Im Jahr 2019 veröffentlicht der New Yorker erstmals Mary Gaitskills Novelle „This is Pleasure“. Sie ist der Versuch einer literarischen Auseinandersetzung mit der MeToo-Debatte und erzählt vom übergriffigen Verhalten eines US-amerikanischen Verlegers, von Machtmissbrauch, Sexismus und Machismo. Im April 2021 ist „Das ist Lust“ auf Deutsch erschienen.
Quinlan M. Saunders, kurz: Quin, ist der bekannte und gefeierte Leiter eines angesehenen New Yorker Verlagshauses. Seit Jahren im Geschäft, erfolgsverwöhnt, einflussreich. Bonvivant, Mann von Welt, Marke „Grab them by the Pussy“. Während Donald Trump diesen Satz 2005 stolz und triumphierend von sich gab, würde Quin über sich selbst nie in dieser Art und Weise sprechen. Quin prahlt nicht mit seinen Übergriffen, sondern er hält sie für das Ergebnis eines grundlegenden, neckischen Spiels zwischen Mann und Frau. Er glaubt, er habe die seltene Gabe, Menschen – vor allem natürlich: Frauen – nur anschauen zu müssen, um zu verstehen, was ihr Innerstes ausmacht. Quin hält sich für emotional schwer intelligent und überprüft sein Können bei jeder sich bietenden Gelegenheit, oft gut versteckt unter einem dünnen Überwurf aus Höflichkeit.
Im Central Park begegnet er einer in Melancholie versunkenen Frau und raunt ihr zu: „Sind Sie nicht eine sanfte Seele!“ Sie antwortet: „Und sind Sie nicht eine aufmerksame Seele. Dass Ihnen das auffällt!“ Sie sprechen eine Weile, dann lädt er sie zum Tee ein. Sie geht mit.
„Und dann ihre Klitoris berühren. Das ist Lust.“
Später erzählt er seiner guten Freundin Margot, die er seit fünf Jahren kennt, von der Begegnung. Quin, der zu diesem Zeitpunkt kurz vor seiner eigenen Hochzeit steht, lässt Margot an seinen Einsichten teilhaben. Der Provokateur erklärt ihr, dass diese Frau aus dem Central Park es sicher schätzen würde, wenn man ihr weh täte. „Eigentlich sehnt sie sich nach Zuneigung. Man könnte ihr mit … keine Ahnung, mit einer Tischtenniskelle den Hintern versohlen? Und dann ihre Klitoris berühren. Das ist Lust.“
In kurzen Kapiteln beschreiben Quin und Margot, immer im Wechsel, die Entwicklung aus ihrer Perspektive. Bezeichnenderweise hat Margot das erste Wort, Quinn aber das letzte. Margot zweifelt an sich und ihrer Freundschaft zu Quin. Darf sie mit ihm noch befreundet sein, obgleich sie weiß, wie er sich gegenüber anderen Frauen verhält? Steht sie nicht auf jenem schmalen Grat schon zu weit auf der falschen Seite, wenn sie den uneinsichtigen Quin auch noch verteidigt und seine guten Seiten hervorhebt (die er zweifelsohne hat)? Darf sie ihm gegenüber noch loyal sein, ist Verteidigung erlaubt oder wäre das verwerflich?
Margot, ebenfalls Verlegerin, macht sich über die Tischtenniskellen-Anekdote noch gemeinsam mit ihrem Mann lustig – und über den kauzigen Freund, der ein bisschen esoterisch, ein wenig pervers ist, aber doch eigentlich niemanden etwas zu leide tut. Heute, 15 Jahre später, sieht Margot die Sache anders, reflektierter. Jetzt ist ihr bewusst, wie falsch Quins Verhalten war. Und sie selbst hat es zu Beginn ihrer Freundschaft am eigenen Leib erfahren.
Hoffnung bleibt ungestillt
Sie war nicht die erste, und die Frau aus dem Central Park nicht die letzte. Jetzt aber haben Frauen den Mut gefasst, von den sexuellen Belästigungen und Übergriffen des alternden Verleger-Stars zu berichten. Die #metoo-Bewegung, die sich weltweit verbreitet, bestärkt sie darin. Quin wird gekündigt. Selbstreflexion oder gar Reue beim ihm? Keine Spur. Die Hoffnung, dass Täter um Entschuldigung bitten und sich bessern, bleibt auch hier ungestillt.
Mary Gaitskill lässt Vieles in ihrem Buch offen. Auch bleiben die Perspektiven anderer Frauen unbeschrieben und werden nicht moralisch interpretiert. Diese auf zwei Dimensionen beschränkte Sicht kann man ihr vorwerfen, sie beleuchtet aber vielschichtig, differenziert und mit genauem Einfühlungsvermögen völlig neue Aspekte und lässt der Leserschaft ausreichend Raum zur eigenen Beurteilung. Die Erfahrungen der bedrängten Frauen stellt sie in keiner Weise ins Abseits, nur weil sie sich auf diese komplizierte Freundschaft konzentriert.
