Buch Wien: Terézia Mora vergleicht Migration von Menschen und Literatur

Terézia Mora bei der Eröffnungsrede - © LCM Fotostudio Richard Schuster
Terézia Mora bei der Eröffnungsrede – © LCM Fotostudio Richard Schuster

Die neunte internationale Buchmesse „Buch Wien“ ist eröffnet. Am Mittwochabend sprach die gebürtige Ungarin Terézia Mora eine, wie sie ankündigte, 19 Minuten lange Festrede zum Thema „Sätze und Menschen“. Die Autorin solcher Romane wie „Alle Tage“, „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und „Das Ungeheuer“ verglich darin die Migration von Menschen und literarischen Texten: „Tatsache ist: Sobald ein Satz in der Welt ist, wird er migrieren.“ Hauptsächlich sprach Mora über Sätze und Zitate, die hinausgehen in die Welt, das Für und Wider der neuen digitalen Buchwelt sowie über das Urheberrecht. Sie machte jedoch auch keinen Hehl daraus, dass sie gleichzeitig über Migration sprach: „Einen öffentlich gemachten Satz am Migrieren zu hindern ist unmöglich, noch viel unmöglicher, als einen lebendigen Menschen daran zu hindern.“ Immer wieder streute sie Hinweise auf die Parallele ein, etwa als sie über die „Qualität des Aufnahmetextes“ sprach („Ich habe diesen Ausdruck aus dem Wort Aufnahmeland abgeleitet, um auch ‚die aktuellen Entwicklungen in Europa‘ nie lange aus den Augen zu verlieren“). Beim Urheberrecht sprach sie sich für weniger Angst und mehr Pragmatismus aus, und auch das durfte man wohl als Parallele verstehen.

Mora, das machte sie deutlich, gehört zu denjenigen, die in der Digitalisierung einer Erweiterung der Möglichkeiten sehen. Der Technologiewechsel bringe neue spannende Formen mit sich, etwa die erwartbaren Versuche einer SMS-Dichtung wie der Twitter-Roman von Jennifer Egan (zur Seitengang-Rezension) oder die Sammlung von bisher unveröffentlichten Gedichten auf Lyrikline. Längere Texte dagegen hätten es online bislang eher schwer. „Am ertragreichsten auf dem Feld der digitalen Literatur scheinen mir die Blogger.“ Es sei allerdings auch leichter, ein digitales Werk zu verändern als ein physisches wie ein Buch. Sie empfehle Autoren daher, immer das Werk auch drucken zu lassen, „wenn du ein integres Kunstwerk in den Händen halten willst“. Sie selbst gehe inzwischen auch immer mehr dazu über, Zeitungen aus Papier zu lesen, weil es dort unter den Artikeln keine Kommentarmöglichkeit gebe. Bei Büchern sei das ähnlich – da werde der Leser ebenfalls nicht von anderen mit ihren Kommentaren belästigt. „Es sei denn, du willst das, aber dafür musst du dann das Medium wechseln.“ (Lesen Sie hier die vollständige Rede von Terézia Mora.)

Zuvor hatte Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels, darauf hingewiesen, dass die deutschsprachigen Buchmessen immer politischer würden. Er erinnerte an die „Buch Wien“ des vergangenen Jahres, als Paris zur Zeit der Wiener Buchmessenparty von terroristischen Anschlägen erschüttert wurde. Auch der 9. November 2016 sei mit der Wahl des neuen US-Präsidenten Donald Trump ein historischer Tag, den Föger, keinesfalls beifällig, nur mit den Worten von Carolin Emcke kommentieren wolle, die diese bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gesagt habe: „Wow.“

Die feierliche Eröffnung der „Buch Wien“ begann indes mit einer kurzen Gedenkminute für die im August nach kurzer schwerer Krankheit verstorbene Inge Kralupper. Sie war langjährige Geschäftsführerin des Hauptverbands, hat die österreichische Buchbranche und Literaturszene geprägt und „ohne sie hätte es die ‚Buch Wien‘ nie gegeben“, erklärte Föger.

Liedermacher "Der Nino aus Wien" mit seiner Band - © LCM Fotostudio Richard Schuster
Liedermacher „Der Nino aus Wien“ mit seiner Band – © LCM Fotostudio Richard Schuster
Die darauffolgende „Lange Nacht der Bücher war ein voller Erfolg für die Veranstalter. Selten waren in den vergangenen Jahren die Bühnen der Messehalle so dicht umringt von Zuschauern wie in diesem Jahr. Den Anfang machte der Liedermacher Nino Mandl, besser bekannt als „Der Nino aus Wien“, mit seiner Band und zeigte die enorme Bandbreite seiner Kunst zwischen Folk, Wienerlied und Indierock. Sobald auf der kleinen Bühne der Poetry Slam begonnen hatte, moderiert von den österreichischen Poerty Slam-Ikonen Mieze Medusa und Markus Köhle, und umjubelt von den zumeist jungen Zuschauern, waren auf der großen ORF-Bühne manchmal die Autoren nicht zu verstehen, weil ihre Stimmen im Poetry-Jubel untergingen.

Leider musste der Auftritt der am Dienstagabend mit dem ersten Österreichischen Buchpreis bedachten Friederike Mayröcker abgesagt werden. Stattdessen schoben die Veranstalter eine Diskussion der Journalisten Franz Kössler (ehemaliger ORF-Korrespondent in Washington) und Eric Frey (Der Standard) über „Donald Trump und die Folgen“ ins Programm. Das Zuschauerinteresse hier war nur mäßig. Ganz anders noch sah das beim Auftritt des schwedischen Krimimeisters Arne Dahl aus, der seine neue Thriller-Serie vorstellte. Auch Dahl äußerte sich erschüttert über den Wahlausgang in den USA. Die ganze Welt verändere sich, und die Schweden haben bislang immer gedacht, sie seien eine Ausnahme. „Aber das stimmt nicht.“ Denn auch in Schweden seien populistische Parteien auf dem Vormarsch.

