versunkenen Frau und raunt ihr zu: „Sind Sie nicht eine sanfte Seele!“ Sie antwortet: „Und sind Sie nicht eine aufmerksame Seele. Dass Ihnen das auffällt!“ Sie sprechen eine Weile, dann lädt er sie zum Tee ein. Sie geht mit.

„Und dann ihre Klitoris berühren. Das ist Lust.“

Später erzählt er seiner guten Freundin Margot, die er seit fünf Jahren kennt, von der Begegnung. Quin, der zu diesem Zeitpunkt kurz vor seiner eigenen Hochzeit steht, lässt Margot an seinen Einsichten teilhaben. Der Provokateur erklärt ihr, dass diese Frau aus dem Central Park es sicher schätzen würde, wenn man ihr weh täte. „Eigentlich sehnt sie sich nach Zuneigung. Man könnte ihr mit … keine Ahnung, mit einer Tischtenniskelle den Hintern versohlen? Und dann ihre Klitoris berühren. Das ist Lust.“

In kurzen Kapiteln beschreiben Quin und Margot, immer im Wechsel, die Entwicklung aus ihrer Perspektive. Bezeichnenderweise hat Margot das erste Wort, Quinn aber das letzte. Margot zweifelt an sich und ihrer Freundschaft zu Quin. Darf sie mit ihm noch befreundet sein, obgleich sie weiß, wie er sich gegenüber anderen Frauen verhält? Steht sie nicht auf jenem schmalen Grat schon zu weit auf der falschen Seite, wenn sie den uneinsichtigen Quin auch noch verteidigt und seine guten Seiten hervorhebt (die er zweifelsohne hat)? Darf sie ihm gegenüber noch loyal sein, ist Verteidigung erlaubt oder wäre das verwerflich?

Margot, ebenfalls Verlegerin, macht sich über die Tischtenniskellen-Anekdote noch gemeinsam mit ihrem Mann lustig – und über den kauzigen Freund, der ein bisschen esoterisch, ein wenig pervers ist, aber doch eigentlich niemanden etwas zu leide tut. Heute, 15 Jahre später, sieht Margot die Sache anders, reflektierter. Jetzt ist ihr bewusst, wie falsch Quins Verhalten war. Und sie selbst hat es zu Beginn ihrer Freundschaft am eigenen Leib erfahren.

Hoffnung bleibt ungestillt

Sie war nicht die erste, und die Frau aus dem Central Park nicht die letzte. Jetzt aber haben Frauen den Mut gefasst, von den sexuellen Belästigungen und Übergriffen des alternden Verleger-Stars zu berichten. Die #metoo-Bewegung, die sich weltweit verbreitet, bestärkt sie darin. Quin wird gekündigt. Selbstreflexion oder gar Reue beim ihm? Keine Spur. Die Hoffnung, dass Täter um Entschuldigung bitten und sich bessern, bleibt auch hier ungestillt.

Mary Gaitskill lässt Vieles in ihrem Buch offen. Auch bleiben die Perspektiven anderer Frauen unbeschrieben und werden nicht moralisch interpretiert. Diese auf zwei Dimensionen beschränkte Sicht kann man ihr vorwerfen, sie beleuchtet aber vielschichtig, differenziert und mit genauem Einfühlungsvermögen völlig neue Aspekte und lässt der Leserschaft ausreichend Raum zur eigenen Beurteilung. Die Erfahrungen der bedrängten Frauen stellt sie in keiner Weise ins Abseits, nur weil sie sich auf diese komplizierte Freundschaft konzentriert.

Sehr detailliert zeigt Gaitskill, dass Quin ein unbelehrbarer, selbstgerechter und vor allem egozentrischer Typ ist, der nichts von #metoo verstanden hat. Umso mehr ist „Das ist Lust“ ein beeindruckendes, wichtiges Buch, weil es eine Debatte am Leben hält, die der egozentrische Quin wohl als vorübergehenden „Trend“ definieren würde. Dass #metoo eine Frage ist von „Wie wollen wir in der Gesellschaft zusammenleben?“, lässt Sexisten wie ihn völlig kalt. Nicht zuletzt die öffentlichen Vorwürfe von sexualisierter Gewalt in der Deutschrap-Szene unter dem Hashtag #deutschrapmetoo machen jedoch deutlich, dass MeToo eine notwendige Debatte ist. Gaitskill zeigt, wie Literatur Antrieb und Projektionsfläche dafür sein kann. Bitte mehr davon!

