Es gibt Schlimmeres im Leben als Drachen

Der zwölfjährige Gustave hat’s nun wirklich nicht leicht: Erst zerstört ein Siamesischer Zwillingstornado sein Schiff und saugt seine Mannschaft in den Himmel, da trifft er auch schon auf den Tod und dessen etwas anstrengende Schwester Dementia. Der Tod ist nicht zimperlich und stellt dem lebenswilligen Gustave sechs Aufgaben. Verliert er, gehört seine Seele dem Tod. Es beginnt eine wilde Reise durch die Nacht.

Der gleichnamige Roman des „Käpt’n Blaubär“-Schöpfers Walter Moers ist ein Ausbund an Phantasie, Humor und Andeutungen an die Weltliteratur. Es ist ein Kinderbuch und ein Buch für den belesenen erwachsenen Leser. Dem Kind wird es herzlich egal sein, wie das sprechende Pferd heißt, auf dem Gustave manche Abenteuer erlebt – es hat genug Witz für das eine oder andere Kinderkichern. Der erwachsene und belesene Leser aber freut sich, dass das Pferd Pancho Sansa heißt und erkennt eine Anspielung auf Don Quijote. Doch der besondere Kniff des Buches ist: Es ist nicht von Moers selbst illustriert worden, sondern von Gustave Doré, ohne dass der davon je erfahren hätte.

Gustave Doré war ein bekannter Maler und Grafiker des 19. Jahrhunderts, der sich vor allem durch seine Illustrationen zu Cervantes‘ Don Quijote, Dantes Göttlicher Komödie und der Bibel einen Namen gemacht hat. Schon als Schüler wurde seinen große Begabung offenbar – mit neun Jahren begann er seine Zeichnungen an Dantes Göttlicher Komödie, mit 15 Jahren verdiente er sein erstes Geld mit seinen Illustrationen. Fast 120 Jahre nach seinem Tod zieren seine Xylografien nun das Werk „Wilde Reise durch die Nacht“ von Walter Moers. Der hat die Holzschnitte aus verschiedenen Werken entliehen und daran entlang seine skurrile Geschichte erzählt.

Sechs Aufgaben muss der junge Held in einer Nacht bestehen. Dabei klingt eine schlimmer als die andere: Eine Jungfrau aus den Klauen eines Drachen befreien, möglichst auffällig durch einen Gespensterwald reiten oder gar dem schrecklichsten aller Ungeheuer einen Zahn ziehen. Das scheint gar furchtbar zu sein, aber Moers ist bekannt dafür, dass er die Erwartungen seiner Leser auf den Kopf stellt. Und so muss Gustave schon im ersten Abenteuer erkennen, dass es weitaus Schlimmeres im Leben gibt, als einem Drachen zu begegnen. Der Liebe etwa.

Es weht eine Luft von alten Abenteuerbüchern durch den Roman. Das fühlt sich ganz und gar großartig an, würdigt aber als Taschenbuchausgabe fast zu wenig die schaurigen Zeichnungen des Gustave Doré. Die gebundene Ausgabe jedoch ist vergriffen und derzeit nur antiquarisch erhältlich. Das ist schade, hätte dieser Roman von Walter Moers doch eine stets im Buchhandel verfügbare Prachtausgabe verdient.

Walter Moers: Wilde Reise durch die Nacht, Goldmann Verlag, München, 2003, 224 Seiten, Taschenbuch, 9 Euro, ISBN 978-3442452910;
gebunden (derzeit vergriffen): Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2001, 208 Seiten, ISBN 978-3821808901

Veronikas Mann beschließt zu sterben

Schon seit Jahren steht das Foto seines verstorbenen Vaters im Bücherregal seines Zimmers, aber erst an einem Mittwoch in den Herbstferien wird der 17-Jährige neugierig, wer sein Vater war und warum er Selbstmord beging. Der Anfang einer Spurensuche zur Zeit einer verbohrten Gesellschaft.

