Finale ohne Finesse

mind-controlWenn Sie all jene Menschen sehen, die im Alltag auf ihre Handys und Tablets starren und die Umgebung völlig zu vergessen scheinen, denken Sie manchmal daran, dass ein Bösewicht sie alle hypnotisiert? Dass er Schindluder mit ihnen treibt? Sie sollten das in Erwägung ziehen, oder Stephen Kings neuer Roman „Mind Control“ wird Ihnen brutal die Augen öffnen. Dabei ist der abschließende Roman der Trilogie um den pensionierten Cop Bill Hodges leider nicht so raffiniert und brillant gelungen wie seine beiden Vorgänger.

Die unheilbringenden Geräte in Kings neustem Wurf sind keine Mobilfunkgeräte, sondern etwas viel profaneres: tragbare Videospielsysteme aus vergangenen Zeiten, als solche Spiele noch auf kleinen LCD-Bildschirmen liefen. Man könnte meinen, die Dinger locken heutzutage nur noch Sammler und Nerds hinter dem Ofen hervor. Und dennoch: Ob Teenager, Krankenschwester oder ein querschnittsgelähmtes Unfallopfer – die billig produzierten Spiele üben auf die Menschen in „Mind Control“ einen seltsam faszinierenden Reiz aus.

Nicht von ungefähr, das darf man wohl verraten, stehen sie alle in Verbindung zu einem Mann namens Brady Hartsfield, der im April 2009 bei einer Amokfahrt acht Menschen getötet und dutzende weitere verletzt hat. Jenem Hartsfield, dem King mit dem ersten Roman der Hodges-Trilogie („Mr. Mercedes“, Rezension) eine Stimme gegeben hat – und die man bis zum Ende des zweiten Teils für endgültig verstummt hielt.

Geschickter Schachzug

Ja, Hartsfield ist zurück, und er will sich rächen – an den vielen jungen Mädchen, die bei seinem letzten großen Coup nicht gestorben sind, vor allem aber an seinem Erzfeind Hodges. Der hatte mit seinem Team den verheerenden Anschlag auf ein Boygroup-Konzert verhindert, Hartsfields Hirn zu einer undefinierbaren Masse zerschlagen und ihn zu einem Pflegefall gemacht. Den Bösewicht zurück auf die Bühne zu heben, ist ein geschickter Schachzug. Aber es ist kein guter, der das Spiel in eine andere Richtung bringt.

Der Plot wirkt, als seien dem Meister des Horrors und des Grauens die Ideen ausgegangen. Schon aus „Mr. Mercedes“ weiß der Leser, dass Hartsfield überzeugend einen anderen Menschen zum Suizid bringen kann. Jetzt soll er trotz zerstörtem Hirn und mit ein wenig übermenschlichen Kräften in der Lage sein, sein suizidales Werk zu verfeinern.

Hätte es nach dem fulminanten Thriller-Auftakt mit „Mr. Mercedes“ und dem wahrlich begeisternden zweiten Teil („Finderlohn“, Rezension), der eine lesenswerte Abhandlung über das Spannungsverhältnis zwischen Leser und Autor war, nicht einen würdigen und adäquaten Abschluss geben können? Das skurrilste Ermittler-Trio der Horror-Welt, das man im ersten Teil so lieben gelernt hat, schwächelte bereits im zweiten Roman, nur um im Finale seine Extravaganz völlig zu verlieren.

Es riecht nach einem Showdown

In „Mind Control“ bleiben nur noch zwei Hauptcharaktere übrig: Brady Hartsfield und Bill Hodges, dem jetzt auch noch die Gesundheit schwer zu schaffen macht. Das riecht nach einem Showdown! Und diese Vorhersehbarkeit der Geschichte ist ein weiterer Kritikpunkt.

Es fehlt an Rückschlägen, an Abzweigungen, unvorhersehbaren Wendungen, für die King so bekannt ist. Viel zu linear ist dieser Roman erzählt, wenn man von den teilweise auch noch ziemlich langen Rückblenden absieht, die Nichtkenner der ersten beiden Teile ins Boot holen soll. Nein, dieser Roman ist zu dürftig und zu wenig originell, als dass er der Wucht der Vorgänger gerecht werden könnte. Schade, dass Kings fantasievoller Ausflug in die Detektivgeschichten mit so einem schwachen Schlusspunkt enden muss.