Mary Gaitskill: Das ist Lust, Blumenbar im Aufbau-Verlag, Berlin, 2021, 128 Seiten, gebunden, mit ausklappbarem Vorsatz, 18 Euro, ISBN 978-3351050825, Leseprobe

Seitengang dankt dem Aufbau-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Was Frauen nicht wollen

Wer den Erzählband „Ihr Körper und andere Teilhaber“ der US-amerikanischen Autorin Carmen Maria Machado gelesen hat, bleibt mit Gefühlen von Leere, Wut, Beschämen, aber vor allem mit Ratlosigkeit zurück. Denn allen Geschichten ist gemein, dass es im Grunde keine (Er-)Lösung, keine Antwort gibt, nur ein alles beherrschendes Thema: Die oft erschreckende Lebensrealität von Frauen und welches Leid sie und ihre Körper erfahren müssen.

In den acht Geschichten geht es schlichtweg um Macht und das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen. In „Der Extrastich“ muss sich eine Frau ihres übergriffigen Mannes erwehren, der nicht akzeptieren will, dass er das seltsame, grüne Band, das sie um ihren Hals trägt, nicht lösen darf. Eine andere Frau, Opfer eines gewalttätigen Übergriffs, stellt fest, dass sie die Gedanken von Schauspielern in Pornofilmen hören kann. Andere verblassen oder lassen sich in ihre Ballkleider einnähen. Eine Frau muss im Wochenbett mit anhören, wie ihr Mann den Arzt fragt, ob der die Vagina seiner Frau nach dem Dammriss nicht noch enger zunähen könne.

Das Buch erschien in den USA Ende 2017; wenige Tage später kamen die Vorwürfe gegen Harry Weinstein ans Licht, er habe zahlreiche Frauen vergewaltigt oder sexuell belästigt. Es folgte die MeToo-Bewegung, und Machados literarisches Debüt erschien als mehr als treffsicherer Kommentar zu den Diskussionen. Den Erfolg ihres Buches nur darauf zu reduzieren, würde aber die hohe literarische Qualität verleugnen. Die New York Times setzte „Ihr Körper und andere Teilhaber“ im Jahr 2018 auf die Liste von „15 bemerkenswerten Büchern von Frauen, die im 21. Jahrhundert die Art und Weise, wie wir Fiktion lesen und schreiben, prägen“.

Bemerkenswert – diese vorsichtig zum Lob anstimmende Meinung werden viele Leser unterschreiben können. Auch jene, die von den allzu phantasiereichen Darstellungen verwirrt oder abgestoßen sind. Manchenorts erinnert Machado an Melissa Broder und ihren ersten märchenhaften Roman „Fische“ (zur Rezension). Dann und wann ist „Ihr Körper und andere Teilhaber“ verstörend oder voller Horror, aber fast immer ist dieses Buch einfach nur brillant und originell. Wie sie über das (teilweise queere) Lieben und Leben mit Männern und Frauen schreibt, über Sex und Verlangen, Körper und Brutalität, ist sonderbar, bizarr, immer sehr deutlich und ohne falsche Scheu, aber auch oft herzerwärmend.

Dem Band ist ein Zitat der Poetin Elisabeth Hewer vorangestellt, das gleich zu Beginn deutlich macht, was hier zu erwarten ist: „Gott hätte Frauen zu Gifttieren machen sollen, als er aus Männern Monster machte.“ Machados Erzählband ist ein erschreckender Erlebnispark, aus dem es kein Entrinnen gibt, denn auch die Jobs der Karussellbremser sind hier allesamt mit Männern besetzt, die einem leise Angst machen und die Kehle zuschnüren.

Machado hat in den USA viel Aufmerksamkeit erregt, und sie hat noch so viel mehr davon auch in anderen Ländern verdient. Offen und mutig für den Feminismus eintretend, so sind die literarischen Stimmen, die diese Welt für Frauen positiv verändern können. Machados ist darunter eine der lautesten und beeindruckendsten.

