Buch Wien: Frédéric Beigbeder und der Skandal des Todes

Frédéric Beigbeder bei der "BuchWien". © LCM Foto Richard Schuster
Frédéric Beigbeder bei der „BuchWien“. © LCM Foto Richard Schuster

Ewige Zeiten schon haben die Menschen den Traum vom ewigen Leben. Vampire leben endlos, wenn ihnen niemand einen Holzpflock durchs Herz treibt, Dorian Gray bleibt für eine gewisse Zeit ewiglich jung, manch einer geht sogar einen Pakt mit dem Teufel ein. Das alles sind Gestalten der Literatur. Eine der Gegenwart aber ist der französische Star-Autor Frédéric Beigbeder. In seinem neuen Roman „Endlos leben“ sucht er das ewige Leben, wie es mit dem heutigen Stand von Medizin und Technik möglich ist. Bei der „Buch Wien“ stellte er in der vergangenen Woche seinen Roman vor.

„Papa, ich möchte nicht, dass du stirbst“, sagt die Tochter des 50-jährigen Erzählers eines Tages zu ihm. Er, der verblüffende Ähnlichkeiten mit seinem Autor Frédéric Beigbeder hat, beginnt, sich mit dem Tod zu beschäftigen und beschließt: „Von jetzt an stirbt niemand mehr.“ Er begibt sich auf Reisen, trifft Wissenschaftler und Ärzte und stellt den Forschungsstand dar.

In Wien erzählt Beigbeder, wie er in den drei Jahren, in denen er das Buch geschrieben hat, immer wieder „vollkommen absurde Wissenschaftler“ getroffen hat. „Jedes Mal, wenn ich mit einem Wissenschaftler gesprochen habe, habe ich ihn gebeten, mir einen anderen und wenn möglich einen noch abgedrehteren zu empfehlen, und die allerverrücktesten sitzen in Kalifornien, in San Diego. Da gibt’s vollkommen absurde Institute, wo die Medizin dann schon eher ins Sektentum mündet.“ Da gibt es zum Beispiel ein Institut, das älteren Menschen das Blut von jungen Menschen injiziert wird, wodurch man angeblich verjüngt. Kosten: schlappe 8.000 Dollar am Tag. Vampirismus sei dort an der Tagesordnung, koste aber natürlich auch einiges. „Dort ist meine anfängliche Begeisterung wirklich in Angst umgeschlagen.“

Das Ende der Utopien gesehen

Das ewige Leben ist die älteste Utopie der Welt, und der Mensch kann nicht ohne Ideale leben, sagt Beigbeder. „Dabei gehöre ich eigentlich einer Generation an, die das Ende der Utopien gesehen hat. Ich habe den Sturz der Mauer und den Zusammenbruch des World Trade Centers miterlebt, das heißt ich gehöre einer Generation an, die eigentlich keine Ideale hat und keine Utopie.“

Beigbeder ist ein Fan von Büchern, in denen Helden „unmögliche Träume“ haben, erzählt er. Als Beispiele nennt er Don Quixote, Dorian Gray, Frankenstein und Dracula, „dieser berühmte Graf Dracula“. „Und deshalb ist es für mich ganz besonders wichtig, dass ich heute hier in Wien bin, in einer Stadt, wo die Gräfin Báthory Blutbäder genommen hat – sie hat wunderschöne Jungfrauen zerstückelt und in dem Blut gebadet, um daraus Ewigkeit zu erlangen.“ Wäre sie zuvor in Kalifornien gewesen, hätte sie gewusst, dass sie nicht im Blut baden, sondern es sich in die Venen spritzen lassen musste, sagt Beigbeder und lacht.