Stephen King: Mind Control, Heyne Verlag, München, 2016, 528 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, ISBN 978-3453270862, Leseprobe, Buchtrailer

Diese Rezension ist in gekürzter Fassung auch im Wochenendmagazin der Neuen Westfälischen (Samstag/Sonntag, 10./11. Dezember 2016) erschienen.

Hart, aber herrlich

neonregenEndlich haben die deutschen Leser James Lee Burke für sich entdeckt. Schon in den 90er Jahren gab es Versuche, den US-amerikanischen Autor auf dem deutschen Buchmarkt zu etablieren – ohne durchschlagenden Erfolg. Jetzt scheint seine Zeit gekommen zu sein. Dem kleinen Pendragon-Verlag aus Bielefeld gebührt dabei alle Ehre, denn dort werden in den nächsten Jahren alle 20 Bände der Dave-Robicheaux-Reihe erscheinen, teilweise erstmalig auf Deutsch. Mit „Neonregen“ ist im Sommer 2016 der Band veröffentlicht worden, in dem der eigenwillige Krimi-Held zum ersten Mal die Bildfläche betritt. Sie sind Hardboiled-Fan? Dann sollten Sie das gelesen haben!

Dave Robicheaux ist Lieutenant beim New Orleans Police Department und bekommt von einem zum Tode Verurteilten den Hinweis, dass die kolumbianische Drogenmafia zu gerne seinen Kopf hätte. Der Organisation ist nämlich sauer aufgestoßen, dass Robicheaux vor einiger Zeit die Leiche einer jungen Frau aus dem Wasser gezogen hat, die die Mafia da so sicher versenkt geglaubt hatte. Ziemlich ärgerliche Sache für die Mafia, denn Robicheaux hat Lunte gerochen und ermittelt jetzt gegen alle Widerstände, auch gegen die der CIA. Mit seinem besten Freund Clete Purcel macht er den bösen Jungs und Querschlägern aus den eigenen Reihen deutlich: So läuft das hier nicht!

Und Robicheaux ist wirklich ein Held, ein toller Kerl und ein feiner Mann zugleich. Vietnam-Veteran und Kenner der englischen Literatur. Ein harter Hund mit Idealismus. Lebenssüchtig, aber auch alkoholkrank und deshalb eher für Softdrinks zu haben. Und die fantastischen Beschreibungen des Aufgießens eines Dr. Peppers in ein mit Crushed Ice aufgefülltes Glas macht unbändige Lust, es dem Ermittler gleichzutun. Wer sie beim Lesen nicht spürt, dem entgehen womöglich auch die anderen intensiven Fabulierkünste Burkes. Der Autor vermag es, über mehrere hundert Seiten ein bildgewaltiges Kopfkino zu erzeugen, das mitunter allerdings auch recht blutig und brutal ausfällt. Zimperliche Seelen sollten deshalb hier eher nicht zugreifen. Nicht umsonst gehören die Robicheaux-Krimis zum Hardboiled-Genre.

Chronist der Zeitgeschichte

Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Burke auch ein Chronist der Zeitgeschichte ist, denn seine Bücher spiegeln immer die aktuelle politische Lage wieder. In „Neonregen“, den Burke erstmalig 1987 veröffentlichte, ist die Iran-Contra-Affäre das wichtige Thema. Die Contras waren eine Guerilla-Bewegung in Nicaragua, die gegen die sozialistische Regierung kämpfte. Zur Unterstützung leitete die damalige US-Führungsspitze unter Ronald Reagan Gelder aus geheimen Waffengeschäften mit dem Iran an die Contras weiter. Die wiederum hatten jahrelang tonnenweise Kokain in die USA geschmuggelt, was die CIA auch wusste, aber dagegen nichts unternahm.

Die Robicheaux-Reihe sollte man natürlich mit „Neonregen“ beginnen. Der Pendragon-Verlag hat bereits Band 2 der Reihe veröffentlicht („Blut in den Bayous“). Dann aber wird’s schwierig mit der Lesereihenfolge, denn bisher sind ansonsten nur „Mississippi Jam“ (Band 7, zur Rezension) und „Sturm über New Orleans“ (Band 16) erschienen. Ein Manko? Nein, die unsortierte Veröffentlichung ist nicht hinderlich für den Lesegenuss, denn Robicheauxs persönliche Historie wird in jedem Roman ausreichend erklärt. Greifen Sie zu!