Sehr detailliert zeigt Gaitskill, dass Quin ein unbelehrbarer, selbstgerechter und vor allem egozentrischer Typ ist, der nichts von #metoo verstanden hat. Umso mehr ist „Das ist Lust“ ein beeindruckendes, wichtiges Buch, weil es eine Debatte am Leben hält, die der egozentrische Quin wohl als vorübergehenden „Trend“ definieren würde. Dass #metoo eine Frage ist von „Wie wollen wir in der Gesellschaft zusammenleben?“, lässt Sexisten wie ihn völlig kalt. Nicht zuletzt die öffentlichen Vorwürfe von sexualisierter Gewalt in der Deutschrap-Szene unter dem Hashtag #deutschrapmetoo machen jedoch deutlich, dass MeToo eine notwendige Debatte ist. Gaitskill zeigt, wie Literatur Antrieb und Projektionsfläche dafür sein kann. Bitte mehr davon!
Mary Gaitskill: Das ist Lust, Blumenbar im Aufbau-Verlag, Berlin, 2021, 128 Seiten, gebunden, mit ausklappbarem Vorsatz, 18 Euro, ISBN 978-3351050825, Leseprobe
Seitengang dankt dem Aufbau-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
Das Buch „Der Raum, in dem alles geschah“ ist als eines der wichtigsten Trump-Enthüllungbücher angekündigt worden, die in diesem Jahr auf den Markt kommen. Doch der mehr als 600 Seiten dicke Wälzer über die Erlebnisse und Eindrücke des ehemaligen Nationalen Sicherheitsberaters John Bolton liest sich wie ein ermüdendes, minutiöses Sitzungsprotokoll – und verrät zu wenig über das hinaus, was bereits bekannt ist. Neben dem viel zu detaillierten Blick hinter die Kulissen entlarvt Bolton nicht zuletzt seine eigene charakterliche Ähnlichkeit zu Donald Trump.
John Bolton war 519 Tage lang Sicherheitsberater im Weißen Haus. Er gilt als umstrittener, konservativer Hardliner und Vertreter einer aggressiven militärischen Außenpolitik. Zur Zeit der Präsidentschaft von George W. Bush war Bolton Berater im US-Außenministerium und propagierte zum Beispiel intensiv den Einmarsch der US-Truppen in den Irak. Zuvor war er bereits für George Bush und Ronald Reagan tätig. Er ist scharfer Kritiker der Vereinten Nationen, setzte sich für das Recht ein, dass Privatpersonen weltweit Schusswaffen tragen dürfen und war langjähriger Kommentator des rechten US-Nachrichtensenders Fox News, der es mit der Wahrheit nicht so ernst nimmt und zu Trumps Lieblingssendern gehört. Erst im April 2018 übernimmt Bolton den „zweitbesten Job“ als Nationaler Sicherheitsberater. Eigentlich wollte er Außenminister werden.
Dass rund 17 Monate seit Trumps Wahlsieg im November 2016 vergehen sollen, bevor Bolton der Regierung beitreten darf, scheint ihn getroffen zu haben. Anklänge der kopflosen Hinhaltetaktik finden sich im ersten Kapitel mit dem Titel „Der lange Marsch zu einem Eckbüro im West Wing“. Am 17. November 2016 nimmt der Reigen seinen Anfang. Trump ruft Bolton an und erklärt vielsagend: „Wir werden Sie in den nächsten Tagen hier bei uns haben, und wir ziehen Sie für eine Reihe von Möglichkeiten in Betracht.“ Thanksgiving ruft Trumps Schwiegersohn und Chefberater Jared Kushner an: „Donald ist ein großer Fan von Ihnen, wie wir alle.“ Bolton sei durchaus noch im Rennen für den Posten des Außenministers. Tage, Wochen und Monate vergehen, während sich das Personalkarussell weiterdreht. Ein republikanischer Stratege empfiehlt Bolton zwischenzeitlich, „zu versuchen, der letzte Mann zu sein, der noch steht“. Bolton hat Kontakt zu Vize-Präsident Mike Pence, Reince Priebus (vorübergehend Trumps Stabschef), Steve Bannon (vorübergehend Chef-Stratege im Weißen Haus), Rex Tillerson (vorübergehend US-Außenminister) – und immer wieder auch zu Donald Trump, der ihn regelmäßig um Rat fragt.
„Einige von denen denken, Sie sind der böse Bulle“
Boltons eiserne Ausdauer wird belohnt. Im April 2018 kommt es zum Schulterschluss der beiden Männer, den wohl kaum ein Wortwechsel am Telefon besser belegen kann, als dieser: Trump: „Einige von denen denken, Sie sind der böse Bulle.“ Bolton: „Wenn wir ‚guter Bulle / böser Bulle‘ spielen, ist der Präsident immer der gute Bulle.“ Trump: „Das Problem ist, dass wir zwei böse Bullen haben.“
Bolton schreibt dazu: „Und ich konnte hören, wie die anderen, die im Oval zur Geheimdienstbesprechung waren, lachten, genau wie ich.“ Doch die gelöste Stimmung weicht bei Bolton bald der sicheren Gewissheit, dass Trump das Land nicht wie ein erwachsener Präsident führt, sondern wie ein Kind auf der Suche nach dem größten, eigenen Nutzen. Erschüttert diagnostiziert er Trumps Defizite beim Intellekt und Allgemeinwissen. So soll er Bolton gefragt haben, ob Finnland zu Russland gehöre. Trump ist auch längst nicht der Hardliner, für den Bolton ihn anfangs wohl gehalten hat. Trump rasselt lieber nur mit dem Säbel, während der Militarist Bolton ihn im Zweifel auch einsetzen würde, zum Beispiel bei politischen Gegnern wie Nordkoreas Diktator Kim Jong Un. Trump setzte jedoch auf eine diplomatische Lösung.