Auch in Österreich gebe es eine Klinik am Ufer des Wörthersees, wo er einige Zeit verbracht und Bluttransfusionen bekommen habe, um seinem Blut Sauerstoff und Mineralsalze zuzuführen. „Und ich habe einen roten Laser in die Venen gesteckt bekommen – das war eine äußerst interessante Erfahrung, denn angeblich bekommt dadurch das Blutplasma mehr Vitamin D.“ Wenn er dann auf die roten Reflexe des Lasers geblickt habe, sei er sich allerdings vorgekommen wie eine Discokugel. „Ich habe gedacht: das war schon immer mein Traum – ich bin jetzt wie eine Tanzfläche.“

„Ein fasziniertes Opfer“

Es sei aber ja tatsächlich so, dass die Wissenschaft heute zu unglaublichen Entdeckungen in der Lage sei. Insbesondere die Genetik eröffne völlig neue Perspektiven. Das Ziel seines Buches sei es auch gewesen, diese zu erforschen, erklärt Beigbeder, die DNA, die Veränderung und Transformation des Menschen zu einer Art anderen Wesen. Gleichzeitig wolle er diesen Wahnsinn aufzeigen, denn er habe immer angeprangert, welche Wahnsinnigkeiten in unserer Zeit passieren. „Ich bin also gleichzeitig ein fasziniertes Opfer davon und auch jemand, der davor warnt.“

Er habe ein „sehr leichtes Buch über das ernsteste Problem“ schreiben wollen. „Ich habe versucht, über den Tod zu sprechen, als sei er nur ein technisches Problem, das man ganz einfach mit medizinischen Entdeckungen verändern oder abschaffen.“ Er habe sich darüber amüsiert, dass er die Vor- und Nachteile des Todes in zwei Listen aufgeschlüsselt habe, als hätten wir die Wahl, es uns auszusuchen.

Die Lebenserwartung habe sich unglaublich verlängert: im Mittelalter war die durchschnittliche Lebenserwartung 30 Jahre, dann ist sie auf 50 Jahre gestiegen und mittlerweile liege sie bei 80 Jahren. „Warum sollte es dann nicht möglich sein, dass man die Lebenszeit verdoppelt oder verdreifacht bis 2050 oder 2100? Viele Ärzte halten das durchaus für möglich.“ Mit der Unsterblichkeit könnte man  mehr Bücher lesen, mehr Filme sehen, man könnte mehr Liebesgeschichten haben und mehr Reisen machen. „Und das ist eine Aussicht, die mich keineswegs erschreckt.“

„Für mich ist der Tod ein Skandal“

Eigentlich sei das Versprechen des ewigen Lebens die Rolle der Religion gewesen, macht Beigbeder im Alten Rathaus von Wien deutlich: „Aber wir haben inzwischen Mediziner statt Priester, wir haben Biochemiker und Stammzellenforscher, die uns alle dasselbe versprechen, und das ist das Thema meines Buches. Warum hasst der Mensch den Tod so sehr? Und auch ich kann den Tod nicht akzeptieren, ich kann dem nichts Interessantes abgewinnen, ich habe keine Lust selbst zu sterben und will auch nicht die sterben sehen, die ich liebe. Ich habe keine Lust alt zu werden, krank zu werden, kurzum: für mich ist der Tod ein Skandal.“

Darauf angesprochen, ob es nicht zu Platzproblemen auf Erden führen würde, wenn niemand mehr stirbt, sagte Beigbeder: „Das ist natürlich ein Problem, das ich noch gar nicht bedacht habe, als ich meinen Roman geschrieben habe, aber tatsächlich müssten wir wohl, wenn wir jetzt 300 Jahre alt werden, unsere Geburtstagsfeiern in Stadien veranstalten.“Man müsse allerdings auch beachten, dass diese Langlebigkeit der Menschen nur einer gewissen Elite vorbehalten wäre.

„Alle diese Methoden, das Leben zu verlängern, kosten Unsummen und ein riesiges Vermögen – daher werden die Menschen weiterhin sterblich sein, und nur eine kleine Elite wäre unsterblich.“ Im Grunde sei das keine Utopie, sondern ein Albtraum. In den drei Jahren, in denen er recherchiert habe, sei aus seiner anfänglichen Begeisterung nicht mehr sehr viel übrig geblieben, wiederholt er. „Sie hat sich in einen Schrecken verwandelt, denn wenn wir wirklich dieses längere Leben anstreben, dann müssen wir gleichzeitig auf unser Menschsein verzichten“, sagt Beigbeder.