James Lee Burke: Neonregen. Ein Dave-Robicheaux-Krimi (Band 1), Pendragon Verlag, Bielefeld, 2016, 432 Seiten, Taschenbuch, 17 Euro, ISBN 978-3865325488

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Philosophie in wüsten Zeiten

imageIn seiner spanischen Heimat erschien das Buch „Odem“ des katalanischen Comic-Künstlers Max bereits 2012. Deutsche Comic-Fans mussten sich gedulden, bevor das Werk jetzt auch im Avant-Verlag aus Berlin erhältlich ist. Es erzählt hervorragend gezeichnet und mit zahlreichen philosophischen Bezügen von Nick, der in die Einsamkeit der Wüste flüchtet. Ein Buch, das man aufmerksam lesen sollte.

Nikodemus hat die Nase voll (und er hat eine ziemlich lange Nase!). Der Lärm und die Oberflächlichkeit der Welt nerven ihn vollends. Nur die Wüste erscheint ihm noch als einziger Rückzugsort, um den Sinn, den „endgültigen, unanfechtbaren Sinn, falls es den gibt“, zu finden. „Ich habe es satt, und zwar alles! Die Welt und die Menschen, die Dinge und die Ideen, die Wörter und die Bilder!“ Spricht’s und kippt rücklings in die Wüste.

Doch dass die Wüste lebt, wusste schon der Dokumentarfilmer James Algar. Und so verwundert es nicht, dass Nikodemus zunächst auf einen ziemlich grundentspannten Kater namens Moses trifft, der die Dinge gerne vereinfacht, zu allererst die Namen. So wird aus Moses Mosh und aus Nikodemus Nick – der übrigens in des Katers Augen einen ziemlichen Sonnenstich hat. Neben der wahrlich coolen Socke Mosh trifft Nick auch noch die kleptomanische Elster Juanita, einen traumdeutenden Schiffbrüchigen sowie seinen eigenen Schatten.

Die Geschichte einer Entsagung

Allerlei Ablenkungen versuchen ihn, vom rechten Weg abzubringen, und seine letzte Prüfung kommt mit der betörenden Allmacht der unnahbaren Königin von Saba. „Odem“ ist auch die Geschichte einer Entsagung, um dadurch der absoluten Wahrheit begegnen zu können. Wer Nick nicht in sein Herz schließt, hat wohl noch nie eine Sinnkrise erlebt.

Nicks Suche nach seinem spirituellen Gleichgewicht wird in wunderbar stilisierten Schwarz-Weiß-Zeichnungen erzählt und passt damit hervorragend in die klare Farblosigkeit der Wüste. Gerne wird seine klare Linie mit der des US-Comic-Erneuerers Chris Ware verglichen.

Max selbst erklärt zu Beginn des vorliegenden Buches, es sei partiell inspiriert von „The Wiggle Much“, der „einzigartigen, legendären Comicarbeit von Herbert E. Crowley“. Der frühe, sehr surreale Comic erschien zwischen März und Juni 1910 auf dreizehn halbseitigen Seiten in der New York Herald Tribune. Als Hommage lässt Max die von Crowley erfundene Figur in einem seiner Panels auftauchen.

Einer der bekanntesten spanischen Comic-Künstler

Max, mit bürgerlichem Namen Francesc Capdevila, wurde 1956 in Barcelona geboren und gilt heute als einer der bekanntesten spanischen Comic-Künstler und ist vielfach preisgekrönt. „Odem“ wurde 2013 beim internationalen Comicsalon in Barcelona als bestes nationales Werk nominiert. Auf Deutsch erschienen bereits „Der geheime Kuss“ und „Der Werwolf Punk“ beim Alpha Comic Verlag, sowie „Der lange Traum des Herrn T.“ und „Bardín der Superrealist“ bei Reprodukt.

Lesen Sie „Odem“ und erkennen Sie, dass man selbst in der Wüste nicht von Ablenkungen verschont bleibt. Sind Sie gar selbst in einer Sinnkrise, so ist „Odem“ eines dieser Bücher, die für surrealistisch-philosophisch veranlagte Menschen eine durchaus hilfreiche Lektüre sein können.

