Blasse Kühe, starke Figuren

Der Debütroman „Und Nilas sprang“ der schwedischen Kulturjournalistin Maria Broberg ist ein langsames Buch, das Zeit braucht, um sich und seine Geschichte zu entwickeln. Die Mühe durchzuhalten lohnt sich aber! Am Ende wissen Sie: Ich habe soeben gute, schwedische Literatur gelesen. „Und Nilas sprang“ erzählt von einem spurlos verschwundenen Jungen, einer heimlichen Liebe; und von Familiengeheimnissen, von Rassismus, Vaterfiguren und solchen, die es nie sein werden.

Der Roman spielt in Olsele, einem kleinen Dorf in Norrland, dem nördlichsten der drei schwedischen Landesteile. Olsele, gelegen in der Provinz Västerbotten, ist nur eine Ansammlung von Häusern und landwirtschaftlichen Höfen. Es gibt eine Kirche und eine Art Kaufmannsladen, den Sigurd jedoch in seinem Wohnhaus am Ende eines langen Flurs betreibt. Immerhin: mit einer richtigen Kaufmannstheke.

Dabei ist das verboten

Die Einwohner von Olsele sind wortkarge Menschen. Sogar die Kühe sollen in Olsele blasser sein als anderswo, heißt es. Aber die Landschaft ist schön, und es gibt auch einen Fluss, an dem es sich fischen lässt und auf dem die Flößer das Holz befördern. Die Kinder gehen auf den im Wasser treibenden Stämmen balancieren und zwischen ihnen schwimmen, dabei ist das verboten.

Der Roman setzt 1948 ein, als der 17-jährige Assar die neu ins Dorf gezogene Margareta kennenlernt, die wesentlich älter ist als er. Nach acht Kilometern, die sie gemeinsam gehen, ist er sozusagen in Liebe entbrannt. Doch Margareta ist mit dem noch wesentlich älteren Hebbe liiert, einem Musiker, der fantastisch Ziehharmonika spielen kann. Margareta sagt über ihre Beziehung treffend: „Es hat seine Vorteile, und es hat seine Nachteile. Ich habe viel Musik im Leben. Aber vielleicht nicht viel anderes.“

Wir lernen außerdem Håkan kennen. Seine Sicht der Geschichte beginnt 1956. Hebbe lehrt ihm in diesem Sommer das Fischen, verbietet ihm ab weiterhin, ihn Papa zu nennen. „Hebbe. Nicht Papa, nicht Vati, nicht einmal Vater.“

Dabei hat er doch nur diesen Vater, so wie er nur diese eine Mutter hat, die er selbstverständlich Mama nennt. Nicht: Margareta. Aber Hebbe bleibt eisern. Viele Tage haben sie nicht mehr gemeinsam, denn es ist Hebbes letzter Sommer.

Der dramatische Reigen der Charaktere

Der Roman erzählt sich in Zeitsprüngen bis zum Jahr 2008 überwiegend aus Sicht von Assar und Håkan. Assar wird die Liebe zu Margareta zeit seines Lebens nicht aufgeben, Margareta bandelt nach dem Tod von Hebbe mit dem Sami Lars an, der bei ihr einzieht, und mit ihr einen Sohn zeugt: Nilas. Gleichzeitig beruht Assars Leidenschaft für Margareta auf Gegenseitigkeit, sie hat sich nur wesentlich besser im Griff als er. Voilà, der dramatische Reigen der Charaktere ist aufgestellt.

Die drei zentralen Figuren gelingen der Autorin hervorragend. Die eigentlich verbotene Liebe zwischen Assar und Margareta, das gegenseitige Angezogensein und das Nichtvoneinanderlassenkönnen, die fortwährende Faszination, die auch Jahre später nicht nachlässt, das ist mitreißend beschrieben. Wer bereits verzweifelt geliebt hat, wird in diesen Passagen emotional zutiefst berührt werden. Insbesondere Margareta steht uns lebendig vor Augen, die pragmatisch sein will, aber nicht kann, und von ihrer Umgebung in ein zu enges Korsett geschnürt wird.

Suche nach der eigenen Identität

Auch Håkan ist stark gezeichnet: Das Kind, das einen Vater sucht, den einen nicht so nennen darf, der zweite ist fast nie da, weil er sich ständig um seine Rentiere kümmern muss. Und dann ist da noch die Sache mit Nilas, seinem verschwundenen Bruder. Auch Håkan ist zerrissen von Schuldgefühlen und der Suche nach der eigenen Identität.

„Und Nilas sprang“ ist kein Kriminalroman, sondern eine dramatische Familiengeschichte auf sprachlich hohem Niveau, melancholisch und sehr nordisch. Das Rätsel um das verschwundene Kind entwirrt sich erst am Ende des Buchs. Doch es bleiben genügend Fragen offen, und das ist klug gelöst von Maria Broberg, denn so befriedigend ist das Leben nun mal nicht. Von dieser Autorin werden wir hoffentlich bald mehr lesen.

Maria Broberg: Und Nilas sprang, Verlag Nagel & Kimche, München, 2021, 266 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3312012503

Seitengang dankt dem Verlag Nagel & Kimche für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

German Scham

Endlich! Endlich ist auch in Deutschland der hervorragende Debütroman von Katharina Volckmer erschienen. „Der Termin“, von Volckmer in ihrer Zweitsprache Englisch verfasst, fand lange Zeit keinen deutschen Verlag, wurde aber in zwölf andere Sprachen übersetzt. In England erschien das Buch 2020 als „The Appointment (Or, The Story of a Cock)“, in den USA als „The Appointment (Or, The Story of a Jewish Cock)“, in Frankreich als „Jewish Cock“.