Kurz nach seiner Geburt begeht der Vater Selbstmord. Das einzige, was ihm von seinem Vater bleibt, ist eine gerahmte Fotografie, die in seinem Bücherregal steht. Als der Junge sie an jenem Tag in den Herbstferien genauer betrachtet, entdeckt er nicht nur, das sein Vater am Handgelenk eine Uhr trägt, die er noch nie gesehen hat, sondern dass die Zeiger der Uhr auf Viertel nach sieben stehen – für einen Fototermin eine unübliche Zeit, sowohl am Morgen als auch am Abend. Der Junge löst den Rahmen und entdeckt auf dem Rücken der Fotografie einen Namen: André Gros aus Paris – sein eigener Patenonkel, den er ebenfalls noch nie gesehen hat.

„André Gros war der Mann, den wir aus den Augen verloren hatten, von dem ich nur drei Dinge wußte, daß er seine Kindheit und Jugend in der Schweiz verbracht hatte, daß er ein Schulfreund meines Vaters gewesen war und daß er sich nach dessen Beerdigung nicht mehr gemeldet hatte.“ Als der Junge mit seiner Mutter Veronika über den Verbleib der Armbanduhr spricht, erfährt er noch ein viertes Detail über seinen Patenonkel: Er besitzt die Uhr seines Vaters. Seine Mutter hatte sie ihm nach dem Tod ihres Mannes geschickt, weil sie für sie keine Bedeutung hatte.

Der Junge ist fassungslos. Er hebt all sein Geld ab, das er auf Sparbüchern und Bankkonten hat, und reist nach Paris, um seinen Patenonkel zu treffen. Der ist nicht wenig überrascht und dennoch bereit, dem Jungen Hinweise darauf zu geben, warum dessen Vater sich das Leben nahm: „Man kann sich über vieles hinwegsetzen, vor allem über die Blicke der anderen. Man muß es nur verstehen, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Mir ist es gelungen. Ich glaube, es ist mir gelungen. Deinem Vater nicht.“

Lange Zeit ist das Buch ein Roman der Andeutungen. Man muss schon zwischen den Zeilen lesen, um zu erahnen, was wirklich schiefgelaufen ist im Leben des Emil Ott, als er sich kurz nach der Geburt seines ersten Kindes das Leben nimmt. Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat sich eines Themas angenommen, über das schon so vieles geschrieben worden ist, auch über die Suche der Nachkriegsgeneration, die zu wenig über ihre Eltern weiß. Und trotzdem ist „Zur falschen Zeit“ kein weiteres dieser schon so oft geschriebenen Bücher.

Sulzer schreibt feinsinnig und stilsicher, mit einer Sprache und Wortgewandtheit, die an Max Frisch erinnert. Man legt es nicht aus der Hand, dieses Buch. Hier wird nicht rasant geschrieben, sondern die Geschichte tickt langsam, aber stetig voran wie das Räderwerk einer Uhr. Schon bald greift Sulzer zu verschiedenen Erzählebenen, die dem Leser eine Vorausschau ermöglichen. Es ist ein gekonntes Hin und Her zwischen Vor- und Rückblenden und den Erlebnissen aus der Sicht des Jungen. Und es entsteht das Portät eines Mannes, der „zur falschen Zeit“ und in einer kleinbürgerlichen Welt lebte und liebte. Ein Buch, das man gelesen haben sollte.

Alain Claude Sulzer: Zur falschen Zeit, Galiani Verlag, Berlin, 2010, 231 Seiten, gebunden, 18,95 Euro, ISBN 978-3869710198

Seitengang auf der Leipziger Buchmesse 2012 – Die Zusammenfassung

Die Buchmesse in Leipzig ist zu Ende, ich bin wieder in Bielefeld. Auf der Sonderseite des Blogs ist bis Sonntagabend die Zusammenfassung der vier Tage erschienen, jetzt geht der lange Text auch auf der Hauptseite online. Und bald dann wieder eine neue Rezension.

Freitag, 16. März 2012:

Nachdem ich am Donnerstag den ersten Tag der Leipziger Buchmesse frühzeitig abbrechen musste, weil ich plötzlich krank und schlapp wurde, war ich am Freitag wieder in den Messehallen unterwegs. Davon und von den wenigen Erlebnissen am Donnerstag berichte ich nun.