Die Frage sei doch, warum man den Menschen überhaupt verbessern und ihm ein längeres Leben geben wolle. „Ist der Mensch nicht schön in seiner Imperfektion, in seiner Unvollendung und so, wie er ist?“, fragt Beigbeder. „Alle diese Menschen, die versuchen, das Leben zu verlängern, die mögen den Menschen, so wie er ist, nicht. So wie er ist in seinem Provisorischen, in seiner Fragilität, in seiner Kurzlebigkeit, mit all seinen Fehlern.“ Und genau darum gehe es in seinem Roman über einen Menschen, der versucht, diese Verbesserungen zu erreichen, der aber irgendwann mal erkennt, dass es besser ist, sich selbst mit all seinen Fehlern zu akzeptieren.

Frédéric Beigbeder: Endlos leben, Piper Verlag, München, 2018, 352 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3492059237

 

 

Frankenstein, der unsterbliche Mythos

Einen der bedeutendsten und grandiosesten Schauerromane der Weltliteratur haben wir dem verregneten Sommer 1816 zu verdanken. Weil in Genf kein Nachtleben möglich war, versammelte sich eines Abends eine illustre Runde britischer Touristen um ein loderndes Holzfeuer und erzählte sich Gruselgeschichten. Unter den Gästen befand sich auch die damals 18-jährige Mary Godwin. Eineinhalb Jahre später, sie hatte mittlerweile Percey Shelley geheiratet, erschien ihr Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“.

Zum 200. Geburtstag des Wissenschaftlers Frankenstein und seines berühmt gewordenen Monsters in Menschengestalt hat jetzt der britische Historiker Christopher Frayling, eine anerkannte Instanz in Sachen Schauerliteratur und Horrorfilmen, eine fantastische Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte sowie der Auswirkungen des Romans auf die populäre Kultur verfasst.

Mary Godwin verbrachte den Sommer 1816 mit ihrem zukünftigen Ehemann Percy Shelley und ihrer Stiefschwester Claire Clairmont bei dem englischen Dichter Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori in der Schweiz. Lord Byron hatte in Cologny am Genfersee, rund zwei Meilen von Genf entfernt, die Villa Diodati gemietet, von der man einen herrlichen Blick über die Ostküste des Sees gehabt hätte – wenn das Wetter nicht so schlecht gewesen wäre.

Das Jahr ohne Sommer

Das Jahr 1816 ging als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte ein. Verursacht wurde es durch den Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815, der mehr Staub in die Atmosphäre schleuderte als jeder andere Ausbruch eines Vulkans zuvor. Dieser Sommer war ausgesprochen kalt, regnerisch und stürmisch, und die Reisenden waren meist im Haus gefangen. Die ummauerte Stadt Genf schloss ihre Tore pünktlich um 10 Uhr abends und „keine Bestechung (wie in Frankreich) kann sie öffnen“, schrieb Mary Godwin in ihr Notizbuch.

Wie also sollte man sich die Zeit vertreiben? Die Freunde trafen sich des Abends am Kamin, philosophierten und stritten über wissenschaftliche Errungenschaften der damaligen Zeit oder lasen sich gegenseitig Gespenstermärchen vor. Eines Abends kam Lord Byron auf die Idee, jeder aus der Runde solle eine eigene Geschichte erzählen. Dr. Polidori sorgte mit seiner Erzählung „Der Vampyr“ für allerlei Schrecken in der Runde, noch bevor Bram Stoker sich „Dracula“ ausdenken konnte.

Niemand glaubte an einen Erfolg des Buches

Und Mary Godwin, mit ihren zarten 18 Jahren bereits eine sehr belesene junge Frau, schockierte die Schicksalsgemeinschaft mit ihrer Erzählung über die Erschaffung eines künstlichen Menschen. Mit Unterstützung ihres Mannes Percy Shelley brachte Mary am Neujahrstag des Jahres 1818 schließlich den Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ heraus, in einer Auflage von 500 Exemplaren und ohne Namensnennung der Autorin. Niemand glaubte an einen Erfolg des Buches, dabei war das Sujet durchaus modern zu jener Zeit.