In Deutschland jetzt also als „Der Termin“ ohne Untertitel, verlegt beim neu gegründeten und mit vielversprechendem Herbst-Katalog startenden Kanon-Verlag. In diesem an Philip Roths „Portnoys Beschwerden“ erinnernden Buch (andere Rezensenten halten dem Buch gerne den Thomas-Bernhard-Spiegel vor) hält eine namentlich nicht bekannte Patientin einen 117 Seiten langen Monolog, während sie auf dem Behandlungsstuhl des jüdischen Gynäkologen Dr. Seligmann liegt.

Sie obduziert das peinliche Schweigen

Die Themenvielfalt dieses Bewusstseinsstroms ist groß, das Unbehagen beim Lesen nicht minder. Die Patientin eröffnet ihre Rede mit dem Bekenntnis, sie habe mal davon geträumt, Hitler zu sein. Ihre Ausführungen darüber, dass man niemals hätte davon ausgehen können, dass die Deutschen „mit der miserablen Landesküche ein Reich für tausend Jahre würden halten können“ wandeln sich zu in sehr drastischen Worten umschriebenen sexuellen Fantasien, bei denen Hitler ebenfalls Rollen zugesprochen werden, bis sie schließlich auch darüber redet, welche Scham sie als Deutsche empfindet. Sie obduziert die Geschichte Deutschlands und das peinliche Schweigen der Täter- und Nachkriegsgenerationen. „Der Termin“ ist auch eine Coming-of-Silence-Geschichte.

Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich von ihrer katholisch geprägten nachkriegsdeutschen Familie abgenabelt und lebt, wie die Autorin, in London. In einer Rückschau macht sie ihre eigene Geschlechtsidentität sowie die Beziehung zu Mutter, Vater, Urgroßvater („Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er ein richtiger Nazi war“) zum Thema. Ihr Ton ist dabei oft lakonisch-komisch.

Sie erzählt, wie sie bei einer Wutattacke im Büro einem Kollegen drohte, sein Ohr am Tisch festzutackern. Dann ist sie überrascht, wieso ihr nach dieser Geschichte gekündigt wurde. Obwohl doch jedem klar sein müsse, dass man mit diesen Billigtackern eher sich selbst verletzt, als anderer Leute Ohren an Schreibtischplatten festtackern zu können.

Das deutsche Brot ist zu trocken

Über Nürnberg, einst Stadt der Reichsparteitage der Nationalsozialisten, unkt sie, dass dort jetzt jährlich Messen für Waschmaschinen abgehalten werden und ruft die Erinnerung an deutsche Fernsehwerbung auf, die meterweise reine, weiße Wäsche verspricht. Gedankensprung: Das deutsche Brot ist zu trocken, deshalb gelingt Deutschen der Oralverkehr nicht gut.

Volckmer ist provokant, ja. Und einiges davon glaubt man auf den ersten Blick gleich erkannt zu haben: Hitler und Juden als Aufreger, der Skandal scheint programmiert.

Was soll das eigentlich?

Ist das nicht Verharmlosung der deutschen Geschichte? Wird hier nicht zu sehr auf Hitler fokussiert? Hitler, mal als komische Figur, dann wieder als Sexphantasie – was soll das eigentlich?

Ja, das alles brodelt an der Oberfläche. Aber wie beim qualvollen Häuten der Zwiebel treten nach und nach untere, verborgene Schichten nach oben, die Frage der Geschlechtsidentität vor allem. Bin ich Mann, bin ich Frau? Warum fühle ich mich als Mann, bin aber als Frau geboren? Welchen Prozess durchlaufen Transmenschen? „Jedenfalls glaube ich, dass unsere Körper manches wissen, lange bevor unser Kopf es tut“, sagt die Patientin, die als heterosexuelle Cis-Frau sozialisiert wurde.

Der Gynäkologe bleibt die meiste Zeit stumm, und doch spricht die Patientin nie ins Leere. Erst spät fragt er sie, und wir lesen nie seine Frage, sondern nur ihre Antwort, ob sie wütend auf ihre Eltern sei. Ist sie nicht. Denn ihr Kopf ist nach dem Körper schon ein Stück auf dem Befreiungsweg vorangekommen.

„Ich wünschte, wir beide hätten das durchschaut“

Sie erzählt von ihren Schwierigkeiten, als sie jung ist, und die Mutter sie zu einer jungen Dame machen will, mit Schminke und Parfüm und schönen Kleidern. „Ein Großteil unserer Schwierigkeiten miteinander rührte von einem völlig unnötigen Lampenfieber, das uns von einer Welt aufgezwungen wird, die Leute ohne Schwanz auf ihren Platz verweisen will, und ich wünschte, wir beide hätten das durchschaut.“

Das auf den ersten Blick „nur“ die deutsche Scham und Vergangenheit ankratzende Buch ist wie ein trojanisches Pferd, das ein Hitlerbärtchen trägt, vielleicht auch nur einen Hoden hat und von Dirty Talk-AnhängerInnen geschoben wird, das aber bei genauerer Betrachtung und Überwindung der Befestigungsanlagen gefüllt ist mit Kriegerinnen und Kriegern, Cis- und Transmenschen, die traditionelle Geschlechterrollen, Geschlechterbinarität, Transphobie und das Patriarchat bekämpfen. Und letztlich schaut man sich um, wie man hergekommen ist, sieht das trojanische Pferd, und muss sich doch wieder der eigenen Vergangenheitsbewältigung und dem deutschen Völkermord stellen. Dr. Seligmann kann beides verbinden, und die Patientin ist genau deshalb bei ihm.