Pünktlich um 10 Uhr begann am Donnerstagmorgen mit einem Gong die Leipziger Buchmesse 2012. Von dem sagenumwobenen Gong habe ich allerdings nichts mitbekommen, weil ich erst gegen 10.30 Uhr die Messehallen betrat.

Begonnen habe ich mit dem Programm um 11 Uhr bei der Eröffnung des Cafés Europa mit den Preisträgern des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, Timothy Snyder und Ian Kershaw. Insbesondere Kershaw, der mit seiner zweibändigen Hitlerbiografie für Furore gesorgt hatte, reizte mich. In seinem aktuellen Werk beschäftigt er sich mit der Frage, warum die Deutschen unter Hitler noch weiterkämpften und durchhielten, obwohl sie militärisch schon am Ende waren. Der Besucherandrang zur Eröffnung des Cafés war aber so groß und die Lautstärke der Lautsprecher so gering, dass ich dem Gespräch kaum folgen konnte. Schade.

Selbiges Problem hatte ich wenig später in der LVZ-Autoren-Arena, in der Egon Bahr und Peter Ensikat ihr gemeinsames Buch „Gedächntnislücken“ vorstellten und in deutschen Nachkriegs- und Nachwendegeschichten schwelgten. Für die nächsten Lesungen wusste ich jetzt: Ellbogen ausfahren und einen Platz sichern.

Weniger problematisch dagegen war es, der Lesung von Jan Peter Bremer beizuwohnen. Der Berliner mit dem Krauskopf las aus seinem neusten Buch „Der amerikanische Investor“, das unlängst in der Sendung „Druckfrisch“ von Denis Scheck höchst gelobt wurde.

Ich selbst habe es noch nicht gelesen, habe es aber bereits auf meine Liste der noch zu lesenden Bücher gesetzt. Irgendwann gibt’s also auch dazu mal eine Rezension bei Seitengang. Ein neues Buch, verriet Bremer, sei noch nicht in Vorbereitung. Und er wolle sich damit auch noch Zeit lassen, zumindest bis zur übernächsten Leipziger Buchmesse.

Die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse habe ich dann leider nicht mehr mitnehmen können, weil es mir nicht mehr so gut ging, nachdem ich schon den ganzen Tag mehr und mehr geschwächelt hatte. Der Ordnung halber: Der Preis der Leipziger Buchmesse 2012 wurde Wolfgang Herrndorf (Belletristik), Jörg Baberowski (Sachbuch/Essayistik) und Christina Viragh (Übersetzung) verliehen. Herrndorf konnte den Preis nicht selbst in Empfang nehmen, sondern Robert Koall, ein enger Freund und Dramaturg seiner Stücke sowie Chefdramaturg am Staatstheater Dresden, übernahm die Rolle für ihn.

Die einzige Lesung von Christian Kracht in der Albertina (alle anderen Messetermine wurden abgesagt) konnte ich am Abend dann auch nicht mehr besuchen. Aber wie man am Freitagmorgen hörte, soll er nur rund eine Stunde gelesen und dann keine Diskussion zugelassen haben, sondern nur signiert.

Der Freitag begann mit einem ausgiebigen Bummel durch die Hallen – ich wollte es nicht übertreiben, nachdem der Donnerstag so frühzeitig für mich vorbei war. Zum ersten Mal sah ich am Stand des Hanser Literaturverlags das erste Buch des Hanser Verlags Berlin, einem neu gegründeten Verlag unter dem Dach des Hanser Literaturverlags. Das erste Programm soll erst im Herbst 2012 erscheinen, das erste Buch aber, so kündigte der Verlag vor rund zwei Wochen an, wurde schon am 16. März veröffentlicht: „Ziemlich beste Freunde“, nicht das Buch zum Film, sondern das Buch, dem der Film zugrundeliegt.