Sprachlich und stilistisch keineswegs hervorragend
Das Meiste davon ist bereits überholt, berichtet, bekannt. Neben der überflüssig wortreichen sowie sprachlich und stilistisch keineswegs hervorragenden Protokollierung des politischen Geschehens lässt sich deshalb nicht viel essentiell Neues aus dem Buch entnehmen. Es fühlt sich an wie ein Dokumentarfilm, bei dem ein aufwendig produzierter Trailer schon die besten Szenen vorweggenommen hat.
Man muss sich wohl auch fragen, warum Bolton für zwei Millionen Dollar Honorar unbedingt dieses Buch schreiben, gleichzeitig aber partout nicht im Amtsenthebungsverfahren gegen Trump aussagen wollte, wenn die Demokraten ihn vorgeladen hätten. Bolton steht schon länger im Verdacht, dass er sich nur an Trump rächen und sein eigenes Ego stärken wollte. Die Journalistin Jennifer Szalai schreibt in ihrer Buchkritik in der New York Times: „Das Buch strotzt vor Selbstbewusstsein, obwohl es am meisten davon erzählt, dass Bolton nicht viel erreichen kann.“ Treffender geht es kaum.
Dass „Der Raum, in dem alles geschah“ in den USA dennoch zu einem Bestseller wurde, hat vor allem zwei Gründe: Zum einen „funktionieren“ Trump-Bücher auf dem Buchmarkt, gerade im Wahljahr. Amerika liebt und hasst den Präsidenten, und man kann so trefflich über ihn streiten. Die Verlage wissen darum und nutzen den Hype. Möglicherweise endet er in diesem November. Und einen besseren Veröffentlichungszeitpunkt als direkt zum Präsidentschaftswahlkampf hätte sich Bolton nicht aussuchen können. Zum anderen hat Trump selbst die Verkaufszahlen effektiv in die Höhe getrieben, als er Bolton einen Lügner nannte und die Regierung das Buch verbieten lassen wollte.
Überraschungsdeal in Deutschland
In Deutschland ist Boltons schwergewichtige Abrechnung am 14. August vom Kleinverlag „Das neue Berlin“ veröffentlicht worden. Die Berliner Verlagsgruppe Eulenspiegel, zu der der Verlag gehört und die aus früheren DDR-Verlagen hervorgegangen ist, hat damit einen wahren Überraschungsdeal hingelegt. Gegenüber der Fachzeitschrift Buchreport erklärte die zuständige Mitarbeiterin für Rechte und Lizenzen, sie seien selbst ein bisschen überrascht gewesen, dass sie den Zuschlag bekommen hätten, aber „wir wollten das Buch und haben schnell die Vorbereitungen für Übersetzung und Druck getroffen“. An manchen Stellen merkt man die notwendige Rasanz, mit der das deutsche Übersetzerteam über die Seiten fegen musste, damit der Verlag es weniger als zwei Monate nach der US-amerikanischen Veröffentlichung auf Deutsch auf den Markt bringen konnte.
Was hat „Der Raum, in dem alles geschah“ geändert? Im Grunde nichts. Die Republikaner im Kongress ignorieren die in immer neuen Büchern deutlich manifestierte Faktenlage für Trumps Unvermögen, Planlosigkeit und Ich-Bezogenheit – und so erging es auch Boltons mit Spannung und Furcht erwarteten Bericht aus der Schaltzentrale der Macht. In Bob Woodwards Buch „Rage“ (USA: 15. September; Deutsch: „Wut“, 19. Oktober) werden ebenfalls neue brisante Details veröffentlicht. Und wieder wird man sich fragen: Wird es Trump schaden? Das Problem ist: Nach fast vier Jahren Trump-Regierung und zahllosen Büchern, Filmen und Artikeln über ihn hat sich eine gefährliche Gewöhnung eingestellt. Die Wahrheit überrascht nicht mehr. Nur eine Wahl kann jetzt noch etwas ändern.
John Bolton: Der Raum, in dem alles geschah, Das neue Berlin, Berlin, 2020, 640 Seiten, gebunden, 28 Euro, ISBN 978-3360013712, Leseprobe
Seitengang dankt dem Verlag „Das neue Berlin“ für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
Die österreichische Tageszeitung Kurier kündigte nichts Geringeres an, als dass Michal Hvorecky „die Zukunft“ vorstelle. Am vergangenen Donnerstagabend war mit ihm einer der wohl bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller der Slowakei anlässlich der „Buch Wien“ zu Gast im Literaturhaus Wien. Im Gepäck hatte Hvorecky seinen neuen Roman „Troll“, der im November im Tropen-Verlag erschienen ist.
Darin entwickelt der Autor eine düstere Science-Fiction-Geschichte über ein Heer von Internet-Trollen, das die Online-Kommentarspalten und die sozialen Medien mit Hass flutet, die Massen beeinflusst und die öffentlichte Meinung in die gewünschte Richtung lenkt. Was bedeutet noch die eigene Meinung, wenn Trolle von allen Seiten mit Hass feuern? Die EU ist in Hvoreckys Szenario zerschlagen, im Osten beherrscht eine Diktatur das sogenannte „Reich“. Zwei Freunde entwickeln jedoch immer stärkere Zweifel und beschließen, das System von innen heraus zu stören. Dabei geraten sie selbst in die Unkontrollierbarkeit der Netzwelt – und an die Grenzen ihres gegenseitigen Vertrauens.
„Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Hass im Netz“, erklärt Hvorecky in Wien. Die neuen Trolle haben mit den alten mythischen Figuren nicht mehr viel gemein. „Sie kennen keine Grenzen, sie wollen die Gesellschaft spalten und sind ziemlich real.“ 2015 habe er angefangen, das Buch zu schreiben, aber mit der Zeit sei seine Fiktion Realität geworden. Spätestens mit dem Mord an dem slowakischen Investigativjournalisten Ján Kuciak und dessen Freundin im Februar 2018.
„Dreckige, antislowakische Prostituierte“
Kuciak hatte versucht nachzuweisen, dass höchste Regierungsbeamte mit der italienischen Mafia zusammenarbeiten und hatte immer wieder kritisch über Oligarchen geschrieben. Der damalige Premierminister Robert Fico betitelte Kuciak und dessen unbequeme Journalistenkollegen daraufhin als „dreckige, antislowakische Prostituierte“ oder „schleimige Schlangen“. Wenig später war Kuciak tot – erschossen.
Ganze Trollfabriken betreiben mittlerweile professionelle Propaganda für ihre Auftraggeber. „Falsche Kommentare wie ‚Clooney hat sich entschieden, für Trump zu wählen‘ kommen leider bei Menschen gut an – ob sie stimmen oder nicht“, erklärt der Autor. „Trolle wollen die Menschen verwirren und verachten die Freiheit.“
Er selbst sei schon oft Opfer des Trollings geworden: „Die kommen zu meinen Veranstaltungen, machen grässliche Fotos von mir, die sie im Internet verbreiten, und gleichzeitig legen sie mir Sätze in den Mund, die ich nie gesagt habe.“ So unterstelle man ihm etwa , dass er sich islamistische Angriffe wünsche oder dass alle Menschen homosexuell werden. „Es dauert leider länger, eine Wahrheit zu beweisen, als eine Lüge zu verbreiten.“
Engagiert sich für die Pressefreiheit
Wie Kuciak, mit dem er befreundet war, ist auch Hvorecky Journalist. Er lebt in Bratislava und schreibt regelmäßig Beiträge für die FAZ, die Zeit und zahlreiche Zeitschriften. In seiner Heimat engagiert er sich für den Schutz der Pressefreiheit und gegen antidemokratische Entwicklungen.
Was die richtige Reaktion auf solche Digitalattacken sei, fragt ORF-Moderatorin Christa Eder. Ob es nicht besser sei, sich aus den sozialen Netzwerken ganz zurückzuziehen. „Nein“, antwortet Hvorecky entschieden, „das ist die falsche Richtung, stattdessen sollten wir die sozialen Netzwerke mit sinnvollen Inhalten füllen.“ Es wachse inzwischen eine Generation heran, die zur Information und Prägung ihrer Meinung nicht mehr die traditionellen Medien nutze, sondern Facebook & Co. Glauben schenken.
„Die sozialen Netzwerke haben unsere Zivilgesellschaft geschwächt“, ist sich Hvorecky sicher. Auf der anderen Seite aber hätten sich die Proteste in der Slowakei nach dem Mord an Kuciak vor allem über Facebook gebildet. Man dürfe die sozialen Netzwerke also nicht per se verteufeln. In jeder Generation müsse Demokratie neu gelernt werden, sagt Hvorecky: „Der Freiheitskampf ist nie beendet.“
Vertrauen in den Staat wiederherstellen
Im Fall der ermordeten Kuciak haben die Ermittlungen mittlerweile ergeben, dass ein Multimillionär und ehemaliger Nachbar des früheren Premierministers Fico möglicherweise den Auftrag gegeben hat, den Journalisten zu ermorden. Auch den hatte sich Kuciak zum Feind gemacht. „Ich will, dass die Täter verurteilt werden“, erklärt Hvorecky. Das sei wichtig, um das Vertrauen in den Staat wieder herzustellen. „Ansonsten bleibt der Eindruck, dass es Menschen gibt, die andere Rechte haben als ’normale‘ Menschen.“
Zum Ende der Lesung befasst sich Hvorecky mit der Eröffnungsrede der Philosophin Svenja Flaßpöhler und der von ihr aufgeworfenen Frage des richtigen Umgangs mit Rechts. Er habe die gekürzte Fassung in der SZ gelesen und stimme ihr zu. „Allerdings sind Diskussionen mit Menschen, die Diskussionen verachten, sehr mühsam.“ Jeder habe das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. „Lügen sind Lügen“, sagt er und wiederholt damit eine Äußerung der Heldin seines Romans: „Eine Lüge ist keine andere Meinung. Eine Lüge ist eine Lüge, und man muss über sie die Wahrheit sagen.“
Michal Hvorecky: Troll, Tropen Verlag, Stuttgart, 2018, 215 Seiten, gebunden, 18 Euro, ISBN 978-3608504118, Leseprobe
„Bei Sturm am Meer“ ist sein dritter Roman. Darin schickt er einen melancholischen Mittvierziger namens Benedikt auf eine überraschungsreiche Reise zu sich selbst. Nach dem Tod seiner Mutter muss der Marketingfachmann feststellen, dass seine Familiengeschichte eine andere war, als er sein Leben lang gedacht hat. Der Roman über zerplatzte Träume und lebenslange Lügen beginnt mit einem Brief, den Benedikt an seinen vierjährigen Sohn schreibt, während er in Amsterdam auf die Urne seiner Mutter Marlene wartet, deren Lieferung sich verzögert.
