Buch Wien: „Ganz am Ende gibt’s einen Schnaps, und dann ist wieder alles gut“ (Valerie Fritsch)

Valerie Fritsch (l.) im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. © Christian Lund
Valerie Fritsch (l.) im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. © Christian Lund
Den Donnerstag der diesjährigen Buch Wien hätte man getrost auch in den „Fritsch-Tag“ umbenennen können, denn der Verfasser dieses Blogs sah den Höhepunkt nicht etwa in einem weiteren Auftritt von Adolf Muschg, sondern sowohl in der Lesung der herzerreichenden österreichischen Autorin Valerie Fritsch als auch im gemeinsamen Auftritt mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch am frühen Nachmittag.

Valerie Fritsch ist längst keine Unbekannte mehr. Spätestens seitdem der Suhrkamp-Verlag Anfang März 2015 ihren Roman „Winters Garten“ (Leseprobe) veröffentlicht hat, ist das Schriftstellerkollegium und die Literaturkritik von der jungen Autorin und ihrer Sprache begeistert. „Was macht Valerie Fritsch im Rest ihres Lebens, wenn sie jetzt schon so gut ist?“, fragt der Schweizer Autor Jürg Laederach. Und der österreichische Schriftsteller und Büchner-Preisträger Josef Winkler äußert sich frenetisch jubelnd: „Ich bin beglückt. Da kann man Gift oder Gegengift drauf nehmen, ich bin mir sicher, dass mit Valerie Fritsch ein Prosatalent in der österreichischen Gegenwartsliteratur aufgetaucht ist, von dem man noch viel hören wird.“

Winters Garten, das ist nicht nur „der Sehnsuchtsort, an den der Vogelzüchter Anton mit seiner Frau Frederike nach Jahren in der Stadt zurückkehrt“, wie der Verlag im Klappentext schreibt. Winters Garten ist auch der buchgewordene Wildwuchs von Valerie Fritschs Großmutter. Ein wilder Garten, den sie als Kind geliebt hat, obwohl die Großmutter in Kärnten „eigentlich ein böser Mensch“ war, bekennt Fritsch im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. Ohnehin sei die Natur für sie ein „großer Kraftquell“. Sie sei schon mit einem großen Urvertrauen auf die Welt gekommen, sagt sie. „Mir fehlt die Angst, ich könnte nicht mehr zurückkommen.“ Dabei ist sie nicht nur Autorin, sondern als Photokünstlerin auch Weitgereiste und furchtlose Entdeckerin der gefährlicheren Ecken dieser Welt. Nur eines macht sie bange: „Ich habe totale Angst vor Schlangen.“ Sie müsse nur eine in der Zeitung sehen, dann beschleunige sich schon ihr Puls.

Bis zur Erschöpfung parat stehen

Schonungslos ehrlich ist Valerie Fritsch aber vor allem dann, wenn sie offenbart, dass der ihr zuteil gewordene Erfolg sie nicht nur anfangs überrascht und gefreut hat, sondern mittlerweile auch müde mache: „Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal in meinem Bett geschlafen oder mit Menschen etwas unternommen habe, die ich wirklich kenne.“ Sie spricht davon, bis zur Erschöpfung immer parat zu stehen für die Leser, die Fans, den Verlag. Ständig auf Lesereise, ständig unterwegs, kaum im geschützten Raum der Familie, bei ihrem Hund, den sie so sehr liebt und der ihr Herzenswärme gibt. Und auch am Ende dieses Messetages wird ihre Stimme angeschlagen sein, weil sie aus ihrem Werk gelesen, gute und schlechte Fragen beantwortet und natürlich eifrig Bücher signiert und mit den Lesern geplaudert hat.