Auf dem blauen Sofa des ZDF war Frank Goosen mit seinem neuen Buch „Sommerfest“ zu Gast. Er las in typisch kohlenpott’schem Slang Auszüge daraus vor und unterhielt sich mit Moderatorin Marita Hübinger über die Kulturlandschaft Ruhrpott und Fußball. Das Ruhrgebiet sei ohne Fußfall nicht denkbar, sagte er und schloss mit einem Plädoyer für den Pott als lebenswerte Region in Nordrhein-Westfalen: „Wir müssen allerdings zusehen, dass die jungen Leute bei uns bleiben und nicht nach Berlin abwandern.“

Am späten Nachmittag schließlich wurde es in der LVZ-Autoren-Arena noch einmal richtig voll. Henryk M. Broder sprach über sein neues Buch „Vergesst Auschwitz!“ Auschwitz sei eine Touristenattraktion, ein „Disneyland des Todes“, das finde er „unerträglich“. Darauf angesprochen, was er denn davon halte, dass die Nationalelf zur Europameisterschaft das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz besuchen solle (der Zentralrat der Juden hatte diesen Vorschlag gemacht, nachdem ein israelischer Fußballspieler des Bundesligisten Kaiserslautern mit antisemitisch angeöbelt worden war): „Das ist eine Schnapsidee, eine billige Nummer, nur damit die Bilder um die Welt gehen“, sagte Broder und kündigte dazu einen Gastbeitrag im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ an, der am Montag (19. März 2012) erscheinen werde.

Aber Broder wetterte auch gegen den SPD-Chef Sigmar Gabriel, der den Umgang Israels mit den Palästinensern mit dem früheren Apartheid-Regime in Südafrika verglichen hatte: „Er hat nicht mehr alle Gurken im Glas!“ Er denke mit einem „sozialdemokatischen Wirrkopf“ und wolle sich nun beim Zentralrat der Juden für koscher erklären lassen, lästerte Broder.

Am Abend schließlich besuchte ich im Cinestar die Lesung von Sarah Kuttner, die natürlich ihren Jack Russel Terrier im Schlepptau hatte. Im ausverkauften Cinestar-Saal begeisterte Kuttner gleich zu Anfang mit der glaubwürdig vorgetragenen Entschuldigung, dass sie ihre diesjährige Lesereise nicht wie sonst in Leipzig begonnen habe, sondern „mit Oldenburg fremdgegangen“ sei. Sie plauderte munter drauf los. Die Lesung selbst kündigte sie mit den Worten an, sie könne gar nicht lesen wie die großen Literaten, mit Augenkontakt und all dem. „Ihr seht diese Augen während der Lesung jetzt also zum letzten Mal“, erklärte sie. Und begann, aus ihrem aktuellen, zweiten Roman „Wachstumsschmerz“ zu lesen – die Geschichte von Luisa und Flo, einem Pärchen über 30, das beschließt, zusammenzuziehen. Es wird viel gelacht an diesem Abend, das macht der kuttnersche Humor, ihr Schreibstil, aber auch die Art, wie sie schelmisch über sich selbst quasselt und dabei allzugern den Faden verliert, um ihn dann aus dem Publikum wieder zugeworfen zu bekommen.

Nach der Lesung stand Kuttner für Fragen der Zuschauer zur Verfügung. Einen dritten Roman werde es solange nicht geben, wwie ihr der zweite „noch nicht auf die Nüsse“ ginge. Und in „Wachstumsschmerz“ würden natürlich auch persönliche Kuttner-Noten stecken. So fände sie selbst Indoor-Klettern ähnlich blöde wie die Protagonistin. Auf die Frage einer Zuschauerin, ob sie schonmal Klettern gewesen sei, hatte Kuttner zunächst nur verstanden, ob sie schonmal bei Schlecker gewesen sei und antwortete dementsprechend verwirrt: „Äh, ja… ob ich schonmal bei Schlecker war? Hast du das wirklich gefragt?“ Lautes Gejohle im Saal. Dann die Richtigstellung. Ja, sie sei einmal mit ihrem Cousin Till geklettert, aber das sei nichts für sie. Und so parierte Kuttner schlagfertig wie immer jede noch so seltsame Frage.