Carmen Maria Machado: Ihr Körper und andere Teilhaber, Tropen Verlag, Stuttgart, 2019, 300 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3608503975, Leseprobe

Master James und die Dame von Welt

Eine Dame von WeltDer US-amerikanische Schriftsteller Henry James wäre wohl in Deutschland langsam in Vergessenheit geraten, wenn es sich nicht ein paar wenige Verlage in den vergangenen Jahren zur Aufgabe gemacht hätten, ihn immer wieder zu verlegen. Zuletzt hat der Aufbau-Verlag die Salonerzählung „Eine Dame von Welt“ von ihm veröffentlicht, ein kleines Büchlein, geeignet für die ersten zarten Bande, die ein Leserherz zu diesem Autor knüpfen kann. Die Gelegenheit, ihn (wieder) zu entdecken, bietet auch der Kalender: Heute vor 100 Jahren ist James gestorben.

James war und ist dafür bekannt, dass er in seinen Werken mit Vorliebe die Gegensätze zwischen der „Alten Welt“ Europa und der „Neuen Welt“ Amerika und die unterschiedlichen Verhaltensweisen thematisierte. Als „Eine Dame von Welt“ entstand, galt er bereits als führender Schriftsteller seiner Generation und hatte den Ruf eines zukünftigen Erfolgsautors. Zwei Jahre zuvor waren „Washington Square“ und „Bildnis einer Dame“ (beide 1881) erschienen. Die britische Schriftstellerin Rebecca West, die eine Studie über James verfasst hat, bezeichnete „Washington Square“ als Übergangsroman in James‘ Werdegang. Und die Biographin Hazel Hutchison schreibt in ihrem 2015 veröffentlichten Buch über James: „Nach ‚Washington Square‘ war James gerüstet, ein Meisterwerk zu schaffen.“

Hutchison meint damit nicht „Eine Dame von Welt“, und auch James selbst, der seine Texte sehr kritisch beurteilte, hielt es eher für eine „arme kleine Geschichte“, wie in dem aufschlussreichen Nachwort des Übersetzers Alexander Pechmann zu lesen ist. Dabei ist „Eine Dame von Welt“ eine raffinierte, ausgefeilte und durchdachte Geschichte über Moralvorstellungen sowie die Erwartungen von Männern und Frauen an die Rolle der Frau in der Gesellschaft.

Kein Kind von Traurigkeit

Durch Zufall trifft der wohlhabende Amerikaner Littlemore im Pariser Theater der Comédie-Française auf eine alte Bekannte aus San Diego, Mrs. Headway, der er selbst auch einst zugetan war. Mrs. Headway ist bisher kein Kind von Traurigkeit gewesen, mehrfach verheiratet und skandalumwittert kommt sie nun nach Paris, um einen Weg in die feine Gesellschaft zu finden. Ein junger Mann namens Arthur Demesne macht ihr bereits den Hof, zweifelt aber noch an ihrer Ehrbarkeit. Mrs. Headway hofft, dass Littlemore ihr als Gewährsmann zur Seite steht. Nur mit einem ernst zu nehmenden Fürsprecher, glaubt sie, werde die europäische Aristokratie sie anerkennen.

Der Übersetzer Alexander Pechmann sieht in der „Dame von Welt“ ein satirisches Spiegelstück zu James‘ „Daisy Miller“, jenes Werk, das ihn so schlagartig bekannt gemacht hat. Darin reist ein junges, naives Mädchen aus Amerika nach Europa und entdeckt die „Alte Welt“ staunend, etwas planlos, aber mit schonungsloser Ehrlichkeit. Die „Dame von Welt“ dagegen ist für Pechmann das offensichtlich gegensätzliche Modell: eine mehrfach geschiedene Frau, die schon einige Skandale hinter sich hat, und nun nach Europa kommt, mit dem Plan, in der Gesellschaft anerkannt zu werden. „Daisy Miller“ ende als Tragödie, „Eine Dame von Welt“ dagegen sei eher eine Komödie. Dabei verhehlt Pechmann nicht, dass überhaupt nicht bekannt ist, ob James die „Dame von Welt“ wirklich als Gegenentwurf zu „Daisy Miller“ entworfen hat.