Aber auch das Romaneschreiben sei „Knochenarbeit“, sagt Valerie Fritsch. Gerade zum Ende eines Romans gerate sie in einen rauschartigen Zustand, in dem es nicht ungewöhnlich sei, dass sie frisch gewaschene Socken in den Kühlschrank lege oder ähnlich verquere Dinge tue. „Aber ganz am Ende gibt’s einen Schnaps, und dann ist alles wieder gut.“ Wer Valerie Fritsch beim Vorlesen zuhört („Winters Garten“ bei zehnseiten.de), läuft Gefahr, in einen ähnlichen Rausch zu geraten. Man möchte an ihren Lippen hängen, ihre eindringlichen Worte in sich aufsaugen dürfen, um sie für sich zu behalten und in passenden Augenblicken der Stille wieder hervornehmen zu können.

Valerie Fritsch: Winters Garten, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2015, 154 Seiten, gebunden, 16,95 Euro, ISBN 978-3518424711

Gudrun (l.) und Valerie Fritsch bei der Lesung ihres gemeinsamen Lyrikbandes. © Christian Lund
Gudrun (l.) und Valerie Fritsch bei der Lesung ihres gemeinsamen Lyrikbandes. © Christian Lund
Wer sie überhaupt soweit gebracht hat, daraus macht Valerie Fritsch keinen Hehl: „Meine literarische Sozialisation begann mit den Vorlesestimmen meiner Eltern, der familiären Vertonung kleiner Welten, vollgestopft mit verrückten Persönlichkeiten und sprechenden Tieren, die – stets auf Krawall gebürstet – zu großen Abenteuern loszogen“, schreibt sie im Standard (7. November 2015). Es ist also wohl kein Wunder, dass sie mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch gemeinsam einen Lyrikband verfasst hat, der im Februar 2015 im Leykam-Buchverlag erschienen ist („Kinder der Unschärferelation“). „Diese Frau hat mir das Lesen und Schreiben und die Liebe zur Literatur beigebracht“, sagt Valerie Fritsch über ihre Mutter. Ist es also ein Geschenk der Tochter an die Mutter, die von sich selbst sagt, ihr Wunsch sei es immer gewesen, dass ihre Lyrik mal veröffentlicht wird? Nein, vielmehr ist es ein Geschenk untereinander, eine Art Familienlyrik, verfasst von den drei Frauen-Generationen der Familie Fritsch. Denn der Sammlung ist auch ein Gedicht von Valerie Fritschs Großmutter und Gudrun Fritschs Mutter beigefügt, ein Sterbegedicht, das bislang unveröffentlicht war. Sehr privat ist das, was wir lesen, Gespräche zwischen Müttern und Töchtern, aber auch gesellschaftliche Themen, verknappt mit den Worten der Lyrik.

„Es war sehr chaotisch“

„Wir hatten anfangs eine große Auswahl von Gedichten meiner Mutter, die ich in Kartons entdeckt habe – es war sehr chaotisch“, erinnert sich Valerie Fritsch schmunzelnd. In einigen Sommertagen habe sie dann ein paar Gedichte hinzugeschrieben, und so sei schnell der nun vorliegende Lyrikband entstanden. Familie, das macht Valerie Fritsch auch in diesem Gespräch deutlich, ist für sie, die sie oft monatelang unterwegs ist, der Herzenshafen, in den ihr Schiff immer wieder gern zurückkehrt: „Ich freue mich jedes Mal auf die Familie, auf den Hund, ja, vor allem auf die weichen Ohren des Hundes.“

Valerie Fritsch/Gudrun Fritsch: kinder der unschärferelation, Leykam-Buchverlag, Graz, 2015, 88 Seiten, broschiert, 14,90 Euro, ISBN 978-3701179619