Katharina Volckmer, wurde 1987 in Deutschland geboren und zog mit 19 Jahren zum Sprachen-Studium nach England. Heute lebt sie in London und arbeitet für eine Literatur-Agentur. „Der Termin“ ist ihr erster Roman, und es ist so ein temporeiches Wahnsinnsbuch! Man verschlingt es in wenigen Stunden und lacht und weint und fühlt sich furchtbar und interessiert und pikiert. Das ist wirklich raffinierte, konzertante und elegant kurzweilig geschriebene Literatur, die ihresgleichen sucht. Wenn das gleich beim kühnen Debüt dermaßen reinhaut, was kommt mit dem Zweitwerk auf uns zu? Kann nur gut werden für die Literatur!

Katharina Volckmer: Der Termin, Kanon-Verlag, Berlin, 2021, 128 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3985680009

Seitengang dankt dem Kanon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Lebst du schon, oder existierst du noch?

Den ersten Spatenstich gab’s bereits im September 2015 im Internet. Die 1972 geborene Comic-Autorin und Cartoonistin Katharina Greve zeichnete seitdem online Woche für Woche jeweils eine Etage eines Hochhauses, bis sie im September 2017 das Dachgeschoss fertig hatte. Inzwischen hat der Webcomic es in die Welt der Bücher und Buchrollen geschafft. Das farbig illustrierte „Hochhaus“ dokumentiert schonungslos mit Witz und manchmal fiesem Humor das Leben unterschiedlichster Menschen in einem Wolkenkratzer.

Im Kellergeschoss beginnt die Reise quer durch alle Wohnungen mit einem Blick in eine Ehe, in der die Partner das Liebenswürdige aneinander schon lange aus den Augen verloren zu haben scheinen. Loriot und Ekel Alfred hätten diese Szene nicht besser beschreiben können: Ein Mann kramt in einer Umzugskiste, die wahrscheinlich schon lange kein Tageslicht mehr gesehen hat. Seine Frau leuchtet ihm mit der Taschenlampe – funktionierendes Kellerlicht scheint es nicht zu geben. „Wie schon Goethe sagte: ‚Mehr Licht!‘ – blöde Kuh!“, herrscht er seine Frau bildungsbürgerlich an. Die denkt im „Morgen bring‘ ich ihn um, morgen bring‘ ich ihn um“-Mantra der genervten Ehefrau vor sich hin: „Wenn ich ihn jetzt umbringe, wären sogar seine letzten Worte abgedroschen.“

Es treffen sich Not, Rassismus, Chauvinismus und Vergnügen

Menschliche Eiseskälte herrscht da im Keller. Aber das zieht sich nicht durch alle 102 Stockwerke dieses mehr oder minder ehrenwerten Hochhauses. Es gibt Orte der Nachbarschaftshilfe, ja, sogar der Nachbarschaftsliebe. Es grassieren Klatsch und Tratsch und es treffen sich Not, Leid, Rassismus, Chauvinismus, Masochismus und Vergnügen. Im Erdgeschoss strickt Frau Möller ihrem Mann die Norwegerpullis, die er mit Vorliebe oder voller Devotie trägt. Über dem Plüschsofa hängen gerahmte Fotos der Lieben, in der Küche steht der Hackenporsche für die nächsten Einkäufe parat. Im Flur und hinter der Wohnzimmertür stapeln sich Pakete – die Paketdienste klingeln immer nur hier. Herr Möller ist genervt, schon wieder ist ein Paket bei ihnen abgegeben worden, dabei sind die Mutlus aus der 5. Etage sicher zu Hause. Seine Frau aber sieht in dem Nachbarschaftsdienst vor allem etwas Gutes: sie hätten sonst gar keine sozialen Kontakte mehr.

Mag vielleicht an dem Geruch in ihrer Wohnung liegen. Davon erfährt der Leser allerdings erst, als er bei den Mutlus in der 5. Etage angekommen ist. Die Tochter ist regelrecht angewidert, dass sie ihr Paket dort abholen muss. Im 4. Stock erfahren wir, dass in der 8. Etage eine Wohnung frei wird, in anderen Wohnungen ist eingebrochen worden, in der 7. ist eine Mutter verärgert, dass ihr Sohn, der im selben Haus wohnt, sie nie besucht. Dessen Partnerin aber, das wird im 16. offenbar, muss davon ausgehen, dass der Peter zweimal in der Woche bei seinen Eltern ist. Stattdessen aber geht er zu einer Domina und lässt sich den Hintern versohlen. Und so geht es Stockwerk für Stockwerk höher und höher in die Welt der deutschen Spießigkeit.

Architektonischer Aufriss der deutschen Durchschnittswohnung

Der Leser sieht dabei oft dasselbe Dreierlei: Küche, Flur, Wohnzimmer. Ein architektonischer Aufriss der deutschen Durchschnittswohnung. Oscar Wilde soll gesagt haben: „Leben ist das Allerseltenste in der Welt – die meisten Menschen existieren nur.“ Er könnte „Das Hochhaus“ rezensiert haben. Niemand will in diesem Haus wohnen, niemand, und doch erkennt man Anzeichen von sich selbst in manchen Bildern. Weil wir ja alle auch Durchschnittsmenschen sind, weil Katharina Greve auch von uns erzählt, von dir und von mir. Und so gerät „Das Hochhaus“ auch zu einem diskreten Anschubser zum Hinschauen und Nachdenken.