Benedikt erfährt im Laufe des Buches, dass viele der Lebensgeschichten, die er zu kennen glaubt, nicht stimmen, zum Beispiel dass sein Vater, ein Journalist, im Kampf gestorben sei. Selbstverständlich verbindet Blom die Geschichten von Benedikts Mutter und Großmutter mit den historischen Ereignissen – hier kann der Historiker Realität und Fiktion vermischen. Das sei auch einer der Vorteile beim Romaneschreiben, erklärt er: „In einem Sachbuch muss immer alles so gewesen sein, in einem Roman kann es so gewesen sein.“
„Das wird dann einfach nicht gut“
Aber es gibt auch Nachteile: „Das Romaneschreiben ist nicht lukrativ.“ Außerdem rate er Menschen, die glauben, sie trügen einen Roman in sich, den sie unbedingt aufschreiben müssten, dies nicht am Abend um 23 Uhr zu tun, wenn sie erschöpft von der Arbeit und den familiären Verpflichtungen sind. „Das wird dann einfach nicht gut – man muss sich dafür Zeit nehmen.“ Das erinnert an die Lesung von Cynthia D’Aprix Sweeney („Das Nest“, Klett-Cotta) im Literaturhaus Wien. Dort erklärte sie, sie habe erst am College „eine gewisse Priorisierung im Leben“ gelernt: „Denn wenn man auch noch familiäre Verpflichtungen hat, kann das Schreiben auf der To-do-Liste ganz schnell auf dem letzten Platz landen – ich aber habe gelernt, es ganz nach oben zu setzen.“
Weil das Buch auch viel im Hamburg der 1970er Jahren spielt und Blom dort geboren und aufgewachsen ist, wurde er gefragt, ob „Bei Sturm am Meer“ auch ein wenig die Geschichte seiner Familie erzähle. „Nun“, antwortete Blom, „Menschen, die mich ein bisschen kennen, werden vielleicht sagen: Aha!“ Aber seine Familie sei nicht die im Roman dargestellte Familie, er selbst habe auch andere Themen als der Protagonist seines Romans. „Aber die Geschichte baut vielleicht auf Themen auf, die in unserer Familie spielen.“
Gelesen hat Blom aus seinem aktuellen Buch nicht. Dafür blieb keine Zeit mehr, denn Moderatorin Alexandra Föderl-Schmid (Chefredakteurin des Standard) fragte den Schriftsteller aus aktuellem Anlass nach seiner Meinung zum Brexit und zur US-Wahl. Dafür war Blom nicht nur als Historiker und Journalist ein versierter Gesprächspartner, sondern auch deshalb, weil er ein Jahr in den USA und neun Jahre in England gelebt hat. Teilweise schreibt er seine Bücher auch zunächst auf Englisch und übersetzt sie dann selbst ins Deutsche. „Der Brexit hat mich wirklich überrascht“, sagte er. „Und bei der Wahl von Trump habe ich mich gefühlt, als hätte man mich mit einem Baseballschläger traktiert.“ Er habe gedacht, er schlafe einfach noch und wache irgendwann auf. „Aber das war so nicht.“
Gefährlich bei Wahlen
Manche vergleichen inzwischen die heutige Zeit mit der Weimarer Republik. Das sieht Blom aber nicht so: „Nein, wir leben nicht in der zweiten Weimarer Republik, aber noch eine Wirtschaftskrise wie 2008, dann leben wir in einer Weimarer Republik.“ Gefährlich bei Wahlen und damit auch bei der US-Wahl sei dieses „Irgendetwas muss sich doch ändern“-Gefühl der Wähler. „Auch hier in Europa verlieren die Menschen zunehmend die Hoffnung in die Gesellschaft und die Demokratie“, erklärte Blom weiter.
Von Föderl-Schmid darum gebeten, als Historiker in die Zukunft zu schauen und zu sagen, wie Europa im Jahr 2030 aussähe, antwortete Blom, das gerate wohl eher wie eine Wettervorhersage, denn kleine Faktoren könnten doch alles in eine andere Richtung bringen. „Im Moment sind Kräfte am Werk, die am Zerfall Europas arbeiten. Aber eigentlich hängt alles davon ab, wann das nächste 2008 kommt.“
Philipp Blom: Bei Sturm am Meer, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2016, 224 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3552058101, Leseprobe
Was macht einen guten Krimi aus und wie schreibt man ihn? Veit Heinichen hat dafür kein Patentrezept, wohl aber durch jahrelange Recherche ein riesiges Archiv angehäuft. „Irgendwann kommt dann der Gedanke, dass ich mich mit meinen Figuren beschäftige, und dann lasse ich sie aufeinander los – richtige Arbeit ist das nicht, ich folge ja nur meinen Figuren.“
Amelie Fried, die mit ihrem Mann Peter Probst eine Reihe von Kinderkrimis („Taco und Kaninchen“) geschrieben hat, hat nur einen einzigen Krimi für Erwachsene verfasst: „Der Mann von nebenan“ (1999). Kurz zusammengefasst erledigen drei Frauen zusammen einen Nachbarn. Erst versuchen sie es in der Badewanne, doch als sie seine Leiche im Wald beseitigen wollen, ist der Mann gar nicht tot. Ein Schlag mit einem Schraubenschlüssel beendet sein Leben dann doch noch, und die drei Frauen versenken die Leiche im See. Vorlage für den Nachbarn? Frieds tatsächlicher Nachbar, der die Familie so sehr genervt hat, dass sie schon an Umzug dachten. „Dann habe ich dieses Buch geschrieben, und es war die beste Rache meines Lebens.“ Das Buch wurde mit Axel Milberg als böser Nachbar verfilmt, „und ich wohnte in diesem bayerischen Dorf, und jeder wusste, wer gemeint ist“, erzählte Fried. Der Nachbar sei kurz danach weggezogen.