Adolf Muschg stellt seinen Roman "Die japanische Tasche" vor. © Christian Lund
Adolf Muschg stellt seinen Roman „Die japanische Tasche“ vor. © Christian Lund
Es ist wahrlich schwer, einen passenden Übergang von den wohlig weichen Hundeohren zu Adolf Muschg zu finden, aber tatsächlich hielt der Schweizer nicht nur eine verschwurbelte Eröffnungsrede bei der Buch Wien 2015, sondern er war auch gekommen, um sein neues Buch „Die japanische Tasche“ (C.H.Beck-Verlag, Leseprobe) vorzustellen. Zentrales Motiv seines Romans sei „das Verschwinden einer Person“, sagte Muschg, nachdem er die Anfangsszene vorgelesen hatte. Darin berichtet er durchaus mit scharfer Beobachtungsgabe und feinem Witz, wie die Fahrgäste eines Zuges reagieren, der soeben einen Menschen überfahren hat. Diesen Vorfall habe er in eben jenem Zug selbst erlebt. „Wir wurden zu einer zusammengewürftelten Leichengesellschaft – die Leute fingen an zu reden und es gab diese merkwürdige Leichtigkeit, die sich einstellt, weil niemand den Getöteten gekannt hat.“

Dann aber verzettelt sich Muschg bei der Antwort auf die Frage nach dem Inhalt seines Buches. Er beginnt zu erklären, dass die Hauptfigur Historiker sei, und gerät darüber ins Fabulieren über Geschichte im Allgemeinen und Besonderen. Er schweift ab zum Kurz- und Langzeitgedächtnis der Menschen in Bezug auf die deutschsprachige Geschichte, vergleicht das Geschichtsverständnis seines Sohnes mit dem seinigen, und darf den nächsten und übernächsten Gedanken auch noch weiterspinnen, ohne von der Moderatorin unterbrochen zu werden. Inzwischen weiß der Zuhörer nicht mehr über das Buch als zu Beginn, wohl aber, dass Adolf Muschg offenbar selbst gerne der Leser seines Buches und Hörer seiner Worte ist.

Adolf Muschg: Die japanische Tasche, C.H.Beck Verlag, München, 2015, 484 Seiten, gebunden, 24,95 Euro, ISBN 978-3406682018

Gewalt als attraktive Handlungsoption

Jörg Baberowski bei der Vorstellung seiner Studie "Räume der Gewalt". © Christian Lund
Jörg Baberowski bei der Vorstellung seiner Studie „Räume der Gewalt“. © Christian Lund
Viele Zuhörer fand am Mittag schließlich noch der Berliner Historiker und vielfach ausgezeichnete Stalinismusforscher Jörg Baberowksi, der sein Buch „Räume der Gewalt“ (S. Fischer Verlag, Leseprobe) vorstellte. Darin vertritt er die These, dass Gewalt für jedermann eine zugängliche und deshalb attraktive Handlungsoption war und ist, und kein „Extremfall“. Wer wirklich wissen wolle, was geschieht, wenn Menschen einander Gewalt antun, müsse eine Antwort auf die Frage finden, warum Menschen Schwellen überschreiten und andere verletzen oder töten.

Das interessante Gespräch wurde live in der Sendung „Von Tag zu Tag“ im Radiosender Ö1 übertragen, so dass auch Hörer zugeschaltet werden konnten, um Fragen zu stellen. So mutmaßte ein Hörer, dass Gewalt doch etwas mit Überforderung zu tun habe und dass Menschen deshalb im wahrsten Sinne des Wortes über die Strenge schlagen würden. „Ja und nein“, antwortete Baberowski. Man dürfe nicht den Fehler machen und davon ausgehen, dass Gewalt vor allem in ärmlichen oder ungebildeten Verhältnissen zu Tage trete. Gewalt sei aber sehr wohl ein Ausdruck der Überforderung, wenn die Worte nicht mehr ausreichen, um gehört zu werden. „Der Gewalttäter bleibt im Gespräch“, formuliert Baberowski. Schlägt jemand zu, richte sich die Aufmerksamkeit sofort auf den Gewaltanwender und sein Opfer.

Gewalt definiert der bekannte Historiker als „Machtaktion der Unterwerfung, die auf den Körper wirkt“. „Gewalt braucht immer Opfer und Täter – Menschen müssen den Täter sehen, damit sie Gewalt verspüren“, meint Baberowski. Gewalt sei deshalb immer auch an das Erleben des Opfers gebunden. Mit struktureller Gewalt könne er deshalb nichts anfangen, die davon ausgeht, Gewalt äußere sich in der Beeinträchtigung von Minderheiten.