Apropos Hinschauen: Der Webcomic hatte natürlich den Charme, dass er sich die Eigenheiten des Internets zu Nutze machte, sodass man liftgleich und schier endlos durch die Etagen scrollen konnte. In der Buchrolle von „Round not Square“ gelingt Ähnliches. Hier ist das Hochhaus auf einer sieben Meter langen Seite komplett gedruckt und dann zusammengerollt worden.

Einzig bei der Edition des Avant-Verlags ändert sich die Art des Hinschauens. Das sehr schlanke, hochformatige Buch muss zum Lesen um 90 Grad gekippt werden, dann blättert man sich jeweils zwei Stockwerke pro Seite in die Höhe. So gelingt ein noch genaueres Hinsehen und Betrachten, und man entdeckt auch bald die noch so feinen Details, die Greve in ihrem Wimmelbild für Große versteckt hat.

„Das Hochhaus“ ist ein Buch zum Vielfachschauen, das sich immer wieder zur Hand nehmen lässt, eine Erzählung, die nie auserzählt ist. Nehmen Sie den Lift und drücken Sie alle Tasten!

Katharina Greve: Das Hochhaus, Avant Verlag, Berlin, 2017, 56 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3945034712, Leseprobe

Katharina Greve: Das Hochhaus, Round not Square, Berlin, 2017, 30 Euro, Bezug über den Verlag

Seitengang dankt dem Avant-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Buch Wien: Lebenslange Lügen und ein blutiger, blutiger Samstag

Philipp Blom stellt seinen neuen Roman vor. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Philipp Blom stellt seinen neuen Roman vor. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Am dritten Messetag der „Buch Wien“ 2016 habe ich erneut nur zwei Veranstaltungen besucht. Zunächst war der deutsche Autor, Historiker und Journalist Philipp Blom gekommen, um seinen neuen Roman „Bei Sturm am Meer“ vorzustellen. Blom ist mit Bestsellern über die europäische Kulturgeschichte bekannt geworden, viele verbinden mit seinem Namen Sachbücher über die Schlüsselmomente des 20. Jahrhunderts (so etwa „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914“). Er hat allerdings auch schon ein Sachbuch über österreichische Weine geschrieben.

„Bei Sturm am Meer“ ist sein dritter Roman. Darin schickt er einen melancholischen Mittvierziger namens Benedikt auf eine überraschungsreiche Reise zu sich selbst. Nach dem Tod seiner Mutter muss der Marketingfachmann feststellen, dass seine Familiengeschichte eine andere war, als er sein Leben lang gedacht hat. Der Roman über zerplatzte Träume und lebenslange Lügen beginnt mit einem Brief, den Benedikt an seinen vierjährigen Sohn schreibt, während er in Amsterdam auf die Urne seiner Mutter Marlene wartet, deren Lieferung sich verzögert.

Benedikt erfährt im Laufe des Buches, dass viele der Lebensgeschichten, die er zu kennen glaubt, nicht stimmen, zum Beispiel dass sein Vater, ein Journalist, im Kampf gestorben sei. Selbstverständlich verbindet Blom die Geschichten von Benedikts Mutter und Großmutter mit den historischen Ereignissen – hier kann der Historiker Realität und Fiktion vermischen. Das sei auch einer der Vorteile beim Romaneschreiben, erklärt er: „In einem Sachbuch muss immer alles so gewesen sein, in einem Roman kann es so gewesen sein.“

„Das wird dann einfach nicht gut“

Aber es gibt auch Nachteile: „Das Romaneschreiben ist nicht lukrativ.“ Außerdem rate er Menschen, die glauben, sie trügen einen Roman in sich, den sie unbedingt aufschreiben müssten, dies nicht am Abend um 23 Uhr zu tun, wenn sie erschöpft von der Arbeit und den familiären Verpflichtungen sind. „Das wird dann einfach nicht gut – man muss sich dafür Zeit nehmen.“ Das erinnert an die Lesung von Cynthia D’Aprix Sweeney („Das Nest“, Klett-Cotta) im Literaturhaus Wien. Dort erklärte sie, sie habe erst am College „eine gewisse Priorisierung im Leben“ gelernt: „Denn wenn man auch noch familiäre Verpflichtungen hat, kann das Schreiben auf der To-do-Liste ganz schnell auf dem letzten Platz landen – ich aber habe gelernt, es ganz nach oben zu setzen.“

Weil das Buch auch viel im Hamburg der 1970er Jahren spielt und Blom dort geboren und aufgewachsen ist, wurde er gefragt, ob „Bei Sturm am Meer“ auch ein wenig die Geschichte seiner Familie erzähle. „Nun“, antwortete Blom, „Menschen, die mich ein bisschen kennen, werden vielleicht sagen: Aha!“ Aber seine Familie sei nicht die im Roman dargestellte Familie, er selbst habe auch andere Themen als der Protagonist seines Romans. „Aber die Geschichte baut vielleicht auf Themen auf, die in unserer Familie spielen.“

Gelesen hat Blom aus seinem aktuellen Buch nicht. Dafür blieb keine Zeit mehr, denn Moderatorin Alexandra Föderl-Schmid (Chefredakteurin des Standard) fragte den Schriftsteller aus aktuellem Anlass nach seiner Meinung zum Brexit und zur US-Wahl. Dafür war Blom nicht nur als Historiker und Journalist ein versierter Gesprächspartner, sondern auch deshalb, weil er ein Jahr in den USA und neun Jahre in England gelebt hat. Teilweise schreibt er seine Bücher auch zunächst auf Englisch und übersetzt sie dann selbst ins Deutsche. „Der Brexit hat mich wirklich überrascht“, sagte er. „Und bei der Wahl von Trump habe ich mich gefühlt, als hätte man mich mit einem Baseballschläger traktiert.“ Er habe gedacht, er schlafe einfach noch und wache irgendwann auf. „Aber das war so nicht.“