„Ein Traum von Mann“
Die österreichische Autorin Edith Kneifl baut beim Krimischreiben stets eine enge Bindung zu ihren Protagonisten auf. Als ehemalige Tischtennis-Landesmeisterin sei es ihr mal in den Sinn gekommen, dass einer der Männer doch bei einem Tischtennisturnier sterben könnte. „Ich habe eine Figur entworfen, einen Traum von Mann, sage ich Ihnen, der hat mir dann so gut gefallen, dass ich ihn nicht mehr umbringen konnte. Er wurde nur schwer verletzt.“ Und nach einer kurzen Pause: „Aber es sind andere Männer umgekommen.“ Dass ein Autor seine Figuren liebgewinnt, bestätigte auch Bernhard Aichner: „Ich liebe zum Beispiel meine Bestatterin Brünhilde Blum – sie bringt Menschen um.“ Ja, zuweilen ist es recht makaber, wenn sich Krimi-Autoren unterhalten.
Alle fünf Autoren sind zudem Serientäter, ihre Helden oder Mörder tummeln sich also in mehreren Büchern. „Aber wann bekommen diese Kerle ein Ablaufdatum?“, wollte Sichrovsky wissen. Für Thomas Raab hängt das mehr damit zusammen, ob ein Buch seine Leser findet: „Bei meinem ersten Buch habe ich nicht gedacht, dass das jemand lesen würde.“ Für Aichner dagegen war es klar, dass seine Bestatterin nur eine Überlebenszeit von drei Büchern haben würde: „Die kann ich jetzt auch gut ziehen lassen. Es ist zwar reizvoll, das weiterzumachen, weil es sich gut verkauft, aber ich wusste vor dem ersten Buch, wie das dritte aufhört, und danach ist Schluss.“ Kneifl: „Vor allem das Publikum und die Verlage wollen doch Serien – aber ich gebe zu, auch ich kann mich manchmal nicht trennen.“
Und Veit Heinichen? Dem schien eine Frage nicht aus dem Kopf zu gehen: „Ich glaube nicht, dass Amelies Nachbar weggezogen ist.“ Schon hatte Heinichen die Lacher wieder auf seiner Seite. Fried parierte und erzählte, sie und ihr Mann hätten ein Gartenhaus bauen lassen. „Kein Scherz, und die beiden polnischen Bauarbeiter, die von dem nervigen Nachbarn gehört hatten, haben uns angeboten, ihn für 2.000 Euro umzubringen. Und für 4.000 Euro auch die Leiche zu beseitigen.“ Heinichen: „Irgendwer muss mal das Beton-Fundament dieses Gartenhauses überprüfen…“ Wieder Gelächter.
Kürzlich das erste Grab ausgehoben
Auch über die Recherchearbeit für ihre Bücher sprechen die Autoren. Während Kneifl mit einem Arzt verheiratet ist und ihn gern schon am Frühstückstisch fragt, an welchen Körperstellen das meiste Blut spritzt („Mein Mann passt bei meinen Leichen immer auf!“), hat Aichner kürzlich sein erstes Grab ausgehoben: „Das war eine tolle Erfahrung, aber richtig harte Arbeit.“ Und in der Rechtsmedizin in Hamburg sei er bei einer Obduktion dabeigewesen, auch das sei sehr faszinierend gewesen. Raab wiederum recherchiert „Problemfälle“, wie er das nennt. „Ich habe beim Skifahren Schnee von einer Schneekanone ins Gesicht bekommen und dann beim Hersteller angerufen und gefragt, ob das, was vorne rauskommt, rot würde, wenn man hinten jemanden reinsteckt.“ Interessant sei auch gewesen, beim örtlichen Schwimmbad anzurufen und zu fragen, wie lange die Filteranlage braucht, um das Wasser nach einem Haiangriff wieder klar zu bekommen. „Danach wusste ich die ganze Lebensgeschichte des Mann, den ich da angerufen hatte.“ Heinichen: „Die Frage ist, woher wusste der Mann, wie lange die Filteranlage brauchen würde…“
Und welche Krimis würden die Autoren empfehlen, ihre eigenen ausgenommen? Veit Heinichen legt den Lesern Fjodor Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ bzw. „Schuld und Sühne“ (ältere Übersetzungen) ans Herz, Edith Kneifl nennt Patricia Highsmiths „Die zwei Gesichter des Januars“, Bernhard Aichner mag gern die Adamsberg-Reihe von Fred Vargas und Thomas Raab empfiehlt den „Kameramörder“ von Thomas Glavinic.