Jörg Baberowksi: Räume der Gewalt, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 272 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3100048189

Pardon, Marceline

Und du bist nicht zurückgekommenManchmal fehlen Worte, um Bücher zu beschreiben, die so eindringlich sind, dass sie den Leser nicht mehr loslassen. Tagelang und ein Leben lang nicht. Marceline Loridan-Ivens‘ kleines Buch ist ein solcher Fall. Die Worte fehlen, weil sie nicht reichen, auch nicht heranreichen an das Lesegefühl, die Gedanken, die Erschütterung. Loridan-Ivens ist 15 Jahre alt, als sie mit ihrem Vater deportiert wird. Sie kommt nach Birkenau, er nach Auschwitz. Sie überlebt. Er nicht. Jetzt ist sie 87 Jahre alt und hat ihrem Vater einen letzten Brief geschrieben. Lesen Sie ihn!

Marceline und ihr Vater Froim Rozenberg gehörten zu den 76.500 Juden aus Frankreich, die nach Auschwitz-Birkenau gebracht worden sind. Zurückgekommen sind nur 2.500. Wirklich zurückgekommen ist niemand. „Wenn sie wüssten, alle, wie sie da sind, dass das Lager ständig in uns ist. Wir alle haben es im Kopf bis in den Tod“, schreibt Marceline. Sie selbst trägt es im ganzen Körper. Nicht nur die fünf Ziffern, die Zahl, die sie auf dem linken Unterarm stets an ihr Schicksal erinnert – sie nennt die Nummer ihre „furchtbare Gefährtin“. Nein, Marceline ist auch kein Stück mehr gewachsen, seit sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hat.

Kurz vor seinem Tod konnte er ihr noch ein paar Worte zukommen lassen, auf einem Zettel, wenige Sätze, überbracht von einem anderen Häftling. Sie erinnert sich nur noch an die erste Zeile, die Anrede: „Mein liebes kleines Mädchen“. Der Rest ist in ihrer Erinnerung verloren gegangen. Und so sehr sie auch sucht, sie findet die Worte nicht. Bis heute nicht. Geantwortet hat sie ihm dennoch, mehr als 70 Jahre danach: „Und du bist nicht zurückgekommen“. So heißt auch das Büchlein, das jetzt auf Deutsch erschienen ist.

Ein schwer erträglicher Bericht

Entstanden ist damit nicht nur eine zutiefst ergreifende Liebeserklärung an den Vater. Entstanden ist auch ein schwer erträglicher Bericht vom Leben der Gefangenen zwischen Krematorium und Gaskammer, wo sie Gräben ausheben mussten, damit die Nazis auch dort noch die Leichen der vergasten Körper verbrennen konnten. Die Krematorien liefen schon auf Hochtouren. Immer neue Züge kommen an, und Marceline sieht die Menschen auf der Rampe zu den Gaskammern gehen, immer auf der Suche nach bekannten Gesichtern.

Loridan-Ivens glaubt zu wissen, warum sie die Worte ihres Vaters vergessen hat: „Es war notwendig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können.“ Einen ähnlichen Gedächtnisschwund erlebt sie nach ihrer Rückkehr in Frankreich. Dort will niemand mehr etwas von den Erlebnissen wissen, verleugnet sie gar. Die Juden, so scheint es ihr, sind mehr daran interessiert, alles wieder aufzubauen. „Sie wollten, dass das Leben wieder seinen Gang nimmt, seine Zyklen wiederfindet, alles ging bei ihnen so schnell. Sie wollten Hochzeiten, sogar mit Abwesenden auf dem Foto, Hochzeiten, Paare, Lieder und bald Kinder, um die Leere auszufüllen.“