Anfang des 19. Jahrhundert hatte das Zeitalter der Elektrizität begonnen. Die erste Batterie war erfunden (die sogenannte Voltasäule), Wissenschaftler wie Luigi Galvani forschten mit Froschschenkeln an Muskelkontraktionen durch elektrischen Strom, und der Schweizer Uhrmacher Pierre Jaquet-Droz und sein Sohn Henri-Louis verblüfften die Öffentlichkeit mit ihren automatischen Figuren, die schreiben, Klavier spielen sowie Augen und Kopf bewegen konnten.

In „Frankenstein – Die ersten zweihundert Jahre“ ordnet Christopher Frayling die Entstehungsgeschichte von „Frankenstein“ in den historisch-wissenschaftlichen Kontext ein, legt dar, welche Bücher Mary Shelley gelesen hat, mit welchen Wissenschaftlern sie sich beschäftigte und zeigt anschaulich den heutigen Stand der Literaturforschung über den Ursprung von Mary Shelleys „Frankenstein“. Faszinierend dabei ist auch der Faksimile-Nachdruck der frühesten bekannten Manuskriptversion der Schöpfungsszene.

Frankenstein kommt ins Kino

Aber „Frankenstein“ ist nicht nur eine Weltliteratur gewordene Schauergeschichte, „Frankenstein“ wurde zu einem Mythos und nahm schon bald den Weg in die populäre Kultur. 1823 wurde der Stoff erstmalig fürs Theater adaptiert, wo Mary Shelley diese Bearbeitung auch gesehen haben soll. Im Jahr 1910 dann die erste filmische Bearbeitung der „Edison Studios“, bevor 1931 „Frankenstein“ mit Boris Karloff in der Rolle des Monsters in die Kinos kam. Maskenbildner Jack Pierce brauchte damals täglich zwischen vier und sechs Stunden, um aus dem Schauspieler das Ungeheuer zu machen, mit dessen Äußerem jahrzehntelang jeder Frankensteins Monster verband oder bis heute verbindet.

Auch in diesem Teil des großformatigen Bandes von Christopher Frayling bleibt die Lektüre erhellend, was wohl auch daran liegt, dass Frayling ein wahrer Horrorfilm-Fan ist. In seinem Nachwort schreibt er, dass er „verspätet“ jenem unbekannten Mitarbeiter im „Plaza Cinema“ in London dankt, der ihn als 11-Jährigen in eine Vorstellung des erst ab 18 Jahren freigegebenen Films „Frankensteins Rache“ schlüpfen ließ und „unwissentlich einen tiefen Samen gepflanzt hat“.

Inbegriff der Grenzüberschreitung

Frayling zeigt im umfangreichen Bildteil des Buches die visuelle Entwicklung und ständige Neubelebung des Frankenstein-Themas in zahlreichen Filmen, Comics, Theaterstücken, Musicals, TV-Serien, Werbeplakaten, Briefmarken und Plastikspielzeug. Frankenstein ist allgegenwärtig und thematisch aktuell wie eh und je: Er bleibt der Inbegriff der Grenzüberschreitung, die Wissenschaftler stetig anstreben – ohne dass sie auch immer erstrebenswert scheint. Oder wie Frayling selbst umreißt: „Der wahre Schöpfungsmythos der Neuzeit (…) ist nicht mehr Adam und Eva im Garten Eden“, der „wahre Schöpfungsmythos ist ‚Frankenstein'“.

Der reich illustrierte Band ist ein ausgezeichneter Start in das Frankenstein-Jubiläumsjahr, dem neben Neuveröffentlichungen des Romans weitere Bücher, Filme und andere Produkte folgen werden. Christopher Frayling gelingt es hervorragend, erzählerisch mitreißend und dabei ohne akademisch-trockenen Ton ein kulturelles Phänomen von der stürmisch-elektrischen Geburtsstunde bis heute darzustellen. Mehr geht kaum.

Christopher Frayling: Frankenstein – The First Two Hundred Years, Reel Art Press, London, 2017, 208 Seiten, gebunden, 39,95 Euro, ISBN 978-1909526464 (englischsprachige Ausgabe)

Die deutschsprachige Ausgabe (ISBN 978-3981889017) erscheint voraussichtlich im August 2018, ebenfalls im Verlag Reel Art Press.