Tatsächlich aber muss man dem Übersetzer zumindest insofern beipflichten, als dass ohne „Daisy Miller“ die „Dame von Welt“ wohl nicht entstanden wäre. Denn mit Daisy hat er zunächst einen völlig neuen Typus von Romanheldin geschaffen: Waren seine Helden zuvor von moralischer Gewissenhaftigkeit geprägt, setzte sich „Daisy Miller“ erfrischend darüber hinweg, indem sie gesellschaftliche Konventionen naiv missachtete, es ihr aber trotzdem nicht an Moral mangelte. Aufgrund ihrer Jugendlichkeit durfte sie naiv ihre Erfahrungen sammeln.

Stellung der Frau in der Gesellschaft

Mrs. Headway dagegen hat in „Die Dame von Welt“ bereits umfangreiche Erfahrungen gemacht und sich bislang ebenfalls nicht um Konventionen geschert. Nun aber steht auch bei ihr die Ehrbarkeit in Frage, eine Eigenschaft, die heute seltsam anmutet, aber damals eine ungeheure Bedeutung hatte. Eine Frau war (auch für britische und amerikanische Autoren) damals nur dann ehrbar, wenn sie in der Lage war, die idealisierte Rolle der Frau und Mutter zu erfüllen. James sah das inzwischen anders. Seine Biographin Hazel Hutchison schreibt: James‘ „Freundschaften mit unkonventionellen Frauen wie Alice Mason und Fanny Kemble, lehrten ihn, dass etwas falsch war an der gegenwärtigen Stellung der Frau in der Gesellschaft – und dies war ein ergiebiges Thema für seine Literatur“.

„Eine Dame von Welt“ ist deshalb nicht nur als mögliches Spiegelbild zu „Daisy Miller“ zu lesen, sondern auch als beachtenswerte Novelle eines Feministen. Zudem ist es ein interessantes Zeugnis von James‘ eigenen Erfahrungen mit der englischen Gesellschaft und dem Kreis der amerikanischen Exilanten in London und Paris.

Sprachlich hat Pechmann das ganz vortrefflich übersetzt – von einer Schrecklichkeit abgesehen. Gleich zu Beginn heißt es im Original: „‚So do you – or very charming – it’s the same thing,‘ Littlemore answered, laughing, and evidently wishing to be easy.“ Pechmann übersetzt das erschreckenderweise so: „‚Sie ebenfalls – oder sehr bezaubernd, was dasselbe ist‘, lachte Littlemore und wünschte sich offenkundig, wirklich entspannt zu sein.“ Es wird wohl schwierig sein, einen Satz zu lachen. Wenn der Übersetzer dessen dennoch mächtig sein sollte, darf er das dem Rezensenten gerne einmal vortragen!

Sollte man nun „Eine Dame von Welt“ lesen? Unbedingt! Und damit nicht genug, dieses Jahr sollten Sie nutzen, um das Werk von Henry James für sich zu entdecken. „Eine Dame von Welt“ ist ein angenehmer Beginn – von dort lässt es sich wunderbar im Werk vor und zurück reisen. Die Ausgabe des Aufbau-Verlags kommt in einem gelben, flexiblen Leineneinband daher, umschlossen mit einer Banderole, dazu ein farblich passendes, gelbes Lesebändchen. Allenfalls ein stabiler Leineneinband hätte den optischen und vor allen haptischen Eindruck noch verbessert.

Henry James: Eine Dame von Welt – Eine Salonerzählung, Aufbau Verlag, Berlin, 2016, 176 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen und Banderole, 16,95 Euro, ISBN 978-3351036348, Leseprobe

Seitengang dankt dem Aufbau-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

12 Frauen

AnnaliederWelche Entdeckung ist diese Autorin! Ein gutes Dreivierteljahr, nachdem Nadine Kegele bei der Lesefestwoche Wien aus ihrem Debütwerk „Annalieder“ vorgelesen hat, stellt sich das Gefühl der Hochachtung schnell wieder ein. Der Erstling, endlich vollständig vom Rezensenten gelesen, ist so tief beeindruckend wie schwierige Kost, aber nicht für jedermann geeignet.

„Annalieder“, das sind zwölf Erzählungen über zwölf Frauen, von denen Anna nur eine ist. Diese Geschichten sind allesamt keine Lieder, die man vergnügt trällern würde, obgleich sie Momente der Komik haben. Es sind vielmehr Melodien, die zu nachdenklichen Chansons taugen, viel Moll, einige Misstöne, scheinbar Unpassendes dazwischen, wie ein Klavierspieler, der zu viele Tasten auf einmal trifft.