Arne Dahl (l.) im Gespräch mit Moderator Florian Scheuba - © LCM Fotostudio Richard Schuster
Arne Dahl (l.) im Gespräch mit Moderator Florian Scheuba – © LCM Fotostudio Richard Schuster
Dass der Name Arne Dahl nur ein Pseudonym von Jan Lennart Arnald ist, ist mittlerweile lange bekannt. Im Gespräch mit Moderator Florian Scheuba erklärte Dahl, er habe sich das Pseudonym ausgedacht, als er seine Erzähllust verloren habe. „Ich habe an den Spaßfaktor gedacht – Krimis zu schreiben macht viel mehr Spaß.“ Sein richtiger Name sollte geheim bleiben, aber nach fünf Jahren wurde er von einem Journalisten enttarnt. Das weckt natürlich Erinnerungen den sehr aktuellen Fall der Elena Ferrante („Meine geniale Freundin“), die in diesem Sommer enttarnt worden ist. Dahl dazu: „Das ist eine Privatsache, wenn man sich ein Pseudonym aussucht.“ Er könne es nicht verstehen, wenn ein Autor so gegen den Willen ins Licht gezerrt werde. Aber es ginge da ja auch wohl um viel Geld. Er selbst habe fünf Bücher unter Pseudonym schreiben können, erst dann habe man seinen echten Namen herausgefunden. Das erzürne ihn jedoch nicht mehr: „Es war Zeit für mich, ein Gesicht zu haben.“

Dann endlich las der Wiener Volkstheater-Schauspieler Stefan Suskse das zweite Kapitel aus Dahls neuem Thriller „Sieben minus eins“ vor. Um einen Killer zu schnappen, ist der soziopathische Kommissar Sam Berger auf die Hilfe seiner nicht minder soziopathischen Kollegin angewiesen. Bald erkennt der Ermittler, dass es tief verborgen in seiner Vergangenheit etwas gibt, das ihn mit den brutalen Verbrechen verbindet. Dahl: „Ich denke immer filmisch. Diesmal habe ich versucht, eine dichte Art von Spannung zu schaffen – und es wird filmisch, das verspreche ich Ihnen, es ist ein bildlich filmisches Buch.“ Passenderweise sind fast alle seiner Bücher inzwischen verfilmt worden. Ob auch dieser Roman dazu gehören wird, sei aber noch nicht sicher, sagte Dahl.

Dass dem ersten Band weitere folgen werden, ist indes klar. „Am Ende des Buches gibt’s einen Cliffhanger – es muss also mehr geben“, beantwortete Dahl die Frage des Moderators. „Als ich 80 oder 90 Seiten geschrieben hatte, merkte ich, dass die Chemie und Dynamik zwischen den beiden so gut war, dass es auf jeden Fall mehr Bücher geben muss.“

Bewundernswert: Arne Dahl brauchte keinen Übersetzer für das Gespräch, denn er sprach selbst sehr gut Deutsch. Darauf angesprochen sagte er, er habe sein altes Schuldeutsch wieder herausgeholt und versucht, es zu verbessern, denn er habe das Gefühl, bei Lesereisen durch Deutschland werde es so dynamischer auf der Bühne, als wenn man sich immer übersetzen lasse.

Arne Dahl: Sieben minus eins, Piper Verlag, München, 2016, 416 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3492057707, Leseprobe

Noch bis Sonntagabend werden bei der Buch Wien auf rund 8.800 Quadratmetern die Neuerscheinungen dieses Herbstes präsentiert. Seitengang ist noch bis einschließlich Samstagabend vor Ort und berichtet von der Buchmesse.

Seitengang berichtet von der Buch Wien 2016

bw16logoVom 7. bis 13. November berichtet „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ wieder von der Internationalen Buchmesse in Wien. Mehr als 400 Veranstaltungen an 31 Orten in der österreichischen Bundeshauptstadt, tausende Neuerscheinungen auf einer Messefläche von rund 8.000 Quadratmetern und Aussteller aus insgesamt 17 Nationen, das alles verspricht die diesjährige „Buch Wien“.

Für die Eröffnung des größten Bücher-Events Österreichs haben die Veranstalter einmal mehr eine hochkarätige Festrednerin verpflichtet: die gebürtige Ungarin Terézia Mora. Sie gehört zu den Großen der europäischen Literatur und hat mit Romanen wie „Alle Tage“, „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und „Das Ungeheuer“ beunruhigend intensive Bestandsaufnahmen unserer Gegenwart vorgelegt. In ihrer Eröffnungsrede wird sich die Trägerin des Deutschen Buchpreises 2013 mit der Digitalisierung unserer Welt und den aktuellen Umbrüchen in Europa auseinandersetzen. Im vergangenen Jahr konnte der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg mit seiner Rede über die Zukunft des Lesens nicht überzeugen.

Zum dritten Mal gibt es dann am Mittwochabend ein wahres Bücherfest – die sogenannte „Lange Nacht der Bücher“, die mit einem Konzert des Liedermachers „Nino aus Wien“ beginnt und dann Schriftsteller wie André Heller, Arne Dahl und Stefanie Sargnagel ins Gespräch bringt. Außerdem wird natürlich die Gewinnerin oder der Gewinner des am Vorabend verliehenen Österreichischen Buchpreises erwartet.

Zu den literarischen Stars der „Buch Wien“ gehören in diesem Jahr Namen wie Philipp Blom, Marjana Gaponenko, Veit Heinichen, Michael Krüger, Thomas Raab oder Dirk Stermann.

Sie erinnern sich nicht mehr an die „Buch Wien 2015“? Dann lesen Sie hier die Berichte noch einmal nach!