Am Ende durfte auch der Jack Russel Terrier noch ran. Für ein Leckerli zeigte er bereitwillig das einzige Kunststückchen, das er kann: tot umfallen. Sarah schoss mit den Fingern auf ihren Hund, der sogleich auf den Rücken fiel, um dann schwanzwedelnd nach dem Leckerli zu lechzen. Der Applaus war den beiden sicher. Nach einer kurzen Rauchpause signierte Sarah Kuttner schließlich noch all die mitgebrachten oder gerade erst gekauften Kuttnerbücher ihrer Fans. Ein wahrlich gelungener Abend.

Samstag, 17. März 2012:

Der Samstag auf der Buchmesse war – gelinde gesagt – anstrengend. Nicht nur die Menschenmassen, die durch die Gänge strömten und die Stände der Verlage umdrängten – damit war ja zu rechnen -, sondern auch die Cosplayer, die mit ihren Mangakostümen die Glashalle bevölkerten.

Für mich begann der Samstag in der LVZ-Autoren-Arena. Ahnend, dass nicht nur mich der Besuch von Tatort-Kommissar Axel Prahl interessieren würde, stand ich schon etwas früher hinter dem Glasfenster, an dem ich schon Henryk M. Broders Lesung verfolgt hatte. So sah und hörte ich Reste von dem Gespräch mit der Krimi-Autorin Petra Hammesfahr, die ihr neues Buch „Die Schuldlosen“ vorstellte. Von sich selbst sagte die Autorin, sie sei eigentlich keine gute Schreiberin: „Ich kann nur gut lesen und verbessern.“ Wenn sie morgens nach dem Frühstück um zehn Uhr am Schreibtisch Platz nehme, dann lese sie zunächst die Seiten, die sie am Tag zuvor geschrieben habe, und verbessere sie. Außerdem sei sie wohl auch keine gute Krimi-Autorin, denn ihr tue es immer leid, wenn sie Menschen sterben lassen müsse. Der Moderator hakte ein und sagte: „Ich habe vor längerer Zeit hier mit Ingrid Noll gesessen – die liebt es, wenn gemordet wird und Blut fließt. Sie nicht?“

Hammesfahr schüttelte den Kopf und erzählte, sie habe in einem ihrer Romane fast ein ganzes Dorf ausgelöscht. Der Verlag wollte eine Fortsetzung, und weil ihr das Dorf so leid getan habe, habe sie den Überlebenden etwas Gutes auf den Leib geschrieben. „Als der Verlag die erste Fassung las, sagte der: Nein, das kannst du so nicht machen, du schreibst Krimis, da müssen Menschen sterben.“ Aber Hammesfahr argumentierte gegenüber dem Verlag, dass sie schon im ersten Roman so viele Leben ausgelöscht hatte, dass ihr ganz unwohl sei. „Dann lass doch ein paar Menschen zuziehen, hat mein Verlag mir vorgeschlagen.“ Gelächter im Publikum. Geeinigt habe man sich schließlich darauf, dass es die Menschen im Neubaugebiet trifft.

Bisher bin ich die Hammesfahr-Krimis umgangen, nachdem ich eines vor Jahren gelesen und für nicht ansprechend genug befunden hatte. Vielleicht ist es an der Zeit, noch einen Versuch zu wagen. Eine sympathischen Eindruck hat die Autorin jedenfalls hinterlassen. Nicht so sehr allerdings wie Axel Prahl, der nach ihr die kleine Bühne betrat.

Axel Prahl ruft, Nordlicht wie er ist, „Moinsen Leipzig“ in die Runde, als er sich hinsetzt. Menschen zücken Fotoapparate und vornehmlich Handys, die Menge drängelt und schiebt. Prahl: „Kinder, das hier ist eine Lesung, jetzt macht schnell Eure Fotos und dann hört zu, was hier gesagt wird.“ Was gesagt wird? Es geht um den Münster-Tatort, natürlich. Dass Prahl beschämt ist, welche Quote der letzte Münster-Tatort erreicht hat. Dabei war das nicht mal die beste Quote, die er je erreicht hat. „Aber die Leute mögen auch, dass es kein typischer Tatort ist, sondern mehr ein Schlagabtausch zwischen Boerne und Thiel“, sagt Prahl. Ob an den komödiantischen Einlagen lange gefeilt werde, fragt der Moderator. „Oh ja, und wie. Das steht ja alles im Drehbuch. Aber es gab auch schon Ausnahmen, bei denen Jan-Josef und ich überlegt haben, wie eine Szene aussehen könnte“, erzählt Prahl.