In Marcelines Familie erlebt sie das am eigenen Leib: Als sie völlig entkräftet aus Birkenau zurückkehrt, holt nicht ihre Mutter sie vom Bahnhof ab, sondern ihr Onkel, der selbst in Auschwitz gewesen ist. Verstohlen zeigt er ihr seine Nummer auf dem Arm. Dann rät er ihr, nichts zu sagen. „Sie würden es nicht verstehen.“ Und sie verstehen es tatsächlich nicht. Vielleicht wollen sie es auch nicht verstehen. Fassungslos liest man von Marcelines Mutter, die nicht weiß, was sie sagen soll, als sie ihr Kind erstmals wieder in die Arme schließt. Die nur bangt, ob sie vergewaltigt worden ist, weil sie schließlich noch verheiratet werden soll. Und die nicht versteht, warum ihre Tochter lieber auf dem Fußboden schläft, statt die weichen Laken eines bequemen Bettes zu genießen. „Man muss vergessen“, sagt ihre Mutter. Und entfernt sich damit weiter denn je von ihrer Tochter.

Unmissverständliche Antwort

Marceline Loridan-Ivens ist sich bis heute nicht sicher, ob es sich gelohnt hat, überhaupt zurückgekehrt zu sein. Eine erste unmissverständliche Antwort gaben ihr die Medien und Leser in Frankreich, als ihr Buch dort Anfang des Jahres erschien. Frankreich war ergriffen. Jetzt hat der Insel-Verlag das Büchlein in einer Übersetzung von Eva Moldenhauer herausgegeben.

Auch Deutschland kann jetzt antworten. Lesen Sie das Buch und verbreiten Sie es! Es gehört auch in die Hände derer, die fordern, man müsse langsam vergessen, heute lebe schließlich eine andere Generation. Schüler sollten es lesen und Theater es auf die Bühne bringen. Ja, es hat sich gelohnt, Marceline. Das ist die eine Antwort, die wir geben müssen. Die andere ist: Pardon. Auch wenn es nicht entschuldbar ist. Pardon, Marceline.

Marceline Loridan-Ivens: Und du bist nicht zurückgekommen, Insel Verlag, Berlin, 2015, 111 Seiten, gebunden, 15 Euro, ISBN 978-3458176602

Sehen Sie unbedingt dazu auch das hier verlinkte Autorengespräch mit Marceline Loridan-Ivens!

Die Liga der außergewöhnlichen Super-Dänen

Der Susan-EffektDänemark ist nicht gerade bekannt für seine Superhelden. Der dänische Schriftsteller Peter Høeg hat jetzt für seinen neuen Roman eine ganze Superhelden-Familie erfunden. Als alle Familienmitglieder der Svendsens in Indien in heftige Schwierigkeiten geraten, kann sie nur noch der Geheimdienst retten. Der aber macht nichts umsonst, und so muss die Elementarphysikerin Susan ihre besondere Fähigkeit einsetzen, um den Rest der Familie auszulösen. Eigenwillig, zeitweise höchst amüsant und mit Bonmots gespickt ist dieser neue Wurf von Peter Høeg die richtige Wahl für anspruchsvolle Thriller-Leser.

Susans Noch-Ehemann Laban, in Dänemark ein berühmter Komponist und Konzertpianist, hat in Indien eine 17-jährige Maharadschatochter aufgegabelt und ist mit ihr nach Goa gefahren – und die südindische Mafia hinterher. Susans 16-jähriger Sohn Harald hat versucht, Antiquitäten nach Nepal zu schmuggeln und wurde festgenommen. Seine Zwillingsschwester Thit ist derweil mit einem Priester des Kalitempels in Kalkutta stiften gegangen. Und Susan selbst? Nun, Susan soll versucht haben, ihren Liebhaber mit bloßen Händen zu erwürgen. Kurzum: Es läuft wahrlich nicht gut für die Familie Svendsen in Indien. Wenn Susan dem Geheimdienst nur einen kleinen Gefallen tut, könnte alles andere vergessen sein.