Buch Wien 2015 – Das Fazit

Die Messe Wien am Abend. © Christian Lund
Die Messe Wien am Abend. © Christian Lund
Vor rund einer Woche endete die achte Ausgabe der Internationalen Buchmesse „Buch Wien“. Die Veranstalter freuten sich über einen neuen Besucherrekord, denn erstmals waren mehr als 40.000 Bücherfans in die Wiener Messehalle gekommen (2014: rund 38.000). Mit rund 450 Veranstaltungen, Ausstellern aus 15 Nationen und Tausenden Neuerscheinungen bot die „Buch Wien“ auch in diesem Jahr wieder ein vielfältiges Programm. Hervorzuheben sind dabei besonders die begleitende Lesefestwoche sowie die erfolgreiche „Lange Nacht der Bücher“. Programmdirektor Günter Kaindlstorfer hatte also allen Grund zu jubilieren: „Es war eine fantastische Messe. Die ‚Buch Wien‘ ist aus dem Wiener Kulturkalender nicht mehr wegzudenken. Wir sind jetzt da angekommen, wo wir immer hinwollten.“

Dennoch: Es ist nicht zu übersehen, dass die Wiener Buchmesse noch immer am Anfang steht. Zum einen hat sich die Qualität des gedruckten Programmhefts nicht verbessert. Noch immer fehlt darin ein Autoren- und Ausstellerverzeichnis. Letzteres bekommt man zwar als Faltblatt auf der Messe, aber man muss dadurch immer mit zwei Heftchen herumhantieren. Das ist unglücklich gelöst. Das Autorenverzeichnis gibt es immerhin online, aber auch das wäre im gedruckten Programmheft für den Messebesuch hilfreich. Da geht die Leipziger Buchmesse nach wie vor mit gutem Beispiel voran.

Zum anderen ist es geradezu erstaunlich, wie wenig Mühe sich die Veranstalter der „Buch Wien“ machen, der Presse eine ordentliche Infrastruktur zu bieten. Journalisten und Blogger haben genauso ein Interesse daran, ihre Artikel schnellstmöglich an die Redaktionen und Blogs zu übermitteln, wie auch die Veranstalter daran interessiert sein müssten, dass regelmäßig und möglichst breit über die Messe berichtet wird. Das kann allerdings nur dann funktionieren, wenn Journalisten und Blogger unproblematisch einen WLAN-Zugang bekommen. Unproblematisch aber ist das bei der „Buch Wien“ nun gerade nicht.

Ein Ding der Unmöglichkeit

So habe ich am Abend der Messe-Eröffnung und der „Langen Nacht der Bücher“ am Presse- und Autoren-Schalter auf meine Frage nur ein Stirnrunzeln als Antwort bekommen, gefolgt von der Auskunft, dass sie da nicht Bescheid wüssten. Ich solle doch mal am Messestand des Hauptverbands des österreichischen Buchhandels nachfragen. Dort aber waren die Mitarbeiter noch emsig damit beschäftigt, den Stand aufzubauen und den Alkohol für die Eröffnungsfeier ranzuschaffen. Ich erkannte schnell, dass man mir an diesem Abend dort nicht würde helfen können. Ein Foto von der Eröffnung oder einer der Lesungen an jenem Abend auf Twitter, Instagram oder Facebook zu stellen – ein Ding der Unmöglichkeit.

Am nächsten Tag dachte ich, dass vielleicht schon andere Kollegen ähnliche Fragen gestellt haben, sodass die Mitarbeiter am Presse- und Autoren-Schalter jetzt besser informiert sind. Doch wieder nur dieselbe Antwort: Hier weiß man nichts, helfen kann nur der Hauptverband. Eine Mitarbeiterin dort vertröstete mich auf später, man müsse erst mit einem Messe-Manager Kontakt aufnehmen. Kann man innerlich mit der Stirn runzeln? Etwas Ähnliches dürfte ich getan haben. Sollte ich tatsächlich der einzige Journalist sein, der auf die Idee kam, seine Artikel direkt auf der Messe schreiben zu wollen? Sollte ich der Einzige sein, der direkt von der Messe twittern wollte? Und sollte ich der Einzige sein, der über die Fehlorganisation langsam verärgert war?

Rund zwei Stunden später traf ich einen anderen Mitarbeiter am Stand an. Der antwortete, er müsse nachfragen gehen. Er verschwand hinter einer Wand und ward rund fünf Minuten nicht mehr gesehen. Dann kam er mit einem Zettel zurück, auf den jemand einen Code geschrieben hatte. Handschriftlich. Ich frage mich: Wie viele von diesen Codes sind während der „Buch Wien“ in diesem Jahr geschrieben worden? Waren es so viele, dass der Mitarbeiter jetzt eine Sehnenscheidenentzündung hat? Oder war es nur einer: meiner?

Ein wahres Armutszeugnis

Die nächste Erfahrung: Dieser Code galt nur für ein Gerät. Wollte ich den Code auch noch für mein Tablet nutzen und nicht nur für mein Smartphone, brauchte ich also einen weiteren Code. Sollte ich also nun wirklich wieder zurück zum Messestand des Hauptverbands, den armen Mann wieder hinter die Wand schicken, damit er mir einen zweiten Code malt? Glücklicherweise waren die Codes so aufgebaut, dass man mit etwas mathematischem Grundverständnis einen weiteren erzeugen konnte. Wie durch ein Wunder war ich also am Donnerstagnachmittag endlich online. Für eine moderne Messe-Organisation aber war das ein wahres Armutszeugnis. Da verwundert es auch nicht, dass die „Buch Wien“ in den sozialen Netzwerken praktisch nicht stattfindet. Das deckt sich mit der Beobachtung, dass auch die ausstellenden Verlage bei Twitter, Facebook & Co. relativ wenig Werbung für die Buchmesse machen.