Gefährlich bei Wahlen

Manche vergleichen inzwischen die heutige Zeit mit der Weimarer Republik. Das sieht Blom aber nicht so: „Nein, wir leben nicht in der zweiten Weimarer Republik, aber noch eine Wirtschaftskrise wie 2008, dann leben wir in einer Weimarer Republik.“ Gefährlich bei Wahlen und damit auch bei der US-Wahl sei dieses „Irgendetwas muss sich doch ändern“-Gefühl der Wähler. „Auch hier in Europa verlieren die Menschen zunehmend die Hoffnung in die Gesellschaft und die Demokratie“, erklärte Blom weiter.

Von Föderl-Schmid darum gebeten, als Historiker in die Zukunft zu schauen und zu sagen, wie Europa im Jahr 2030 aussähe, antwortete Blom, das gerate wohl eher wie eine Wettervorhersage, denn kleine Faktoren könnten doch alles in eine andere Richtung bringen. „Im Moment sind Kräfte am Werk, die am Zerfall Europas arbeiten. Aber eigentlich hängt alles davon ab, wann das nächste 2008 kommt.“

Philipp Blom: Bei Sturm am Meer, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2016, 224 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3552058101, Leseprobe

Thomas Raab, Bernhard Aichner, Edith Kneifl, Heinz Sichrovsky, Amelie Fried und Veit Heinichen bei der Krimi-Runde. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Thomas Raab, Bernhard Aichner, Edith Kneifl, Heinz Sichrovsky, Amelie Fried und Veit Heinichen bei der Krimi-Runde. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Am späten Nachmittag schließlich traf sich ein Teil der aktuellen Crème de la Crème der deutschsprachigen Bestseller-Krimi-Literatur zu einer kleinen, vergnüglichen Gesprächsrunde unter dem Thema „Morden wie gedruckt“. Ursprünglich waren nur Thomas Raab, Bernhard Aichner, Edith Kneifl und Veit Heinichen eingeladen. Moderator Heinz Sichrovsky (Kulturchef des österreichischen Wochenmagazins News) hatte jedoch zuvor seine Sendung „erLesen“ für den ORF aufgezeichnet und dort die Schriftstellerin und Moderatorin Amelie Fried zu Gast, die er dann kurzerhand mit in die Runde brachte. Ein Glücksgriff, wie sich später herausstellen sollte.

Was macht einen guten Krimi aus und wie schreibt man ihn? Veit Heinichen hat dafür kein Patentrezept, wohl aber durch jahrelange Recherche ein riesiges Archiv angehäuft. „Irgendwann kommt dann der Gedanke, dass ich mich mit meinen Figuren beschäftige, und dann lasse ich sie aufeinander los – richtige Arbeit ist das nicht, ich folge ja nur meinen Figuren.“

Amelie Fried, die mit ihrem Mann Peter Probst eine Reihe von Kinderkrimis („Taco und Kaninchen“) geschrieben hat, hat nur einen einzigen Krimi für Erwachsene verfasst: „Der Mann von nebenan“ (1999). Kurz zusammengefasst erledigen drei Frauen zusammen einen Nachbarn. Erst versuchen sie es in der Badewanne, doch als sie seine Leiche im Wald beseitigen wollen, ist der Mann gar nicht tot. Ein Schlag mit einem Schraubenschlüssel beendet sein Leben dann doch noch, und die drei Frauen versenken die Leiche im See. Vorlage für den Nachbarn? Frieds tatsächlicher Nachbar, der die Familie so sehr genervt hat, dass sie schon an Umzug dachten. „Dann habe ich dieses Buch geschrieben, und es war die beste Rache meines Lebens.“ Das Buch wurde mit Axel Milberg als böser Nachbar verfilmt, „und ich wohnte in diesem bayerischen Dorf, und jeder wusste, wer gemeint ist“, erzählte Fried. Der Nachbar sei kurz danach weggezogen.

„Ein Traum von Mann“

Die österreichische Autorin Edith Kneifl baut beim Krimischreiben stets eine enge Bindung zu ihren Protagonisten auf. Als ehemalige Tischtennis-Landesmeisterin sei es ihr mal in den Sinn gekommen, dass einer der Männer doch bei einem Tischtennisturnier sterben könnte. „Ich habe eine Figur entworfen, einen Traum von Mann, sage ich Ihnen, der hat mir dann so gut gefallen, dass ich ihn nicht mehr umbringen konnte. Er wurde nur schwer verletzt.“ Und nach einer kurzen Pause: „Aber es sind andere Männer umgekommen.“ Dass ein Autor seine Figuren liebgewinnt, bestätigte auch Bernhard Aichner: „Ich liebe zum Beispiel meine Bestatterin Brünhilde Blum – sie bringt Menschen um.“ Ja, zuweilen ist es recht makaber, wenn sich Krimi-Autoren unterhalten.