Die Frauen in Kegeles Geschichten stecken mitten drin. Im Leben, im Schlamassel, im Auf- oder Ausbruch. Die eine schneidet sich versehentlich die Brustwarze auf, als sie mit dem Rasierer in der Hand nach dem Duschgel greift. Die andere kämpft mit den erzkonservativen Vorstellungen ihres Mannes, der eine Schlagbohrmaschine nicht in der Hand einer Frau sehen möchte und meint, Schwangere dürfen nicht verreisen.

Vaterfiguren zum Partner

Eine sucht sich Vaterfiguren zum Partner („Warum keinen Vater suchen, wenn man einen Vater vermisst, hatte sie geantwortet und mit dem Arm über ihren Mund gewischt.“), eine andere ist Prostituierte und mag nicht mehr.

Kegeles Frauen sind verwundet, ob nun tatsächlich blutend wie eine aufgeschnittene Brustwarze oder seelisch. Es geht um den alltäglichen Kampf der Geschlechter, das ewige „Mann und Frau“, das noch immer nicht gleichberechtigt ist. Es geht aber auch um Scham und existenzielle Fragen.

Schwangerschaft ist ebenso ein großes Thema bei Kegele. „Mir tut es immer leid, wenn sichtlich schwangere Frauen im Publikum sitzen und ich diese Geschichten vortrage“, sagte sie bei ihrer Lesung in Wien. Aber eine Mutterschaft sei etwas Schwieriges, wo Frauen viel abverlangt werde.

Man muss sich mit den Erzählungen beschäftigen

Auch dem Leser wird einiges abverlangt, vor allem Konzentration. Manch einer mag sagen, dieses Büchlein zu lesen, sei Arbeit. Ja, das ist es vielleicht, aber mehr im Sinne von Beschäftigung. Man muss sich mit diesen Erzählungen beschäftigen, denn so lapidar Kegele auf den ersten Blick schreibt – wer die Wörter nur überfliegt, könnte die Landebahn für den Sinn verpassen.

Kegele schreibt nicht nur, sie richtet an. Da finden Sätze plötzlich kein Ende, sodass man meint, man habe Unfertiges vor sich. Die Sprache ist so beschädigt wie die Heldinnen der Erzählungen. Das muss man nicht mögen, aber man kann es. Es sind Kunst-Erzählungen. Nicht über Kunst, sondern mit Kunst. Gekonnt.

Das haben auch andere schon erkannt: Die junge Vorarlberger Autorin, die mit 18 nach Wien kam und dort nach dem Zweiten Bildungsweg Germanistik, Theaterwissenschaften und Gender Studies studierte, ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Unter anderem ist sie die Publikumspreisträgerin des Bachmann-Preis-Wettbewerbs 2013.

Kegele schreibt wie Kegele

Neue Autoren werden gerne mit großen Namen verglichen. „Schreibt wie Proust.“ „Denkt wie Aristoteles.“ „Erinnert an Hemingway.“ Hier mal was Neues: Kegele schreibt wie Kegele. Sie braucht keine großen Namen und Vergleiche.

Wer sich ihr und ihrem Werk erst mal vorsichtig und mit Bedacht nähern möchte, dem sei ihre Homepage empfohlen. Auch bei Twitter kann man ihr folgen. Außerdem hat sie für die Literaturseite zehnSeiten.de aus „Annalieder“ vorgelesen. Das Video ist noch bei YouTube abrufbar.

Am 25. August erscheint im Wiener Czernin Verlag der erste Roman von Nadine Kegele („Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“). Für eine Passage aus diesem Buch hatte Kegele im vergangenen Jahr den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs gewonnen.

Der Textauszug war innerhalb der Jury höchst umstritten, wie auf der Internetseite des Bachmann-Preises nachzulesen und zu sehen ist. Dem Publikum aber scheint er gefallen zu haben. Ob Kegele auch einen ganzen Roman so kunstfertig schreiben kann, und ob dem Leser auch das zusagt, bleibt indes abzuwarten.

Nadine Kegele: Annalieder, Czernin Verlag, Wien, 2013, 112 Seiten, gebunden, 17,90 Euro, ISBN 978-3707604467, Leseprobe

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