Dennoch lohnt sich der Besuch. Vielleicht auch gerade deshalb, weil sie eben nicht ist wie die Leipziger oder Frankfurter: groß, unübersichtlich, mit Tausenden von Besuchern, die sich täglich durch mehrere Messehallen schieben. Die „Buch Wien“ ist trotz Besucherrekord immer noch klein, familiär, angenehm. An den Messeständen kommen Besucher, Verlagsmitarbeiter und Autoren ins Gespräch, und für Kinder und Jugendliche wird das Angebot immer größer.

Enttäuscht war ich in diesem Jahr von der Eröffnungsrede der „Buch Wien“: Adolf Muschg, der eigentlich über die Zukunft des Lesens sprechen wollte, schrammte am Thema vorbei und konnte mich nicht überzeugen. Begeistert aber hat mich dagegen die Eröffnung der begleitenden Lesefestwoche mit dem Prager Ökonom Tomáš Sedláček. Ohnehin lag ein Schwerpunkt der Buchmesse im Bereich des politischen Sachbuchs: Von Colin Crouch und Tomáš Sedláček bis hin zu Orlando Figes, Ahmad Mansour und Jörg Baberowski waren eine Reihe von Stars nach Wien gekommen.

Internationale Roman-Autoren in der Stadt

Wie immer hat die Buchmesse auch internationale Roman-Autoren in die Stadt geholt: Aus Ägypten war Alaa al-Aswani mit seinem Roman „Der Automobilclub von Kairo“ zu Gast. Der französische Schriftsteller Jean-Philippe Blondel kam auf Einladung des Institut Français Wien mit seinem neuen Roman „Zweiundzwanzig“. Lizzie Doron diskutierte über „Who the Fuck is Kafka?“ und Jung Young Moon, einer der meistbeachteten Autoren Südkoreas, stellte seinen Roman „Vaseline Buddha“ vor. Nur einen Bruchteil von ihnen habe ich sehen können. Aber ganz besonders genossen habe ich die Lesungen von Valerie Fritsch, die zum einen ihren Anfang März veröffentlichten Roman „Winters Garten“ noch einmal vorstellte, zum anderen aber auch den Gedichtband, den sie mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch geschrieben hat.

Die Aussteller kamen in diesem Jahr aus 15 Nationen, doch es war nur eine, die vorübergehend ein wenig Furore machte: der Iran. Die umstrittene überparteiliche Initiative „Stop the Bomb“, die sich laut Wikipedia-Eintrag „mit prominenter Unterstützung gegen Geschäfte mit dem iranischen Regime und für die Unterstützung der säkularen, rechtsstaatlich-demokratischen Opposition im Iran engagiert“, war überzeugt, dass die „Buch Wien“ den Iran mit einem Messestand „belohne“. Dabei sei doch bekannt, dass das „iranische Regime, das Schriftsteller, Karikaturisten, Journalisten und politisch Andersdenkende verfolgt, verhaftet, wegsperrt und auspeitschen lässt“ in diesem Jahr „einen neuen Hinrichtungs-Rekord aufgestellt“ habe. Mehr noch: „Laut iranischen Regimemedien wird es am Messestand zudem tägliche ‚Beratungsgespräche‘ mit den einschlägig bekannten Islamisten und Khamenei-Vertrauten Nezamuddin Haeri Shirazi und Mohammad Kiarashi geben, die u.a. enge Kontakte zum ‚Islamischen Zentrum Hamburg‘ haben, dem wichtigsten Zentrum zur Verbreitung der antisemitischen Propaganda des iranischen Regimes in Europa.“ Die Initiative forderte deshalb die sofortige Ausladung des iranischen Regimes durch die Verantwortlichen der Buchmesse sowie eine Stellungnahme der Sponsoren.

Doch die Veranstalter der „Buch Wien“ rührten sich nicht, wie „Stop the Bomb“ via Twitter mitteilte:

Seitengang stellte sodann eine schriftliche Anfrage an die Presseabteilung der „Buch Wien“. Darin bat ich um eine Stellungnahme, andernfalls immerhin um die Mitteilung, keine Stellungsnahme abgeben zu wollen. Meine Mail blieb unbeantwortet.

So war viel Licht, aber auch ein wenig Schatten bei dieser „Buch Wien“ im Spiel. Wann die Wiener Buchmesse im Jahr 2016 ihre Pforten öffnet, ist noch nicht bekannt gegeben worden. Seitengang aber will auch im nächsten Jahr wieder von den Buchmessen berichten – zunächst aus Leipzig, dann aus Wien. Bleiben Sie mir gewogen!

Buch Wien: Besatzungskinder, Macht und Widerstand auf Bulgarisch und eine Revolution im Automobilclub

Die diesjährige Berichterstattung über die Buch Wien habe ich in der Nacht von Freitag auf Samstag unterbrochen. Grund war zum einen, dass ich die Nacht nicht wie zuvor zum Schreiben, sondern vor allem zum Verfolgen der Nachrichten aus Paris genutzt habe. Zum anderen aber waren die von mir besuchten Veranstaltungen am Freitag – bis auf eine – nicht wirklich berichtenswert. Vermutlich habe ich schlichtweg die falsche Auswahl getroffen. Ich berichte nun also noch nach vom Freitag und Samstag. Am Sonntag habe ich bereits die Rückreise angetreten – mit einigen Büchern mehr im Gepäck.

Barbara Stelzl-Marx und Ö1-Moderator Wolfgang Popp. © Christian Lund
Barbara Stelzl-Marx und Ö1-Moderator Wolfgang Popp. © Christian Lund
Am Freitag stellte die österreichische Historikerin Barbara Stelzl-Marx ihr Buch „Besatzungskinder“ vor, das sich mit einem oft verdrängten Kapitel der Nachkriegsgeschichte beschäftigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Tausende von sogenannten Besatzungskindern zur Welt gekommen. Häufig waren sie und ihre Mütter Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt, und man nannte sie „Kinder des Feindes“, obwohl ihre Väter schon längst keine Feinde mehr waren. Seit mehr als 15 Jahren gehört die Kriegsfolgenforschung zu den Schwerpunkten der Autorin, mit denen sie sich intensiv auseinandersetzt. Das neue Buch nun sei das Ergebnis einer wissenschaftlichen Konferenz im Jahr 2012, auf der sich einige Besatzungskinder zum ersten Mal kennengelernt haben, sagte Stelzl-Marx. Auch zur Buch Wien waren rund zehn Besatzungskinder gekommen.