Alle fünf Autoren sind zudem Serientäter, ihre Helden oder Mörder tummeln sich also in mehreren Büchern. „Aber wann bekommen diese Kerle ein Ablaufdatum?“, wollte Sichrovsky wissen. Für Thomas Raab hängt das mehr damit zusammen, ob ein Buch seine Leser findet: „Bei meinem ersten Buch habe ich nicht gedacht, dass das jemand lesen würde.“ Für Aichner dagegen war es klar, dass seine Bestatterin nur eine Überlebenszeit von drei Büchern haben würde: „Die kann ich jetzt auch gut ziehen lassen. Es ist zwar reizvoll, das weiterzumachen, weil es sich gut verkauft, aber ich wusste vor dem ersten Buch, wie das dritte aufhört, und danach ist Schluss.“ Kneifl: „Vor allem das Publikum und die Verlage wollen doch Serien – aber ich gebe zu, auch ich kann mich manchmal nicht trennen.“

Und Veit Heinichen? Dem schien eine Frage nicht aus dem Kopf zu gehen: „Ich glaube nicht, dass Amelies Nachbar weggezogen ist.“ Schon hatte Heinichen die Lacher wieder auf seiner Seite. Fried parierte und erzählte, sie und ihr Mann hätten ein Gartenhaus bauen lassen. „Kein Scherz, und die beiden polnischen Bauarbeiter, die von dem nervigen Nachbarn gehört hatten, haben uns angeboten, ihn für 2.000 Euro umzubringen. Und für 4.000 Euro auch die Leiche zu beseitigen.“ Heinichen: „Irgendwer muss mal das Beton-Fundament dieses Gartenhauses überprüfen…“ Wieder Gelächter.

Kürzlich das erste Grab ausgehoben

Auch über die Recherchearbeit für ihre Bücher sprechen die Autoren. Während Kneifl mit einem Arzt verheiratet ist und ihn gern schon am Frühstückstisch fragt, an welchen Körperstellen das meiste Blut spritzt („Mein Mann passt bei meinen Leichen immer auf!“), hat Aichner kürzlich sein erstes Grab ausgehoben: „Das war eine tolle Erfahrung, aber richtig harte Arbeit.“ Und in der Rechtsmedizin in Hamburg sei er bei einer Obduktion dabeigewesen, auch das sei sehr faszinierend gewesen. Raab wiederum recherchiert „Problemfälle“, wie er das nennt. „Ich habe beim Skifahren Schnee von einer Schneekanone ins Gesicht bekommen und dann beim Hersteller angerufen und gefragt, ob das, was vorne rauskommt, rot würde, wenn man hinten jemanden reinsteckt.“ Interessant sei auch gewesen, beim örtlichen Schwimmbad anzurufen und zu fragen, wie lange die Filteranlage braucht, um das Wasser nach einem Haiangriff wieder klar zu bekommen. „Danach wusste ich die ganze Lebensgeschichte des Mann, den ich da angerufen hatte.“ Heinichen: „Die Frage ist, woher wusste der Mann, wie lange die Filteranlage brauchen würde…“

Und welche Krimis würden die Autoren empfehlen, ihre eigenen ausgenommen? Veit Heinichen legt den Lesern Fjodor Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ bzw. „Schuld und Sühne“ (ältere Übersetzungen) ans Herz, Edith Kneifl nennt Patricia Highsmiths „Die zwei Gesichter des Januars“, Bernhard Aichner mag gern die Adamsberg-Reihe von Fred Vargas und Thomas Raab empfiehlt den „Kameramörder“ von Thomas Glavinic.

Bernhard Aichner: Interview mit einem Mörder. Ein Max-Broll-Krimi, Haymon Verlag, Innsbruck, 2016, 288 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3709971338, Leseprobe

Amelie Fried: Ich fühle was, was du nicht fühlst, Heyne-Verlag, München, 2016, 400 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3453265905, Leseprobe

Veit Heinichen: Die Zeitungsfrau, Piper-Verlag, 2016, 352 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3492057585, Leseprobe

Edith Kneifl: Totentanz im Stephansdom, Haymon Verlag, Innsbruck, 2015, 264 Seiten, Taschenbuch, 12,95 Euro, ISBN 978-3709978337, Leseprobe

Thomas Raab: Der Metzger, Droemer Knaur, München, 2016, 336 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3426281369, Leseprobe

Die „Buch Wien“ 2016 war damit für mich beendet, am Sonntag, dem letzten Messetag, habe ich bereits die Heimreise angetreten. Wie in den vergangenen Jahren werde ich in den nächsten Tagen noch ein persönliches Fazit liefern. Einigermaßen sicher aber ist schon, dass ich auch im nächsten Jahr wieder von der „Buch Wien“ berichten werde. Bleiben Sie mir gewogen!

Buch Wien: „Ganz am Ende gibt’s einen Schnaps, und dann ist wieder alles gut“ (Valerie Fritsch)

Valerie Fritsch (l.) im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. © Christian Lund
Valerie Fritsch (l.) im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. © Christian Lund
Den Donnerstag der diesjährigen Buch Wien hätte man getrost auch in den „Fritsch-Tag“ umbenennen können, denn der Verfasser dieses Blogs sah den Höhepunkt nicht etwa in einem weiteren Auftritt von Adolf Muschg, sondern sowohl in der Lesung der herzerreichenden österreichischen Autorin Valerie Fritsch als auch im gemeinsamen Auftritt mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch am frühen Nachmittag.