Nur widerwillig nimmt sie den Job an und macht sich auf die Suche nach dem geheimen letzten Sitzungsprotokoll einer ominösen Zukunftskommission. Wissenschaftler unterschiedlicher Fachbereiche haben seit den 70er Jahren mit großem Erfolg die Zukunft vorausgesagt, aber ausgerechnet der letzte Orakelspruch ist nicht auffindbar. Und genau der soll Dänemark jetzt einen Wissensvorsprung verschaffen, denn auch andere Länder sind von der letzten Weissagung betroffen. Leider aber scheint das irgendwer verhindern zu wollen, denn die Wissenschaftler sterben in diesen Tagen wie die Fliegen. Und meist ziemlich blutig.

Wen es nicht erwischt, den erwischt immerhin Susan, und das ist auch nicht immer erstrebenswert, denn Susan hat jene übernatürliche Gabe, die sich mit physikalischen Grundsätzen nicht erklären lässt: Wer mit ihr in einem Raum ist oder ihr nahe kommt, wird aufrichtig, ganz und gar aufrichtig. Sie ist eine Empathikerin, und irgendwas an ihr oder in ihr sorgt dafür, dass sich die Menschen in ihrer Umgebung ihr spontan offenbaren. Nicht behutsam, sondern häufig in erbrechensartigen Entladungen. Neben ihrem ohnehin schon sehr trockenen Humor führt auch ihre Gabe mitunter zu sehr komischen Situationen.

Susan ist eine starke Frau, die sich in einer männerdominierten Welt gegen allerlei Widrigkeit zur Wehr setzt, ohne dass es klischeehaft wird. Ihre Methoden sind unkonventionell, aber hilfreich. Trotz ihrer Gabe ist für Gefühle und vor allem familiäre Nähe nicht viel Platz, und das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass ihre Zwillinge zu solchen frühreifen Intelligenzbestien aufwachsen. Auch Freundschaften sind ihr im Grunde fremd. Susan lebt in ihrer eigenen Welt, ist vielleicht sogar ein wenig autistisch veranlagt, und denkt und sagt so häufig kluge Dinge, dass man sich als Leser Stift und Papier bereit legen sollte, um sie aufzuschreiben.

Wieder also steht eine starke Frauenfigur im Mittelpunkt, wie auch schon bei Høegs viel beachtetem Debüt „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ vor 23 Jahren. Dass Høeg aus der weiblichen Ich-Perspektive schreibt und das Superweib dabei so herrlich überspitzt darstellt, ohne jedoch sexistisch zu sein, macht allein schon Freude, das Buch zu lesen. Andererseits wissen Høeg-Kenner, dass der Autor in seinen Büchern gerne mal esoterisch abdriftet. Im aktuellen Roman aber gehören diese Passagen zu den seltenen. Stattdessen könnten Physikverdrossene genervt sein von den diversen Exkursen und philosophischen Betrachtungen zum Thema Physik und Mathematik. Letztendlich sind diese beiden Wissenschaften aber jene Mächte, die nicht nur Susans Welt zusammenhalten.

„Der Susan-Effekt“ ist zwar nicht die hohe Kunst der Literatur, aber ein wirklich fesselnder, anspruchsvoller und lesenswerter Thriller, mit dem man die Nächte durchmachen könnte. Vielleicht nehmen Sie sich dafür besser frei.

Peter Høeg: Der Susan-Effekt, Carl Hanser Verlag, München, 2015, 397 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 21,90 Euro, ISBN 978-3446249042, Webseite zum Buch

Die Wiederentdeckung eines Meisterwerks

Vor zwei Jahren legte Atlantic Books in London einen Roman wieder auf, der erstmalig 1993 veröffentlicht worden war. Jetzt hat der Luchterhand Verlag „Tony & Susan“ in deutscher Übersetzung herausgebracht – und lässt die Leser endlich ein altes Meisterwerk wiederentdecken: Den bekanntesten Roman des amerikanischen Schriftstellers und Literaturkritikers Austin Wright.