Offizielle Schätzungen gehen davon aus, dass es in Österreich rund 8.000 solcher Besatzungskinder gegeben hat. „Ich gehe davon aus, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist – meine Schätzungen belaufen sich auf rund 30.000 Kinder, wovon etwa die Hälfte russische Väter haben dürften“, erklärte Stelzl-Marx. Viele Kinder seien durch Vergewaltigungen entstanden, aber es gebe auch „unglaublich berührende Liebesbeziehungen“, obwohl Stalin Liebesbeziehungen oder gar eine Heirat zwischen Österreicherinnen und Rotarmisten verbot.

Als Beispiel nennt sie die Geschichte der Wienerin Tatjana Herbst, die im Oktober 1947 zur Welt kam. Ihr Vater, ein sowjetischer Soldat, und ihre Mutter führten eine innige Liebesbeziehung – bis der Rotarmist plötzlich versetzt wurde. Die Mutter schrieb einen Brief, den ein Freund des Geliebten am nächsten Tag abholen und mitnehmen wollte. Doch auch dieser Freund kam nicht mehr zurück. Und so wanderte dieser Brief ins Familienarchiv und findet sich inzwischen als rührendes Beispiel in Stelzl-Marxs Buch wieder. Ihren Vater hat Tatjana erst mehr als 40 Jahre später zum ersten Mal getroffen.

In den westlichen Besatzungszonen waren Eheschließungen dagegen erlaubt. Das berühmteste Beispiel ist wohl Marianne Faithful, deren Mutter in Wien einen britischen Besatzungsoffizier kennenlernte und mit ihm als sogenannte „war bride“ nach Großbritannien ging. Anfangs sei in Faithfuls Biografie nicht bekannt gewesen, dass sie die Tochter von Eva Hermine von Sacher-Masoch und einem Besatzer ist, erklärte Stelzl-Marx. Faithful selbst sagt (hier in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit, Zeit-Magazin Nr. 37/2014, 15. September 2014): „Ich will meine österreichische Herkunft auch gar nicht verleugnen, im Gegenteil, ich bin sehr stolz auf sie!“

Das Buch „Besatzungskinder“, das die stellvertretende Leiterin des Grazer Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung mit Silke Satjukow, einer Historikerin von der Universität Magdeburg, geschrieben hat, versammelt aber nicht nur die persönlichen Berichte der Besatzungskinder, sondern umfasst auch wissenschaftliche Erkenntnisse. Eine Leseprobe des im Böhlau-Verlag erschienenen Buchs gibt es hier.

Barbara Stelzl-Marx/Silke Satjukow: Besatzungskinder: Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland, Böhlau Verlag, Wien, 2015, 500 Seiten, gebunden, 35 Euro, ISBN 978-3205796572

Ilija Trojanow im Gespräch mit Kristina Pfoser. © Christian Lund
Ilija Trojanow im Gespräch mit Kristina Pfoser. © Christian Lund
Am Samstagmittag habe ich aufgrund nachzuholenden Schlafs leider die Lesung des ungarischen Dokumentarfilmers Péter Gárdos verpasst, der auf der Buch Wien seinen Roman „Fieber am Morgen“ (Hoffmann & Campe) vorgestellt hat. Dafür war ich aber rechtzeitig auf der Messe, um zwei weitere großartige Schriftsteller zu erleben: Ilija Trojanow sowie Alaa al-Aswani. Ersterer stellte seinen neuen Roman „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag) vor, sein „Lebensbuch“, wie er es selbst feierlich nennt. Es war für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und beim Debüt des „Literarischen Quartetts“ umstritten.

Im Wechsel kommen der Widerstandskämpfer Konstantin und der Offizier Metodi zu Wort, zwei Menschen, die exemplarisch stehen für das titelgebende Verhältnis von Macht und Widerstand im ideologischen Überlebenskampf des bulgarischen Sozialismus. „Beide bedingen sich gegenseitig, können ohne einander nicht sein“, findet Trojanow. Es seien zwei extreme Positionen, der Raum dazwischen, die Duckmäuser und Mitläufer, hätten ihn nie interessiert, sagt er. „Mich interessieren viel mehr diejenigen, die wir mit geschichtlichem Abstand als Helden bezeichnen würden, die heute unseren bequemen Alltag infrage stellen.“ Konstantin fällt schon in der Schulzeit der bulgarischen Staatssicherheit auf und entkommt ihrem Griff nicht mehr. Metodi ist Opportunist und Karrierist, ein Repräsentant des Apparats. Sie sind in einen Kampf um Leben und Gedächtnis verstrickt, der über ein halbes Jahrhundert andauert.