Bernhard Aichner: Interview mit einem Mörder. Ein Max-Broll-Krimi, Haymon Verlag, Innsbruck, 2016, 288 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3709971338, Leseprobe
Amelie Fried: Ich fühle was, was du nicht fühlst, Heyne-Verlag, München, 2016, 400 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3453265905, Leseprobe
Veit Heinichen: Die Zeitungsfrau, Piper-Verlag, 2016, 352 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3492057585, Leseprobe
Edith Kneifl: Totentanz im Stephansdom, Haymon Verlag, Innsbruck, 2015, 264 Seiten, Taschenbuch, 12,95 Euro, ISBN 978-3709978337, Leseprobe
Thomas Raab: Der Metzger, Droemer Knaur, München, 2016, 336 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3426281369, Leseprobe
Die „Buch Wien“ 2016 war damit für mich beendet, am Sonntag, dem letzten Messetag, habe ich bereits die Heimreise angetreten. Wie in den vergangenen Jahren werde ich in den nächsten Tagen noch ein persönliches Fazit liefern. Einigermaßen sicher aber ist schon, dass ich auch im nächsten Jahr wieder von der „Buch Wien“ berichten werde. Bleiben Sie mir gewogen!
Von dort nämlich stammt die Fischerstochter Elena. Sie ist nach New York gekommen, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Ray dagegen ist ein erfolgloser Künstler, der noch immer auf den Durchbruch hofft. Insgeheim versucht er den Lebensweg zu nehmen, den sein Großvater für sich selbst erhoffte, als der 1899 nach Amerika auswanderte. Ausgerechnet am 11. September 2001 treffen Elena und Ray zufällig in einem Kellertheater aufeinander. „Sie nutzen die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich ihre Familiengeschichten zu erzählen und Nähe zu finden“, erklärte Florescu. Ob die Nacht damit zur Stifterin einer Beziehung werde, lasse er offen, aber sie müssten zunächst zu erzählen beginnen. Im Roman wechseln sich beide Figuren kapitelweise ab, jede Figur spricht für sich, für ihre Geschichte, aber auch für die ihrer Eltern und Großeltern.
Die Auswanderung und die Reise nach New York – immer wieder ist der Mensch in Florescus Büchern auf der Suche nach einem Platz, wo er ohne Angst und mit Würde leben kann. Sein sechster Roman scheint deshalb zur rechten Zeit zu erscheinen, denn auch jetzt sind wieder Hunderttausende auf der Flucht, um in Europa Schutz zu suchen. Damals dagegen, und das spielt in Rays Geschichte eine wesentliche Rolle, waren es Millionen aus Europa, die nach Amerika flüchteten. Hinter den Themen Flucht und Migration steht aber auch die persönliche Erfahrung des Autors, als der damals 15-Jährige im Jahr 1982 mit seiner Familie aus dem kommunistischen Rumänien floh.
Inbrünstig und mit Herzensliebe
Florescu war es deutlich anzusehen, wie sehr er seine Figuren und deren Geschichten liebt. Während er das zweite Kapitel des Buches las, in dem Elena zum ersten Mal zu Worte kommt, saß er recht weit vorne auf der Stuhlkante, dem Publikum nah, der Rücken gerade, als hebe er zum Rezitieren, nicht nur zum Vorlesen an. Wohl selten hat man einen Autor derart inbrünstig und mit Herzensliebe seinen Text vortragen sehen und hören. Vier Jahre hat er für seinen Roman recherchiert. Alles auf Englisch, sagte er und lachte, als er ein deutsches Wort versehentlich mit englischem Akzent aussprach.
Florescu sprudelt, er ist ein wahrer Erzähler, nicht nur in seinen Büchern. Die Lesung hatte noch nicht begonnen, da sprach er schon vorbeihastende Messebesucher an, sie mögen doch Platz nehmen, hier reise man nach New York. Die vorderen Plätze seien die erste Klasse, die hinteren die zweite und dritte Klasse. Er sprach davon, dass er zwar in Zürich lebt, aber in einem Multi-Kulti-Eck von Rumänien aufgewachsen sei, und dieses „Durcheinander der Kulturen“ habe auch seine Art zu schreiben beeinflusst. Florescu sieht den Künstler, den Schriftsteller als „guten Zeugen seiner Zeit“, der literarisch Zeugnis ablege, mit Gefühlen und großem Herzen. Das war ihm deutlichst anzumerken, denn dieser Autor trägt sein Herz auf der Zunge.
Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt, C. H. Beck, München, 2016, 327 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3406691126, Leseprobe
Am Abend las nicht nur die US-amerikanische Autorin Cynthia D’Aprix Sweeney (Loriot hätte an diesem Namen seine Freude gehabt!) aus ihrem zum Bestseller gewordenen Debütroman „Das Nest“, sondern sie hatte auch noch den deutschen Schauspieler Johann von Bülow („Nach fünf im Urwald“, „Tatort“, „Mord mit Aussicht“) im Schlepptau. Der las die deutsche Übersetzung in einer Vortrefflichkeit, dass es eine Wonne war, ihm zu lauschen. Nicht umsonst hat von Bülow (der übrigens ein entfernter Verwandter von Loriot ist) die Hörbuchfassung des Romans eingelesen.