Woher das Gerücht denn komme, dass Prahl aus Ostdeutschland sei, will der Moderator wissen. „Das weiß ich auch nicht, aber das ist das schönste Kompliment, was man mir je gemacht hat.“ Relativiert aber dann, dass er noch ein zweites schönes Kompliment bekommen hat, als er im Theater einen kleinen Jungen gemimt hat und nach der Vorstellung ein Schüler zu ihm auf die Bühne gekommen sei und gefragt habe: „In welche Klasse gehst du denn?“

„Und dass ich aus dem Osten komme, stimmt ja auch – ich komme aus Ostholstein“, sagt Prahl und lacht. Dann aber geht’s endlich um seine CD „Blick aufs Mehr“, die er vorstellen will. Damit habe er sich einen Trauim erfüllt. „Ich habe als Jugendlicher natürlich Gitarrespielen gelernt, um am Lagerfeuer mehr Frauen abzukriegen. Aber wenn ich dann mit meinen Freunden am Lagerfeuer gespielt habe, hatten die alle schon eine Frau im Arm und waren am rumknutschen, und zu mir haben sie gesagt: Ach, Axel, spiel doch noch eins.“

Jetzt hat er eine CD aufgenommen, die Texte hat er selbst geschrieben, und ist mit seiner Musik auf Tournee. In seinen Konzerten will er nicht nur Lieder von seiner CD singen, sondern auch Lieblingsstücke anderer Sänger, Rio Reiser zum Beispiel. Wann wird Thiel im Tatort singen? „Nie“, sagt Prahl bestimmt. Die LVZ spielt ein Stück aus Prahls CD ein und der Schauspieler singt aus vollem Halse mit. Dann ist es schnell vorbei, die Massen zerstreuen sich, andere bleiben, weil jetzt der Walser kommt. Ich gehe.

Meinen Kollegen in der Onlineredaktion von nw-news.de habe ich versprochen, mit dem Bielefelder Cartoonisten Ralph Ruthe zu sprechen, der mit einem Video für den deutschen Webvideopreis nominiert ist, und dann einen kleinen Text aus Leipzig zu senden. Also traf ich Ralph Ruthe nach einer seiner Signierstunden in der Glashalle zu einem kurzen Gespräch.

Um 14.30 Uhr präsentierte Zeruya Shalev auf dem Blauen Sofa des ZDF ihr neues Buch „Für den Rest des Lebens“. Sie nennt ihren vierten Roman selbst ihren „optimistischsten und romantischsten Roman“, lässt sich aber im Gespräch mit Wolfgang Herles wenig darauf ein, dass sich auch das Thema Politik in ihrem Roman erstmalig dichter wiederfinde. Es geht natürlich darum, dass Shalev selbst ein Kind adoptiert hat, und auch eine der Hauptpersonen ihres neuen Buches verspürt den unbändigen Wunsch, ein Kind zu adoptieren. Ingeborg Harms hat in der FAZ vom 27. Januar 2012 geschrieben: „(…) eine Adoption mit der Geschichte Israels zu verweben, macht „Für den Rest des Lebens“ zu einem bedeutenden Buch.“

Warum es ein so bedeutendes Buch ist, wird aus dem Gespräch mit Wolfgang Herles leider nicht klar. Es fehlt auch an einer Lesung. So reizt ein mühsam übersetztes Gespräch leider nicht dazu, das Buch auf die „Noch-zu-lesen“-Liste zu setzen. Dafür braucht es mehr Anreize.

Damit hatte sich mein Samstagsbesuch der Messehallen erledigt. Abends sollte noch die großartige LitPop folgen. Dass ich die Messehallen auch am Sonntag nicht mehr sehen sollte, war am Samstag allerdings noch nicht klar. Ursprünglich war geplant, am Sonntag meine Lieblingsverlage abzuklappern und nach Leseexemplaren der Frühlings-Neuerscheinungen zu fragen. Doch aufgrund meines Gesundheitszustandes habe ich am Sonntagmorgen beschlossen, die Leipziger Buchmesse 2012 abzubrechen.