Sowohl Konstantin als auch Metodi haben einen unterschiedlichen Sprachduktus. Die beiden von Trojanow in Wien vorgelesenen Passagen haben das sehr deutlich gemacht. Es gibt jedoch auch eine fantastische Hörbuchfassung mit Ulrich Pleitgen als Konstantin und Thomas Thieme als Metodi (einen Auszug daraus gibt es hier). Trojanow dazu: „Thomas Thieme spricht den Metodi ganz wunderbar – der spielt ohnehin eher unangenehme Kerle, zuletzt Helmut Kohl.“

Trojanow wurde 1965 in Sofia geboren. Sein Onkel war im Widerstand aktiv, die Familie schnell im Auge der bulgarischen Staatssicherheit. Die Wohnung war verwanzt, und heute besitzt Trojanow Kopien der damals belauschten Gespräche, erzählt er in Wien. „Das ist toll, dass ich jetzt in den Protokollen der Stasi nachlesen kann, was gesprochen wurde, während ich in die Windeln gemacht habe.“ Dabei sei ihm auch aufgefallen, dass die Stasi nicht besonders gebildet gewesen sei. So habe sein lateinisch versierter Onkel zum Beispiel einmal „pro domo“ gesagt, und die Stasi habe auf dem Protokoll daneben notiert: „Überprüfen! Wer ist dieser Prodomo?“ Auch für seinen Roman „Macht und Widerstand“ hat Trojanow Stasi-Akten verwendet. „Diese Dinge kann man einfach nicht erfinden.“ Eine Leseprobe von „Macht und Widerstand“ gibt es hier, lesenswert ist auch das Interview zwischen Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow in der Wochenzeitung Die Zeit (Nr. 41/2015, 8. Oktober 2015).

Ilija Trojanow: Macht und Widerstand, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 480 Seiten, gebunden, 24,99 Euro, ISBN 978-3100024633

Alaa al-Aswani (r.) erzählt von seinem neuen Roman, neben ihm sein Übersetzer Hartmut Fähndrich. © Christian Lund
Alaa al-Aswani (r.) erzählt von seinem neuen Roman, neben ihm sein Übersetzer Hartmut Fähndrich. © Christian Lund
Auch der ägyptische Autor Alaa al-Aswani gehörte sicherlich zu den interessantesten literarischen Gästen der diesjährigen Buch Wien. Sein Roman „Der Jakubijân-Bau“ ist einer der meistgelesenen ägyptischen Romane, in der österreichischen Bundeshauptstadt präsentierte er nun sein neuestes Werk „Der Automobilclub von Kairo“. Ende der 40er Jahre herrschen im Automobilclub von Kairo Extravaganz und Dekadenz. Paschas und Monarchen gehen ein und aus, auch Ägyptens König zählt zu den Stammgästen. Bis die Dienerschaft des Clubs den Aufstand probt.

Wie bei Trojanow und vielen anderen Autoren war die Zeit zum Gespräch auch hier äußerst knapp bemessen. Drei Polizisten wachten über den Romancier, der eigentlich Zahnarzt ist. Der erzählte derweil, er habe das Gefühl, ein Roman sei wie eine lebendige Kreatur, die man füttern müsse. Nach und nach sei es aber eher ein Wald, der sich für die Leser, aber auch für den Schreiber öffne. „Ich als Autor habe nicht das Recht, das zu analysieren, was der Roman mit mir macht“, erklärte er. Immerhin: Das, was sich da verselbständigt, scheint seine Sache gut zu machen, denn seine Bücher werden mittlerweile in 35 Sprachen übersetzt, wie al-Aswani bescheiden zugibt.

Alaa al-Aswani ist dafür bekannt, dass er sich mit seinen Texten für ein freies und demokratisches Ägypten einsetzt. 2011 nahm er an der Revolution gegen Hosni Mubarak auf dem Tahrir-Platz teil. Sein Übersetzer Hartmut Fähndrich, der das Gespräch auf der Buch Wien moderierte, erklärte, Kritiker sähen in dem aktuellen historischen Roman auch Fragen der Zeit beantwortet. „Das freut mich“, antwortete der Autor verschmitzt. Und wie beim Arabischen Frühling ginge es in seinem Roman ja auch um eine Revolution. „Ich musste mir also nichts ausdenken, sondern einfach aus meiner eigenen Erfahrung schreiben.“ Andererseits könne man nicht jede Person ohne eine literarische Änderung in einem Roman verwenden. Es sei also trotz seiner eigenen Erlebnisse noch viel Fiktives darunter.

„Eine Revolution hat eine interessante Dynamik“, erklärte al-Aswani weiter. „Da gibt es auf der einen Seite die Menschen, die schon von Beginn an bereit sind, für die Freiheit anderer zu sterben, auf der anderen Seite sind die Regimebefürworter, aber dazwischen – da sitzen die Leute, die zwar leiden, aber nichts dafür geben wollen, um ihre Freiheit zu erlangen, die große Masse, die große passive Masse.“ Ilija Trojanow hatte diese Masse im als „Duckmäuser und Mitläufer“ bezeichnet. Auch Alaa al-Aswani hat dafür einen Begriff: Die Sofa-Partei. „Weil sie sagen: Nein, wir brauchen keine Revolution – unser Diktator macht zwar Fehler, aber er beschützt uns. Wir bleiben lieber, wo wir sind.“

Alaa al-Aswanis erste Romane konnten nur in einem kleinen privaten Verlag erscheinen. Derzeit sei die Publikationsfreiheit aber noch schlechter als unter Mubarak, sagte er. Trotzdem sehe er das lässig: „Der Diktator liest niemals Bücher und erst recht niemals Romane, das ist also kein Problem.“ Ich aber werde diesen Roman lesen, er steht jetzt mit einer tollen Widmung von al-Aswani in meinem Regal ungelesener Bücher. Eine Rezension dieses Romans folgt also beizeiten, die Leseprobe vom Verlag (S. Fischer Verlag) gibt es derweil hier.

Alaa al-Aswani: Der Automobilclub von Kairo, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 656 Seiten, gebunden, 24,99 Euro, ISBN 978-3100005557

Die Buch Wien 2015 war damit für mich beendet. In den nächsten Tagen werde ich – wie vor zwei Jahren auch – ein persönliches Fazit veröffentlichen. Und wenn alles klappt, berichte ich auch im Jahr 2016 wieder von der Buch Wien. Bleibt mir gewogen!