Valerie Fritsch ist längst keine Unbekannte mehr. Spätestens seitdem der Suhrkamp-Verlag Anfang März 2015 ihren Roman „Winters Garten“ (Leseprobe) veröffentlicht hat, ist das Schriftstellerkollegium und die Literaturkritik von der jungen Autorin und ihrer Sprache begeistert. „Was macht Valerie Fritsch im Rest ihres Lebens, wenn sie jetzt schon so gut ist?“, fragt der Schweizer Autor Jürg Laederach. Und der österreichische Schriftsteller und Büchner-Preisträger Josef Winkler äußert sich frenetisch jubelnd: „Ich bin beglückt. Da kann man Gift oder Gegengift drauf nehmen, ich bin mir sicher, dass mit Valerie Fritsch ein Prosatalent in der österreichischen Gegenwartsliteratur aufgetaucht ist, von dem man noch viel hören wird.“

Winters Garten, das ist nicht nur „der Sehnsuchtsort, an den der Vogelzüchter Anton mit seiner Frau Frederike nach Jahren in der Stadt zurückkehrt“, wie der Verlag im Klappentext schreibt. Winters Garten ist auch der buchgewordene Wildwuchs von Valerie Fritschs Großmutter. Ein wilder Garten, den sie als Kind geliebt hat, obwohl die Großmutter in Kärnten „eigentlich ein böser Mensch“ war, bekennt Fritsch im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. Ohnehin sei die Natur für sie ein „großer Kraftquell“. Sie sei schon mit einem großen Urvertrauen auf die Welt gekommen, sagt sie. „Mir fehlt die Angst, ich könnte nicht mehr zurückkommen.“ Dabei ist sie nicht nur Autorin, sondern als Photokünstlerin auch Weitgereiste und furchtlose Entdeckerin der gefährlicheren Ecken dieser Welt. Nur eines macht sie bange: „Ich habe totale Angst vor Schlangen.“ Sie müsse nur eine in der Zeitung sehen, dann beschleunige sich schon ihr Puls.

Bis zur Erschöpfung parat stehen

Schonungslos ehrlich ist Valerie Fritsch aber vor allem dann, wenn sie offenbart, dass der ihr zuteil gewordene Erfolg sie nicht nur anfangs überrascht und gefreut hat, sondern mittlerweile auch müde mache: „Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal in meinem Bett geschlafen oder mit Menschen etwas unternommen habe, die ich wirklich kenne.“ Sie spricht davon, bis zur Erschöpfung immer parat zu stehen für die Leser, die Fans, den Verlag. Ständig auf Lesereise, ständig unterwegs, kaum im geschützten Raum der Familie, bei ihrem Hund, den sie so sehr liebt und der ihr Herzenswärme gibt. Und auch am Ende dieses Messetages wird ihre Stimme angeschlagen sein, weil sie aus ihrem Werk gelesen, gute und schlechte Fragen beantwortet und natürlich eifrig Bücher signiert und mit den Lesern geplaudert hat.

Aber auch das Romaneschreiben sei „Knochenarbeit“, sagt Valerie Fritsch. Gerade zum Ende eines Romans gerate sie in einen rauschartigen Zustand, in dem es nicht ungewöhnlich sei, dass sie frisch gewaschene Socken in den Kühlschrank lege oder ähnlich verquere Dinge tue. „Aber ganz am Ende gibt’s einen Schnaps, und dann ist alles wieder gut.“ Wer Valerie Fritsch beim Vorlesen zuhört („Winters Garten“ bei zehnseiten.de), läuft Gefahr, in einen ähnlichen Rausch zu geraten. Man möchte an ihren Lippen hängen, ihre eindringlichen Worte in sich aufsaugen dürfen, um sie für sich zu behalten und in passenden Augenblicken der Stille wieder hervornehmen zu können.

Valerie Fritsch: Winters Garten, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2015, 154 Seiten, gebunden, 16,95 Euro, ISBN 978-3518424711

Gudrun (l.) und Valerie Fritsch bei der Lesung ihres gemeinsamen Lyrikbandes. © Christian Lund
Gudrun (l.) und Valerie Fritsch bei der Lesung ihres gemeinsamen Lyrikbandes. © Christian Lund
Wer sie überhaupt soweit gebracht hat, daraus macht Valerie Fritsch keinen Hehl: „Meine literarische Sozialisation begann mit den Vorlesestimmen meiner Eltern, der familiären Vertonung kleiner Welten, vollgestopft mit verrückten Persönlichkeiten und sprechenden Tieren, die – stets auf Krawall gebürstet – zu großen Abenteuern loszogen“, schreibt sie im Standard (7. November 2015). Es ist also wohl kein Wunder, dass sie mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch gemeinsam einen Lyrikband verfasst hat, der im Februar 2015 im Leykam-Buchverlag erschienen ist („Kinder der Unschärferelation“). „Diese Frau hat mir das Lesen und Schreiben und die Liebe zur Literatur beigebracht“, sagt Valerie Fritsch über ihre Mutter. Ist es also ein Geschenk der Tochter an die Mutter, die von sich selbst sagt, ihr Wunsch sei es immer gewesen, dass ihre Lyrik mal veröffentlicht wird? Nein, vielmehr ist es ein Geschenk untereinander, eine Art Familienlyrik, verfasst von den drei Frauen-Generationen der Familie Fritsch. Denn der Sammlung ist auch ein Gedicht von Valerie Fritschs Großmutter und Gudrun Fritschs Mutter beigefügt, ein Sterbegedicht, das bislang unveröffentlicht war. Sehr privat ist das, was wir lesen, Gespräche zwischen Müttern und Töchtern, aber auch gesellschaftliche Themen, verknappt mit den Worten der Lyrik.