Es ist ein Roman im Roman. Rund zwanzig Jahre lang hat Susan Morrow nichts von ihrem Exmann Edward gehört, da bekommt sie mit einem Mal einen Brief von ihm. Er bittet sie, sein Manuskript zu lesen. Susan ist zunächst argwöhnisch: Will er wirklich nur ihre Meinung zu seinem Manuskript, jener Mann, der ihr einst nur auf der Tasche lag und übersteigerte Phantasien von seinem Erfolg als zukünftiger Schriftsteller hatte? Oder ist es sein Versuch, die erloschene Liebe neu zu entfachen? Doch Susan ist längst wieder verheiratet, ihr neuer Mann ist ein bekannter Herzchirurg, sie beide haben Kinder, um die sie sich kümmern muss. Die Neugier siegt aber schließlich doch – Susan liest das Manuskript.

Der Roman im Roman ist ein dramatischer und fesselnder Thriller: Edwards „Nachttiere“ erzählt von dem Mathematikprofessor Tony Hastings, der mit seiner Frau und seiner Tochter auf dem Weg in den Urlaub ist. In einer Szene, wie sie aus einer alten Stephen-King-Verfilmung stammen könnte, gerät er nachts auf einer einsamen Straße mit einem merkwürdigen Trio aneinander. Die drei in ihrem Buick drängen ihn von der Straße ab, entführen seine Frau und seine Tochter, vergewaltigen und ermorden sie. Was nach üblichem Thriller-Schema klingt, wird vielmehr zum verstörenden Psychogramm eines Mannes, dem die Realität mit all ihren Strukturen abhanden kommt, der sich verirrt.

Reflexion über das eigene Leben

Und wie sich Tony Hastings immer weiter verläuft, so gerät auch Susan Morrow immer tiefer in den Strudel der raffinierten Erzählweise ihres Exmannes. Denn „Nachttiere“ ist nicht nur ein Roman, sondern zwingt Susan auch eine Reflexion über das eigene Leben auf. Wie würde sie in Tonys Situation handeln? Hat sie in ihrer eigenen Vergangenheit die richtigen Entscheidungen getroffen und tut sie es auch heute? Welche Ansprüche hat sie an ihr Leben, an ihre Familie? Wie sehr müsste ihr Leben betroffen sein, dass sie Rachegelüste nicht nur verspüren, sondern sie auch umsetzen wollen würde?

Eine dritte Ebene eröffnet der Leser des Romans „Tony & Susan“ selbst, denn er muss sich ähnliche Fragen stellen. Wrights Roman drängt den Leser auf perfide Art und Weise zum Überdenken der eigenen Ideale und Sichtweisen. Ist er feige oder mutig? Kämpft er gegen Unrecht, das der Familie angetan wird, oder zieht er aus Angst um das eigene Leben den Schwanz ein? Wie couragiert ist er?

Es überzeugt. Es überzeugt voll und ganz. Es ist nicht nur der Plot, es ist vor allem die Unaufgeregtheit der literarischen Sprache, die in ihrer Unmittelbarkit so sehr ins Mark trifft, so sehr berührt und erschüttert, dass es den Leser nicht löslässt. Dass es ihn das Buch nehmen und ins Regal stellen lässt, um es nicht mehr fortzugeben. Lesen, unbedingt!

Austin Wright: Tony & Susan, Luchterhand Literaturverlag, München, 2012, 414 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3630873664

Gesucht: Sicherheit

Magnus hat auf einem Internat in Irland sein Abitur gemacht und feilt jetzt an seiner Cambridge-Bewerbung, Carolin wurde von ihrer Mutter mit einem Kochlöffel verprügelt und Luisa hat sich für 13 Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet. Gemein ist ihnen, dass sie im Alter zwischen 18 und 25 Jahren sind und der Generation „Facebook“ angehören. Oder der Generation „Faul“. Oder wie auch immer diese jungen Menschen bezeichnet werden, die herangewachsen sind und unsere Gesellschaft zukünftig mitbestimmen werden. Die beiden jungen Autorinnen Anne Kunze und Katrin Zeug, beide selbst erst Anfang 30, haben in ihrem Buch „Ab 18“ die Geschichten dieser jungen Menschen aufgeschrieben. Mal als Interview, dann als Fließtext, herrlich nah dran und ohne sie bloßzustellen.