Max: Odem, Avant-Verlag, Berlin, 2016, 111 Seiten, gebunden, 24,95 Euro, ISBN 978-3945034491, Leseprobe

Seitengang dankt dem Avant-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Inseln am Rande der Wirklichkeit

Lexikon der PhantominselnDie Ozeane und Meere sind mittlerweile fast vollständig erforscht. Dennoch sind auch heute noch in vielen Navigationskarten Inseln aufgeführt, die tatsächlich nur reine Phantasie sind. Jahrhunderte lang haben Entdecker immer wieder nach solchen Phantominseln gesucht – und sie nie gefunden. Davon zeugt höchst aufschlussreich das wunderbare „Lexikon der Phantominseln“ von Dirk Liesemer, das jetzt im Mare-Verlag erschienen ist. Es ist ein kleiner Schatz, bibliophil aufgemacht und mal spannend, mal belustigend erzählt.

Als die LZ-127 „Graf Zeppelin“, das damals größte Luftschiff der Welt, im Sommer 1931 von Berlin aus die Reise in die Arktis beginnt, hoffen die Forscher an Bord nicht nur auf einen neuen Rekord für die Luftfahrt (noch nie ist ein Zeppelin so weit nach Norden gelangt). Sie hoffen auch darauf, unbekannte Inseln zu entdecken, denn Anfang des 20. Jahrhunderts ist kaum eine Region derart wenig erkundet wie die Polargebiete.

Doch die Passagiere, zu denen auch drei Reporter gehören, enthüllen vielmehr, dass eine im Franz-Josef-Archipel kartierte Insel (Armitage Island) nur eine Halbinsel ist, eine andere namens Albert Edward Island gar nicht existiert, und Harmsworth Island, 1897 von dem britischen Polarforscher Frederick George Jackson entdeckt, ebenfalls nicht vorhanden ist. Der US-Wissenschaftler Lincoln Ellsworth funkt nach Amerika: „Aktuelle Karten nicht korrekt. Albert Edward Island und Harmsworth Island existieren nicht.“

Schlaraffen-Eiland mit Früchten und Edelsteinen

„Aktuelle Karten nicht korrekt“ – dieses Schicksal teilen sich viele historische Karten und Globen der vergangenen Jahrhunderte. Zum Beispiel die des mallorquinischen Geografen Angelino Dulcert, der im Jahr 1325 eine legendäre Insel in sein Werk einträgt, von der sich die Menschen bislang nur erzählt haben, eine Art Schlaraffen-Eiland mit süßen Früchten an den Bäumen und glänzenden Edelsteinen auf der Erde. Keltische Mönche haben sie im 6. Jahrhundert zum ersten Mal erwähnt, und mit der Zeit verfestigt sich die Geschichte zu einer echten Insel. Und wie eine Geschichte verändert sich auch die Form. Mal ist sie groß und schlank, mal klein und rund. Aber hat sie wirklich jemand gesehen? Ja, ein Kapitän namens John Nisbet of Killybegs will die Insel 1674 tatsächlich betreten haben und erzählt eine nicht minder spannende Geschichte von altmodisch gekleideten Männern, Schafen, schwarzen Hasen und einem Schloss.

Viel Seemannsgarn wird gesponnen, um die eine oder andere Insel aus den Fluten auftauchen zu lassen. Der amerikanische Kapitän Benjamin Morrell etwa, der zeit seines Lebens Abenteuergeschichten und Reiseliteratur verschlungen hat, ist dafür verantwortlich, dass mindestens zwei Inseln das Licht der Welt erblickten, ohne dass es sie je gegeben hätte. Morrell trieb nicht nur die Lust am Geschichtenerfinden an, sondern auch die Geltungssucht – endlich würde man auch ihn einen Entdecker nennen. Beide Phantominseln waren übrigens auch kurzzeitig der Grund für eine Verschiebung der internationalen Datumsgrenze. Geltungssucht hin oder her, aber schon damit hat sich Kapitän Morrell in die Geschichtsbücher geschrieben.

Ja, es sind die verschiedensten Motive, aus denen manche eine Insel erfunden haben. Oft hat Politik eine Rolle gespielt, dann und wann aber hat auch die Natur den Seefahrern einen Streich gespielt und sie sind einer Fata Morgana aufgesessen. Manchmal sind sie nur im Nebel herumgeirrt, dann wieder stimmten Messungen und Standortbestimmungen nicht – mit technischen Hilfsmitteln wie GPS ist das heutzutage kaum noch vorstellbar. Doch eine der 30 Phantominseln hat es sogar noch in die hochtechnologisierte Zeit geschafft: Das mysteriöse Sandy Island im östlichen Korallenmeer war bis November 2012 bei Google Earth als Insel zu finden. Erst eine Expedition der University of Sydney und ein Bibliothekar am Auckland War Memorial Museum in Neuseeland erkennen: Die Insel ist ein Hirngespinst.