Buch Wien: „Ganz am Ende gibt’s einen Schnaps, und dann ist wieder alles gut“ (Valerie Fritsch)

Valerie Fritsch (l.) im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. © Christian Lund
Valerie Fritsch (l.) im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. © Christian Lund
Den Donnerstag der diesjährigen Buch Wien hätte man getrost auch in den „Fritsch-Tag“ umbenennen können, denn der Verfasser dieses Blogs sah den Höhepunkt nicht etwa in einem weiteren Auftritt von Adolf Muschg, sondern sowohl in der Lesung der herzerreichenden österreichischen Autorin Valerie Fritsch als auch im gemeinsamen Auftritt mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch am frühen Nachmittag.

Valerie Fritsch ist längst keine Unbekannte mehr. Spätestens seitdem der Suhrkamp-Verlag Anfang März 2015 ihren Roman „Winters Garten“ (Leseprobe) veröffentlicht hat, ist das Schriftstellerkollegium und die Literaturkritik von der jungen Autorin und ihrer Sprache begeistert. „Was macht Valerie Fritsch im Rest ihres Lebens, wenn sie jetzt schon so gut ist?“, fragt der Schweizer Autor Jürg Laederach. Und der österreichische Schriftsteller und Büchner-Preisträger Josef Winkler äußert sich frenetisch jubelnd: „Ich bin beglückt. Da kann man Gift oder Gegengift drauf nehmen, ich bin mir sicher, dass mit Valerie Fritsch ein Prosatalent in der österreichischen Gegenwartsliteratur aufgetaucht ist, von dem man noch viel hören wird.“

Winters Garten, das ist nicht nur „der Sehnsuchtsort, an den der Vogelzüchter Anton mit seiner Frau Frederike nach Jahren in der Stadt zurückkehrt“, wie der Verlag im Klappentext schreibt. Winters Garten ist auch der buchgewordene Wildwuchs von Valerie Fritschs Großmutter. Ein wilder Garten, den sie als Kind geliebt hat, obwohl die Großmutter in Kärnten „eigentlich ein böser Mensch“ war, bekennt Fritsch im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. Ohnehin sei die Natur für sie ein „großer Kraftquell“. Sie sei schon mit einem großen Urvertrauen auf die Welt gekommen, sagt sie. „Mir fehlt die Angst, ich könnte nicht mehr zurückkommen.“ Dabei ist sie nicht nur Autorin, sondern als Photokünstlerin auch Weitgereiste und furchtlose Entdeckerin der gefährlicheren Ecken dieser Welt. Nur eines macht sie bange: „Ich habe totale Angst vor Schlangen.“ Sie müsse nur eine in der Zeitung sehen, dann beschleunige sich schon ihr Puls.

Bis zur Erschöpfung parat stehen

Schonungslos ehrlich ist Valerie Fritsch aber vor allem dann, wenn sie offenbart, dass der ihr zuteil gewordene Erfolg sie nicht nur anfangs überrascht und gefreut hat, sondern mittlerweile auch müde mache: „Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal in meinem Bett geschlafen oder mit Menschen etwas unternommen habe, die ich wirklich kenne.“ Sie spricht davon, bis zur Erschöpfung immer parat zu stehen für die Leser, die Fans, den Verlag. Ständig auf Lesereise, ständig unterwegs, kaum im geschützten Raum der Familie, bei ihrem Hund, den sie so sehr liebt und der ihr Herzenswärme gibt. Und auch am Ende dieses Messetages wird ihre Stimme angeschlagen sein, weil sie aus ihrem Werk gelesen, gute und schlechte Fragen beantwortet und natürlich eifrig Bücher signiert und mit den Lesern geplaudert hat.

Aber auch das Romaneschreiben sei „Knochenarbeit“, sagt Valerie Fritsch. Gerade zum Ende eines Romans gerate sie in einen rauschartigen Zustand, in dem es nicht ungewöhnlich sei, dass sie frisch gewaschene Socken in den Kühlschrank lege oder ähnlich verquere Dinge tue. „Aber ganz am Ende gibt’s einen Schnaps, und dann ist alles wieder gut.“ Wer Valerie Fritsch beim Vorlesen zuhört („Winters Garten“ bei zehnseiten.de), läuft Gefahr, in einen ähnlichen Rausch zu geraten. Man möchte an ihren Lippen hängen, ihre eindringlichen Worte in sich aufsaugen dürfen, um sie für sich zu behalten und in passenden Augenblicken der Stille wieder hervornehmen zu können.

Valerie Fritsch: Winters Garten, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2015, 154 Seiten, gebunden, 16,95 Euro, ISBN 978-3518424711

Gudrun (l.) und Valerie Fritsch bei der Lesung ihres gemeinsamen Lyrikbandes. © Christian Lund
Gudrun (l.) und Valerie Fritsch bei der Lesung ihres gemeinsamen Lyrikbandes. © Christian Lund
Wer sie überhaupt soweit gebracht hat, daraus macht Valerie Fritsch keinen Hehl: „Meine literarische Sozialisation begann mit den Vorlesestimmen meiner Eltern, der familiären Vertonung kleiner Welten, vollgestopft mit verrückten Persönlichkeiten und sprechenden Tieren, die – stets auf Krawall gebürstet – zu großen Abenteuern loszogen“, schreibt sie im Standard (7. November 2015). Es ist also wohl kein Wunder, dass sie mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch gemeinsam einen Lyrikband verfasst hat, der im Februar 2015 im Leykam-Buchverlag erschienen ist („Kinder der Unschärferelation“). „Diese Frau hat mir das Lesen und Schreiben und die Liebe zur Literatur beigebracht“, sagt Valerie Fritsch über ihre Mutter. Ist es also ein Geschenk der Tochter an die Mutter, die von sich selbst sagt, ihr Wunsch sei es immer gewesen, dass ihre Lyrik mal veröffentlicht wird? Nein, vielmehr ist es ein Geschenk untereinander, eine Art Familienlyrik, verfasst von den drei Frauen-Generationen der Familie Fritsch. Denn der Sammlung ist auch ein Gedicht von Valerie Fritschs Großmutter und Gudrun Fritschs Mutter beigefügt, ein Sterbegedicht, das bislang unveröffentlicht war. Sehr privat ist das, was wir lesen, Gespräche zwischen Müttern und Töchtern, aber auch gesellschaftliche Themen, verknappt mit den Worten der Lyrik.