Seitengang dankt dem Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Stephen King leiht sich Frankenstein

RevivalDer neue Roman „Revival“ von Stephen King wird als die Rückkehr des Horror-Meisters beworben. Der Horror in diesem Buch aber tönt nur leise, und schon das macht den Roman um einen gottvergessenen Prediger so lesenswert. Es ist vor allem aber auch eine richtig gute Erzählung. Warum King der Literatur-Stempel immer noch verwehrt bleibt, ist nicht zu verstehen.

Der Roman beginnt im Oktober des Jahres 1962. Während die Kubakrise in vollem Gange ist, lässt Jamie Morton bei seinen Plastiksoldaten lieber die Krauts gegen die Amerikaner antreten. Jamie ist sechs Jahre alt, als an jenem Tag im Oktober erstmals ein Schatten auf ihn fällt, der ihn sein ganzes Leben begleiten wird. „Ich blickte auf und sah einen Mann vor mir stehen. Weil sich die Nachmittagssonne hinter ihm befand, war er eine von goldenem Licht umgebene Silhouette – eine menschliche Sonnenfinsternis.“

Den Schatten wirft der junge Charles Jacobs, der soeben der neue Pfarrer der methodistischen Gemeinde in Harlow geworden ist. Fortan füllt er die Kirche wieder mit Gläubigen und verblüfft seine kleinen Zuschauer in der wöchentlichen Jugendgruppe mit kleinen Wundern. Jamie und die anderen Kinder erkennen jedoch schnell, dass die Wunder nichts anderes sind als Zaubertricks. Die Jesusfigur etwa, die den Anschein macht, als würde sie über einen See laufen, nutzt dafür eine kleine Führungsschiene, die unter dem seichten Wasser mit blauer Farbe verborgen ist.

Elektrizität und Spielereien

Jamie und Jacobs freunden sich an. Gleich am ersten Tag lädt Jacobs seinen jungen Freund zu sich ins Pfarrhaus ein und weiht ihn dort in sein großes Hobby ein: Die Elektrizität und allerlei damit verbundene, technische Spielereien. Er erfindet Batterien, Lichtschranken und natürlich den Wasser überquerenden Jesus. Mit seinen elektrischen Gerätschaften kann er sogar Jamies Bruder heilen, der für Monate seine Stimme verloren hatte.

Jamie ist fasziniert, während die meisten anderen Jungs wesentlich angetaner sind von Jacobs Frau Patsy, deren blonder Schopf beim Orgelspielen immer so schön hin und her wippt, und die auch ansonsten eine durchaus hübsche Erscheinung ist: „(…) und ich bekam einmal mit, wie mein Bruder Andy – der damals wohl auf die vierzehn zuging – sagte, sie über den Platz laufen zu sehen, sei eine ganz eigene religiöse Erfahrung.“ Die Mädchen wiederum sind völlig vernarrt in Jacobs zweijährigen Sohn Morrie (die Jungs nennen ihn dagegen nur „Morrie, das Klettchen“). Und die Erwachsenen, ja, die sind ihrerseits begeistert, dass sie endlich wieder einen ausgebildeten Pfarrer in ihrer Gemeinde haben.

In „Revival“ zeigt Stephen King einmal mehr, dass er ganz außerordentlich in der Lage ist, die kindliche und jugendliche Sicht der Dinge zu erzählen. Mit einem Lächeln in der Sprache, dass man meinen könnte, er habe auch beim Schreiben dieser Passagen unaufhörlich lächeln mögen. Bis der Horror das erste Mal sein Antlitz zeigt, kurz, nur ganz kurz. Denn eines Tages reißt ein grausiger Verkehrsunfall Jacobs Frau Patsy und ihren gemeinsamen Sohn Morrie aus dem Leben, von King mit drastischen Bildern beschrieben.

Mit Groll und tödlichem Zorn

Jacobs kann den Verlust seiner Frau und seines Sohnes nicht verwinden. Am darauf folgenden Sonntag liest er eine Messe, die seitdem als die „Furchtbare Predigt“ über die Gemeindegrenzen hinaus bekannt ist. Darin listet Jacobs Fall um Fall auf, in denen Gott seine Schäfchen nicht beschützt, sondern offenbar mit Groll verfolgt und mit tödlichem Zorn vernichtet hat. Jacobs Jesus hat jegliche Führungsschiene verlassen. Den Job ist Jacobs aber auch los, denn nach dieser Predigt muss er die Gemeinde verlassen.