Von Irrfahrten, Christoph Kolumbus und anderen großen Entdeckern

Liesemer erzählt sehr einnehmend von allerlei Irrfahrten durch die Meere, von Christoph Kolumbus und anderen großen Entdeckern. Im Nachwort erklärt Liesemer, die Quellenlage sei schwierig gewesen, bis heute gebe es nur eine begrenzte Auswahl an Sekundärliteratur. Umso begeisternder ist seine detaillierte Beschreibung, seine Fähigkeit, trotz der wissenschaftlichen Hintergründe die Inselgeschichten so mitreißend erlebbar zu machen.

Das liegt vielleicht auch daran, dass dem Autor die Seefahrergeschichten zweifelsohne in die Wiege gelegt worden sind – sein Vater, ein gestrandeter Kapitän zur See, hatte mehr als zehn Jahre in der Südsee verbracht und war zeitweise Privatkapitän des Gouverneurs von Guam gewesen. Liesemer, 1977 im westfälischen Steinheim (Kreis Höxter) geboren und aufgewachsen im lippischen Feldrom, studierte Politik und Philosophie in Münster und Rennes und arbeitete später als Redakteur in Berlin und München. Heute lebt und arbeitet Liesemer als Autor und freier Journalist in Leipzig. Das „Lexikon der Phantominseln“ ist sein erstes Buch.

Die optische Gestaltung ist hervorragend: Schon auf dem Vorsatzpapier sind auf einer Karte die 30 Phantominseln eingezeichnet, und zu fast jeder Insel sind im Innenteil neue Karten angefertigt worden. Dazu werden einführend jeweils Position, Größe, Sichtungen und die historischen Karten kurz benannt. Von außen lassen Buchschnitt und Lesebändchen in herrlichstem Meerblau Bibliophile wonnig seufzen. Einzig und allein hätte ein Schuber den Eindruck noch perfektioniert. Segelfreunde, Kapitäne von allerlei Wasserstraßen, große und kleine Entdecker sowie all jene, die dem Meer schlichtweg hoffnungslos erlegen sind, sollten Kurs nehmen und dieses fantastische Bändchen an Bord nehmen. Segel setzen und denn man tau!

Dirk Liesemer: Lexikon der Phantominseln, Mare-Verlag, Hamburg, 2016, 157 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3866482364

Diese Rezension ist in gekürzter Fassung auch im Wochenendmagazin der Neuen Westfälischen (Samstag/Sonntag, 29./30. Oktober 2016) erschienen.

Gewaltige Fabulierkunst

Mississippi JamWie Phönix aus der Asche steigt seit einiger Zeit der US-Autor James Lee Burke auf dem deutschen Buchmarkt auf und wird hier – endlich! – gefeiert. Nach weniger erfolgreichen Versuchen der Verlage Ullstein und Goldmann in den 90er Jahren, ihn den deutschen Lesern schmackhaft zu machen, gelingt das nun dem Heyne-Verlag, vor allem aber dem Bielefelder Kleinverlag Pendragon. Letzterer hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle 20 Bände der Dave-Robicheaux-Reihe zum Teil erstmals auf Deutsch herauszubringen. Eine wahre Wucht von nervenaufreibendem Hardboiled-Krimi ist der 588-Seiten-Wälzer „Mississippi Jam“.

Das Buch ist unbedingt zu empfehlen – das weiß man besser, bevor man etwas über den Plot erfährt. Es klingt einfach geradezu hanebüchen: 1942 soll vor dem Mississippi-Delta ein U-Boot der Nazis gesunken sein, an Bord ein sagenumwobener Nazi-Schatz. Einige zwielichtige Schatzsucher wollen das Wrack rund 50 Jahre später bergen, und niemand Geringeres als ausgerechnet Dave Robichaeux weiß, wo das Ding liegt. Robicheaux ist Detective und Bootsverleiher mit Anglerladen in New Orleans, hat mittlerweile einiges auf dem Kerbholz, Vietnam-Erfahrungen und Alkohol-Narben, aber immerhin eine tolle Frau, seine dritte.