Sie erzählen von ihrem Alltag, ihren Träumen und Sorgen. Auffallend ist, dass die meisten dieser jungen Menschen Familien gründen wollen. Richard etwa – mit ihm beginnt das Buch, weil er der Jüngste ist – will vier Kinder haben. Er hat keine Freundin, aber eine Geliebte. Carolin, ebenfalls 18 Jahre, möchte ihre Kinder streng erziehen, „aber vor allem soll mein Kind sehen, dass ich es liebe.“

Aus ihrer eigenen Kindheit erzählt sie, wie ihre Mutter sie mit dem Kochlöffel in die Ecke geprügelt hat und dass sie immer unter ihrer Fettleibigkeit gelitten hat: „Viele Freunde hatte ich nie, ich bin dick, seit ich denken kann. In der Schule wurde ich sehr stark gemobbt. (…) Einmal ist einer, als ich mit dem Bus nach Hause gefahren bin, hergekommen und hat mir eine Stecknadel in den Bauch gesteckt, um zu sehen, ob der platzt.“ Familie zu haben, das spielt für sie eine große Rolle. Manche von ihnen telefonieren täglich mit ihren Eltern, halten immer noch große Stücke auf deren Ratschläge und wollen in der Zukunft ihren Kindern eine glückliche Familie bieten, auch wenn einige von ihnen selbst keine glücklichen Erinnerungen an die eigene Kindheit haben.

Die beiden Autorinnen sind durch ganz Deutschland gefahren, haben Offiziersanwärter in einer Kaserne getroffen, eine Punkband in ihrem Proberaum besucht, eine zum Islam konvertierte Frau beim Fastenbrechen der muslimischen Jugend in Berlin begleitet und einen jungen Fotografen auf seiner Finissage seiner Ausstellung auf der Reeperbahn interviewt. Es geht um Moral, Religion und Wertevorstellungen. Um Ehrgeiz, Facebook und den täglichen, prüfenden Blick in den Spiegel. Viele wissen genau, was sie wollen. Und die meisten von ihnen streben vor allem nach Sicherheit.

Sandra etwa. Sie ist 22, studiert BWL im zweiten Semester und sagt: „Ich wünschte, jemand würde mir sagen, was ich machen soll. Irgendeine Sicherheit. Wenn ich an meine Zukunft denke, bekomme ich Beklemmungen: Ist das richtig, was ich mache? Soll ich lieber abbrechen und eine Ausbildung als irgendwas machen?“ Wie ein Kommentar darauf klingt eine Äußerung der 22-jährigen Tuğba: „Wir wissen in unserer Generation: Der Zeitpunkt, zu dem wir uns sicher fühlen, wird niemals kommen. Deswegen wollen wir flexibel sein, in jedem Moment unseres Lebens Glück finden und suchen, genießen und glücklich sein, man kann das nicht hinausschieben. Vielleicht kann man aber versuchen, mit weniger auszukommen.“

Die Autorinnen erklären ausdrücklich in ihrem Vorwort, dass die Geschichten keine Fallstudien und keine Exempel seien, sondern nur verrieten, wie es ist, heute in Deutschland erwachsen zu werden. Das gelingt. Das gelingt ganz wunderbar. Vielleicht auch deshalb, weil die Autorinnen vor allem Menschen gesucht haben, die sie aufgrund ihrer Tätigkeit oder ihrer besonderen Situation interessiert haben. Anderen sind sie ganz zufällig begegnet oder haben mit Freunden von Freunden gesprochen. Entstanden ist eine authentische Reportage über die Generation der heute 18- bis 25-Jährigen, die absolut lesenswert ist und Grundlage für Diskussionen bietet. Lesen!

Anne Kunze, Katrin Zeug: Ab 18, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2011, 240 Seiten, broschiert, 16,95 Euro, ISBN 978-3498035570