Nun dauert es, bis Jacobs Schatten das nächste Mal auf Jamie fällt. Der Leser folgt Jamie auf dem Weg durch die Highschool und die erste Liebe. Aus dem kleinen Jungen wird ein mittelmäßiger Rock-Gitarrist, und falls das Buch jemals verfilmt wird, hat Stephen King dermaßen viele Anspielungen auf berühmte und weniger bekannte Rock-Songs gemacht, dass der Soundtrack zum Film mehrere Tonträger umfassen könnte. Viele der erwähnten Songs finden sich übrigens auch im Repertoire der Band „Rock Bottom Remainders“, in der Stephen King selbst hin und wieder Gitarre spielt. Ein Stephen-King-Fan hat sich die Mühe gemacht und eine YouTube-Playlist zusammengestellt, auf der nahezu alle bei „Revival“ erwähnten Songs zu finden sind. Leider sind einige davon in Deutschland nicht aufrufbar, aber der Rest intensiviert das Leseerlebnis.

„Revival“ trägt auch autobiografische Züge, denn Jamie Morton wird bald drogenabhängig, wie auch Stephen King einst drogen- und alkoholabhängig war. In seinem lesenswerten Interview mit dem Musikmagazin Rolling Stone (Ausgabe 245 / März 2015) erklärt King, er erkenne sich selbst in der Figur des Jamie wieder: „Jamie ist ein Bursche, der nach einem Motorradunfall süchtig wird – so wie ich nach meinem Unfall ein Drogenproblem bekam.“ Im Jahr 1999 wurde King bei einem Spaziergang von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Um die Schmerzen zu betäuben, nahm er ein starkes, süchtig machendes Schmerzmittel ein. Aber schon zuvor habe er um 1978/1979 herum ein heftiges Alkoholproblem gehabt. „Ich musste pro Abend eine ganze 24er-Kiste verputzt haben und sagte mir: Du bist Alkoholiker.“ Ab 1978 sei er dazu noch kokainsüchtig geworden („Zwischen 1978 und 1986 war ich voll drauf“) und habe mit „Das Monstrum“ eines seiner schlechtesten Bücher geschrieben.

Elektrisches Wunder

Auch Jamie Morton ist „voll drauf“. Soeben aus der Band geworfen, tapert er, ausgemergelt und pleite von der Drogensucht, eines Tages ganz zufällig in einen kleinen Laden mit Elektrogeräten. Inhaber des Ladens ist – wie sollte es anders sein – Charles Jacobs. Der bringt Jamie auf die Beine und zurück ins Leben, erneut mit einem elektrischen Wunder, das stärker als das bisher erlebte ist. Jacobs lernt dazu, tüftelt weiter und tingelt schließlich mit seinen Zaubereien über die Jahrmärkte. Raffinierterweise lässt King seinen versessenen Reverend auch auf jenem Jahrmarkt arbeiten, der Schauplatz für seinen früheren Roman „Joyland“ gewesen ist.

Jamie und Jacobs Wege kreuzen sich immer wieder, doch Jamie graust es mehr und mehr vor der Verwandlung seines einstigen Freundes. Der widmet sich nämlich plötzlich einer Karriere als Fernseh-Prediger und Heiler, während er glaubt, Religion sei nichts anderes als ein großes Blendwerk. Mit seiner „Revival“-Show tourt er durch Amerika und lässt Blinde wieder sehen, Taube wieder hören und Menschen an Krücken und aus Rollstühlen wieder beschwerdefrei gehen. Das ist auch der Moment, in dem der leise Horror wieder einkehrt.

Wie sehr die Gläubigen nach Wundern lechzen und bereit sind, dafür ihr letztes Geld auszugeben, beschreibt King sehr eindrücklich. Auf der anderen Seite zeigt er auch die erschreckende Wesensveränderung des ehemals beliebten Reverend, der nur ein Ziel vor Augen hat: Die geheime Elektrizität zu entschlüsseln und für ihn nutzbar zu machen, nur um einen Blick hinter die Mauern des Todes zu werfen.