Ja, er ist ein ziemlich harter Hund, und dennoch erschüttert es ihn, als ihm nicht nur die städtischen Gangster auf den Pelz rücken, sondern auch noch der skrupellose Neo-Nazi Will Buchalter deutlich macht, dass auch er ein intensives Interesse an dem U-Boot hat. Man könnte jetzt sagen: komm, das ist eine schöne Südstaaten-Posse. Aber „Mississippi Jam“ geht empfindlich darüber hinaus. Denn was der Nazi-Psychopath da so abliefert, gehört zu den krassesten gewaltlosen Wunden, die man so schlagen kann. Und damit nicht genug. James Lee Burke ist ein famoser Fabulierer! Wie er die rivalisierenden Milieus der Stadt zeichnet und den florierenden Drogenhandel, den Rassismus und Judenhass, und wie liebevoll und gleichzeitig erbarmungslos er Menschen beschreibt, das ist literarisch auf hohem Niveau. Sie werden außerdem selten so intensive und mitreißende Schilderungen der Louisiana-Landschaft und ihrer Wetterumschwünge gelesen haben wie in „Mississippi Jam“.

Schneise der Verwüstung im Garten Eden

Und dann sind manche Passagen auch perfekte Vorlagen für das eigene Kopfkino. Allein die Szene, wie Robicheauxs bester Freund Clete Purcel ins Führerhaus einer Planierraupe steigt und damit eine Schneise der Verwüstung durch den Garten Eden und die Villa eines Mafiosos zieht, ist wahrlich eine Pracht und muss eigentlich auch auf die große Leinwand. Burke kommentiert lapidar: „Die Römer in Karthago konnten ihre Sache kaum besser und gründlicher gemacht haben.“ Viele andere Szenen könnten auch einer Tarantino-Idee entstammen, das heißt, man muss als Leser schon gewalttätige und blutige Auseinandersetzungen in Krimis mögen, um das Buch nicht zur Seite zu legen.

Burke hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Robicheaux nach seinem Vorbild geschaffen hat. Wie sein Krimi-Held hat auch der 79-jährige Burke eine Alkoholvergangenheit und wie sein Alter Ego wohnt er in der Stadt New Iberia nordwestlich von New Orleans. Sein Held ist nur nicht so mit renommierten Preisen überhäuft, darunter als einer von wenigen Autoren gleich zwei Mal mit dem Edgar-Allan-Poe-Award und mit dem Hammett Prize.

Seit 1987 hat Burke insgesamt 20 Bände für die Robicheaux-Reihe geschrieben. Der Bielefelder Pendragon-Verlag hat indes angekündigt, sie in den nächsten Jahren nach und nach auf Deutsch zu veröffentlichen, allerdings nicht chronologisch. „Mississippi Jam“, im amerikanischen Original 1994 als „Dixie City Jam“ veröffentlicht, ist der siebte Band. Zuvor ist mit „Sturm über New Orleans“ („The Tin Roof Blowdown“, 2007) schon Band 16 erschienen. Ganz neu hat Pendragon im Juli Band 1 („Neonregen“) der Reihe in einer überarbeiteten Übersetzung herausgegeben. Die unsortierte Veröffentlichung ist im Übrigen nicht hinderlich für den Lesegenuss, denn Robicheauxs persönliche Historie wird in jedem Roman ausreichend erklärt.

Dem Verlag aus Bielefeld ist jetzt Durchhaltevermögen zu wünschen, auf dass irgendwann tatsächlich alle 20 Bände über den hartgesottenen Sheriff auf Deutsch und in ansprechender Übersetzung vorliegen. Das wäre eine Pracht für alle Hardboiled-Fans, und für die Burke-Fans ohnehin. Dieser Mann ist einfach ein Könner seines Genres, und es wird Zeit, dass die deutschen Leser das endlich erkennen. Vielleicht braucht es einfach einen neuen alten Kult-Krimihelden. Voilà, dürfen wir vorstellen? Dave Robicheaux.

James Lee Burke: Mississippi Jam, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2016, 588 Seiten, broschiert, 17,99 Euro, ISBN 978-3865325273, Leseprobe

Diese Rezension ist in gekürzter Fassung auch im Wochenendmagazin der Neuen Westfälischen (Samstag/Sonntag, 3./4. September 2016) erschienen.