„Es war sehr chaotisch“

„Wir hatten anfangs eine große Auswahl von Gedichten meiner Mutter, die ich in Kartons entdeckt habe – es war sehr chaotisch“, erinnert sich Valerie Fritsch schmunzelnd. In einigen Sommertagen habe sie dann ein paar Gedichte hinzugeschrieben, und so sei schnell der nun vorliegende Lyrikband entstanden. Familie, das macht Valerie Fritsch auch in diesem Gespräch deutlich, ist für sie, die sie oft monatelang unterwegs ist, der Herzenshafen, in den ihr Schiff immer wieder gern zurückkehrt: „Ich freue mich jedes Mal auf die Familie, auf den Hund, ja, vor allem auf die weichen Ohren des Hundes.“

Valerie Fritsch/Gudrun Fritsch: kinder der unschärferelation, Leykam-Buchverlag, Graz, 2015, 88 Seiten, broschiert, 14,90 Euro, ISBN 978-3701179619

Adolf Muschg stellt seinen Roman "Die japanische Tasche" vor. © Christian Lund
Adolf Muschg stellt seinen Roman „Die japanische Tasche“ vor. © Christian Lund
Es ist wahrlich schwer, einen passenden Übergang von den wohlig weichen Hundeohren zu Adolf Muschg zu finden, aber tatsächlich hielt der Schweizer nicht nur eine verschwurbelte Eröffnungsrede bei der Buch Wien 2015, sondern er war auch gekommen, um sein neues Buch „Die japanische Tasche“ (C.H.Beck-Verlag, Leseprobe) vorzustellen. Zentrales Motiv seines Romans sei „das Verschwinden einer Person“, sagte Muschg, nachdem er die Anfangsszene vorgelesen hatte. Darin berichtet er durchaus mit scharfer Beobachtungsgabe und feinem Witz, wie die Fahrgäste eines Zuges reagieren, der soeben einen Menschen überfahren hat. Diesen Vorfall habe er in eben jenem Zug selbst erlebt. „Wir wurden zu einer zusammengewürftelten Leichengesellschaft – die Leute fingen an zu reden und es gab diese merkwürdige Leichtigkeit, die sich einstellt, weil niemand den Getöteten gekannt hat.“

Dann aber verzettelt sich Muschg bei der Antwort auf die Frage nach dem Inhalt seines Buches. Er beginnt zu erklären, dass die Hauptfigur Historiker sei, und gerät darüber ins Fabulieren über Geschichte im Allgemeinen und Besonderen. Er schweift ab zum Kurz- und Langzeitgedächtnis der Menschen in Bezug auf die deutschsprachige Geschichte, vergleicht das Geschichtsverständnis seines Sohnes mit dem seinigen, und darf den nächsten und übernächsten Gedanken auch noch weiterspinnen, ohne von der Moderatorin unterbrochen zu werden. Inzwischen weiß der Zuhörer nicht mehr über das Buch als zu Beginn, wohl aber, dass Adolf Muschg offenbar selbst gerne der Leser seines Buches und Hörer seiner Worte ist.

Adolf Muschg: Die japanische Tasche, C.H.Beck Verlag, München, 2015, 484 Seiten, gebunden, 24,95 Euro, ISBN 978-3406682018

Gewalt als attraktive Handlungsoption

Jörg Baberowski bei der Vorstellung seiner Studie "Räume der Gewalt". © Christian Lund
Jörg Baberowski bei der Vorstellung seiner Studie „Räume der Gewalt“. © Christian Lund
Viele Zuhörer fand am Mittag schließlich noch der Berliner Historiker und vielfach ausgezeichnete Stalinismusforscher Jörg Baberowksi, der sein Buch „Räume der Gewalt“ (S. Fischer Verlag, Leseprobe) vorstellte. Darin vertritt er die These, dass Gewalt für jedermann eine zugängliche und deshalb attraktive Handlungsoption war und ist, und kein „Extremfall“. Wer wirklich wissen wolle, was geschieht, wenn Menschen einander Gewalt antun, müsse eine Antwort auf die Frage finden, warum Menschen Schwellen überschreiten und andere verletzen oder töten.

Das interessante Gespräch wurde live in der Sendung „Von Tag zu Tag“ im Radiosender Ö1 übertragen, so dass auch Hörer zugeschaltet werden konnten, um Fragen zu stellen. So mutmaßte ein Hörer, dass Gewalt doch etwas mit Überforderung zu tun habe und dass Menschen deshalb im wahrsten Sinne des Wortes über die Strenge schlagen würden. „Ja und nein“, antwortete Baberowski. Man dürfe nicht den Fehler machen und davon ausgehen, dass Gewalt vor allem in ärmlichen oder ungebildeten Verhältnissen zu Tage trete. Gewalt sei aber sehr wohl ein Ausdruck der Überforderung, wenn die Worte nicht mehr ausreichen, um gehört zu werden. „Der Gewalttäter bleibt im Gespräch“, formuliert Baberowski. Schlägt jemand zu, richte sich die Aufmerksamkeit sofort auf den Gewaltanwender und sein Opfer.

Gewalt definiert der bekannte Historiker als „Machtaktion der Unterwerfung, die auf den Körper wirkt“. „Gewalt braucht immer Opfer und Täter – Menschen müssen den Täter sehen, damit sie Gewalt verspüren“, meint Baberowski. Gewalt sei deshalb immer auch an das Erleben des Opfers gebunden. Mit struktureller Gewalt könne er deshalb nichts anfangen, die davon ausgeht, Gewalt äußere sich in der Beeinträchtigung von Minderheiten.

Jörg Baberowksi: Räume der Gewalt, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 272 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3100048189