„Es war sehr chaotisch“

„Wir hatten anfangs eine große Auswahl von Gedichten meiner Mutter, die ich in Kartons entdeckt habe – es war sehr chaotisch“, erinnert sich Valerie Fritsch schmunzelnd. In einigen Sommertagen habe sie dann ein paar Gedichte hinzugeschrieben, und so sei schnell der nun vorliegende Lyrikband entstanden. Familie, das macht Valerie Fritsch auch in diesem Gespräch deutlich, ist für sie, die sie oft monatelang unterwegs ist, der Herzenshafen, in den ihr Schiff immer wieder gern zurückkehrt: „Ich freue mich jedes Mal auf die Familie, auf den Hund, ja, vor allem auf die weichen Ohren des Hundes.“

Valerie Fritsch/Gudrun Fritsch: kinder der unschärferelation, Leykam-Buchverlag, Graz, 2015, 88 Seiten, broschiert, 14,90 Euro, ISBN 978-3701179619

Adolf Muschg stellt seinen Roman "Die japanische Tasche" vor. © Christian Lund
Adolf Muschg stellt seinen Roman „Die japanische Tasche“ vor. © Christian Lund
Es ist wahrlich schwer, einen passenden Übergang von den wohlig weichen Hundeohren zu Adolf Muschg zu finden, aber tatsächlich hielt der Schweizer nicht nur eine verschwurbelte Eröffnungsrede bei der Buch Wien 2015, sondern er war auch gekommen, um sein neues Buch „Die japanische Tasche“ (C.H.Beck-Verlag, Leseprobe) vorzustellen. Zentrales Motiv seines Romans sei „das Verschwinden einer Person“, sagte Muschg, nachdem er die Anfangsszene vorgelesen hatte. Darin berichtet er durchaus mit scharfer Beobachtungsgabe und feinem Witz, wie die Fahrgäste eines Zuges reagieren, der soeben einen Menschen überfahren hat. Diesen Vorfall habe er in eben jenem Zug selbst erlebt. „Wir wurden zu einer zusammengewürftelten Leichengesellschaft – die Leute fingen an zu reden und es gab diese merkwürdige Leichtigkeit, die sich einstellt, weil niemand den Getöteten gekannt hat.“

Dann aber verzettelt sich Muschg bei der Antwort auf die Frage nach dem Inhalt seines Buches. Er beginnt zu erklären, dass die Hauptfigur Historiker sei, und gerät darüber ins Fabulieren über Geschichte im Allgemeinen und Besonderen. Er schweift ab zum Kurz- und Langzeitgedächtnis der Menschen in Bezug auf die deutschsprachige Geschichte, vergleicht das Geschichtsverständnis seines Sohnes mit dem seinigen, und darf den nächsten und übernächsten Gedanken auch noch weiterspinnen, ohne von der Moderatorin unterbrochen zu werden. Inzwischen weiß der Zuhörer nicht mehr über das Buch als zu Beginn, wohl aber, dass Adolf Muschg offenbar selbst gerne der Leser seines Buches und Hörer seiner Worte ist.

Adolf Muschg: Die japanische Tasche, C.H.Beck Verlag, München, 2015, 484 Seiten, gebunden, 24,95 Euro, ISBN 978-3406682018

Gewalt als attraktive Handlungsoption

Jörg Baberowski bei der Vorstellung seiner Studie "Räume der Gewalt". © Christian Lund
Jörg Baberowski bei der Vorstellung seiner Studie „Räume der Gewalt“. © Christian Lund
Viele Zuhörer fand am Mittag schließlich noch der Berliner Historiker und vielfach ausgezeichnete Stalinismusforscher Jörg Baberowksi, der sein Buch „Räume der Gewalt“ (S. Fischer Verlag, Leseprobe) vorstellte. Darin vertritt er die These, dass Gewalt für jedermann eine zugängliche und deshalb attraktive Handlungsoption war und ist, und kein „Extremfall“. Wer wirklich wissen wolle, was geschieht, wenn Menschen einander Gewalt antun, müsse eine Antwort auf die Frage finden, warum Menschen Schwellen überschreiten und andere verletzen oder töten.

Das interessante Gespräch wurde live in der Sendung „Von Tag zu Tag“ im Radiosender Ö1 übertragen, so dass auch Hörer zugeschaltet werden konnten, um Fragen zu stellen. So mutmaßte ein Hörer, dass Gewalt doch etwas mit Überforderung zu tun habe und dass Menschen deshalb im wahrsten Sinne des Wortes über die Strenge schlagen würden. „Ja und nein“, antwortete Baberowski. Man dürfe nicht den Fehler machen und davon ausgehen, dass Gewalt vor allem in ärmlichen oder ungebildeten Verhältnissen zu Tage trete. Gewalt sei aber sehr wohl ein Ausdruck der Überforderung, wenn die Worte nicht mehr ausreichen, um gehört zu werden. „Der Gewalttäter bleibt im Gespräch“, formuliert Baberowski. Schlägt jemand zu, richte sich die Aufmerksamkeit sofort auf den Gewaltanwender und sein Opfer.

Gewalt definiert der bekannte Historiker als „Machtaktion der Unterwerfung, die auf den Körper wirkt“. „Gewalt braucht immer Opfer und Täter – Menschen müssen den Täter sehen, damit sie Gewalt verspüren“, meint Baberowski. Gewalt sei deshalb immer auch an das Erleben des Opfers gebunden. Mit struktureller Gewalt könne er deshalb nichts anfangen, die davon ausgeht, Gewalt äußere sich in der Beeinträchtigung von Minderheiten.

Jörg Baberowksi: Räume der Gewalt, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 272 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3100048189

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