„Es lief mir kalt den Rücken hinunter“

King spielt dabei deutlich mit Mary Shelleys „Frankenstein“-Mythos. Das bekennt er in dem bereits erwähnten Interview mit dem Rolling Stone, als er gefragt wird, wann er die Idee für „Revival“ gehabt habe: „Schon in meiner Jugend. Auf der Highschool las ich ‚The Great God Pan‘, und darin gibt es zwei Männer, die gespannt darauf warten, ob die Protagonistin von den Toten zurückkehren kann oder nicht. Bei dieser Geschichte lief es mir kalt den Rücken hinunter. Und je mehr ich im Lauf der Jahre darüber nachdachte, desto mehr kristallisierte sich dieser ganze Mary-Shelley-Frankenstein-Komplex von ‚Revival‘ heraus.“ Im Roman aber findet sich ebenfalls ein kleiner, wenn auch versteckter Hinweis: Als es zum alles entscheidenden Experiment kommt, heißt die wichtigste Person nicht etwa Jamie Morton oder Charles Jacobs, sondern Mary Fay. Und deren Mutter soll eine geborene Shelley gewesen sein.

Kings Frankenstein aber erschafft nicht nur ein Monster, sondern viele. Denn jede von Jacobs‘ Heilungen sorgt zwar vordergründig für eine Verbesserung des Lebens, aber im Unterbewussten lauern Monster, die besser nicht geweckt worden wären. Um es mit einem berühmt gewordenen Zitat aus dem Film „Acht Millimeter“ zu sagen: „Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel. Der Teufel verändert dich.“ Ähnlich verhält es sich mit der scheinbar heilenden Elektrizität des Charles Jacobs.

Stephen Kings neuer Roman „Revival“ ist ein erzählerisch dichtes Werk und ein Schmöker bester Güte. Wie schon in „Joyland“ beweist King auch hier erneut, dass er Charaktere erschaffen kann, die einem Leser so sehr ans Herz wachsen, dass man sie am Ende ungern gehen lassen möchte. Dies ist kein Buch, das man nach dem Lesen wieder verkauft oder weiter verschenkt, denn man weiß, dass der Tag kommen mag, an dem man es wieder lesen möchte. Und dann muss es parat stehen.

Fehlende Bereitschaft zur korrekten Grammatik

Was bei übersetzten Büchern aus dem Heyne Verlag allerdings immer wieder ein Ärgernis ist, ist die fehlende Bereitschaft zur Verwendung der korrekten Grammatik des Hochdeutschen. Hier wird der Rezensent nicht müde werden, auf dieses Manko aufmerksam zu machen. Dass in den südlichen Bereichen Deutschlands im Zusammenhang mit der Präposition „wegen“ der Dativ statt des Genitivs verwendet wird, sollte keine Grundlage bei der Übersetzung ins Deutsche sein. So muten nämlich Passagen in Büchern wie „Revival“ seltsam an, wenn Charles Jacobs dem sechsjährigen Jamie erklärt, dass ein Satz wie „Denen, wo sich selber helfen“ grammatikalisch nicht korrekt sei, er aber eine Seite weiter selbst plötzlich grammatikalisch falsch spricht: „Ihr wisst schon, wegen seinem Unfall.“ Und das ist leider kein Ausnahmefall.

Das aber sollte letztlich niemanden davon abhalten, „Revival“ zu lesen, denn neben der unsauberen Grammatik bleibt es dennoch ein packender und lesenswerter Roman.

Stephen King: Revival, Heyne Verlag, München, 2015, 512 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, ISBN 978-3453269637, Leseprobe

Die Zitate aus dem Rolling Stone-Interview entstammen der deutschen Übersetzung aus der deutschen Magazin-Ausgabe (März 2015). Das Interview führte der US-Autor Andy Greene für die amerikanische Ausgabe des Rolling Stone im Jahr 2014. Veröffentlicht wurde es am 31. Oktober 2014. Zum Zeitpunkt der Rezension ist das Interview im Internet nur auf Englisch vollständig abrufbar.

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