Das Buch handelt von den vier Geschwistern Melody, Jack, Bea und Leo. Sie alle sind in den Vierzigern, stehen mitten im Leben und haben immer gewusst, dass sie eines Tages erben würden. Also, sagen wir es so: sie haben damit gerechnet. Was aber, wenn die Erbschaft ausbleibt? Was geschieht mit den Träumen, die sie hatten? Was ist mit dem Geld, das sie bereits ausgegeben haben, weil sie sich zu sicher waren? Denn ihre Mutter hat das Geld kurzerhand gebraucht, um dem Playboy Leo aus einer Notlage zu helfen. Die Geschwister sind außer Rand und Band und lassen erzürnt den alten Groll untereinander wieder aufleben. Agatha Christie hätte daraus vermutlich einen Fall für Miss Marple oder Hercule Poirot gemacht. D’Aprix Sweeney aber schreibt damit den Roman einer dysfunktionalen Familie, legt genüsslich den Finger in so manche Wunde, ein bisschen böse, aber vor allem scharfsinnig und sehr humorvoll.
„Das Nest“ ist D’Aprix Sweeneys erster Roman. Im Literaturhaus Wien erzählte sie, wie sie in den späten 20er Jahren ihres Lebens eine vage Idee vom Romaneschreiben hatte. Sie sei immer eine große Leserin gewesen, habe auch Autoren und Journalisten gekannt, aber was sie selbst damals zu Papier gebracht habe, seien allenfalls halbherzige Versuche gewesen. „Ich dachte, es sei eher meine Rolle, andere Autoren zu unterstützen und zu ihren Lesungen zu gehen und ihre Bücher zu kaufen, nicht aber, selbst zu schreiben.“
Studium im kreativen Schreiben
Erst als die Kinder im College-Alter waren und die Familie nach Los Angeles zog, wollte sie eine andere Arbeit haben (zuvor hat sie 27 Jahre als PR-Beraterin in New York City gearbeitet) und versuchte es dann mit dem Schreiben. Sie nahm ein Studium im kreativen Schreiben am Bennington College auf, das sie mit dem Master of Fine Arts (MFA) abschloss. Während des Studiums begann sie bereits mit dem „Nest“. Das Wichtigste, was sie am College gelernt habe, seien das Einhalten von Abgabeterminen und Struktur gewesen. „Und eine gewisse Priorisierung im Leben, denn wenn man auch noch familiäre Verpflichtungen hat, kann das Schreiben auf der To-do-Liste ganz schnell auf dem letzten Platz landen – ich aber habe gelernt, es ganz nach oben zu setzen.“
Der Erfolg gibt ihr Recht. „Das Nest“ (der Originaltitel heißt unglaublicherweise „The Nest“ – ein Glücksgriff in der Titelübersetzung!) ist ein wahrer Verkaufshit. Seit es im Frühjahr in Amerika und nun auch auf Deutsch erschienen ist, erklimmt es die Bestsellerlisten, auch die der New York Times (Platz 3). Auch in Deutschland wird es bejubelt: „Die Amerikanerin Cynthia D’Aprix Sweeney hat einen hinreißenden und klugen Familienroman geschrieben … glänzende Unterhaltung und ein literarischer Wurf“, urteilt etwa Denis Scheck in der ARD-Sendung Druckfrisch.
D’Aprix Sweeney reagiert bescheiden, wenn sie gefragt wird, warum sie glaube, dass das Buch so einschlage. In Wien sagte sie, es sei ein Glücksfall gewesen und es treffe offenbar einen Nerv: „Dieses Buch gibt den Menschen die Möglichkeit, mit den Menschen, die sie mögen, über Geld zu reden.“ An der Schnittstelle zwischen Familien und Geld komme es unweigerlich zu Streitigkeiten, wenn die Geschwister sich nicht leiden können. „Und man muss seine Familie nicht lieben, nur weil sie Familie ist. Natürlich haben wir eine Verantwortung als Menschen, uns zu kümmern und freundlich zueinander zu sein, aber nicht nur deshalb, weil man sich die DNA teilt.“
„Tradition des zivilen Ungehorsams“
Zum Ende der Lesung sprach Moderator Klaus Nüchtern D’Aprix Sweeney auf die US-Wahl an. Für sie sei es seltsam gewesen, erklärte sie, weil sie zu der Zeit in Deutschland auf Lesereise gewesen sei. „Ich finde, etwas Schlimmes passiert in der Welt. Die Wahl von Donald Trump ist für mich sehr erschütternd, und das Ereignis hängt zusammen mit der Brexit-Entscheidung und den Hassäußerungen in Deutschland, Österreich und Frankreich. Es macht mir Angst.“ Aber: „Meine Hoffnung als US-Bürgerin und als Weltbürgerin ist, dass die Leute Angst genug bekommen, um dagegen zu protestieren und sich dem zu widersetzen. Wir haben in den USA eine Tradition des zivilen Ungehorsams, und ich hoffe, wir stehen jetzt wieder an der Schwelle dazu.“
Cynthia D’Aprix Sweeney: Das Nest, Klett-Cotta, Stuttgart, 2016, 410 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3608980004, Leseprobe