Insofern war die Sputnik LitPop für mich – ohne es zu wissen – die (würdige) Abschlussfeier der Leipziger Buchmesse 2012. Im pompösen Neuen Rathaus von Leipzig stieg auch in diesem Jahr wieder die Party, auf der sich Lesungen und Konzerte treffen. Das Motto der Veranstalter: „Auch junge Leute interessieren sich für Literatur – man muss sie nur entsprechend präsentieren.“ In der Unteren und Oberen Wandelhalle, im Festsaal, im Ratsplenarsaal und im Stadtverordnetensaal lasen unter anderem Steven Uhly, Oliver Geyer, Vince Ebert und Sarah Kuttner und es spielten Max Prosa, Supershirt und Frida Gold.

Für Sarah Kuttner war natürlich kein Platz mehr frei, aber die hatte ich ja bereits am Freitag ausgiebigst gesehen. Stattdessen drängte ich mich in den Ratsplenarsaal, stieg über Beine und Arme und machte es mir auf dem Holzboden bequem. Christiane Hagn hatte gerade ihre Lesung beendet, jetzt kam Oliver Geyer, der aus seinem Roman „Sommerhaus jetzt“ las. Eine Gruppe von Freunden tut sich zusammen, jeder plündert sein Sparbucher, seinen Bausparvertrag oder anderen Sparvertrag, um sich gemeinsam den Traum vom Haus am See zu verwirklichen. Das hat Oliver Geyer tatsächlich erlebt. Und er sagt: „Ich würde es immer wieder tun.“ Auch wenn natürlich längst nicht alles reibungslos geklappt hat, wie man sich vorstellen kann. Geyer seinen Zuhörern am Samstag eine Passage vor, in der nach der Einweihungsparty die Abwasserrohre geplatzt sind. Keine hochtrabende Literatur, aber zumindest vorgelesen urkomisch. Das Buch kommt erstmal auf die „Muss ich mir mal genauer ansehen“-Liste.

Im Anschluss fordert Vince Ebert „Machen Sie sich frei“. Hier wartet manch naturwissenschaftlich aufbereiteter Kalauer, manch interessante Wissensnote. Vince Ebert, Kabarettist und diplomierter Physiker, liest und kalauert vor sich hin und bringt den Saal vor allem mit seinem Homöopathie-Text zum Lachen. Das Buch „Machen Sie sich frei“ ist aber sicher eines der Bücher, die man als Hörbuch vom Autor persönlich eingelesen hören sollte. Nur so wirken seine Pointen wirklich. Für einen solchen Abend ist das sehr amüsant, für Comedy-Fans allemal. Als Buch reizt es mich nicht.

Damit war der Abend der Lesungen vorbei, jetzt kam der Abend der Konzerte und schließlich die Nacht der Partys. Die Obere Wandelhalle war schon rappelvoll, als ich aus dem Ratsplenarsaal kam. Ich suchte mir einen Platz in der Nähe der Wand, hatte (auch aufgrund meiner Größe) einen guten Seitenblick auf die Bühne (ist doch klar: der Blogger von Seitengang braucht den Bühnen-Seitenblick…) und noch genug Freiheit um mich herum. Noch. Denn kaum hatte die Band Frida Gold die Bühne betreten und sich die Türen des Saals geöffnet, in dem Sarah Kuttner gelesen hatte, wurde es höllisch eng. Die Sarah-Kuttner-Fans wollten raus, aber dann doch vielleicht noch ein wenig stehenbleiben und Frida Gold gucken, die Frida-Gold-Fans wollten nur Frida Gold sehen, uns so prallten auf dem Gang um die Obere Wandelhalle herum zwei Gruppen aufeinander. Oder vielmer: sie pressten sich aneinander vorbei. Da ist es von Vorteil, wenn man groß ist, Seitengang-Blogger ist und den Bühnen-Seitenblick hat. Da kann man das Frida-Gold-Konzert nämlich genießen.

Das allerdings war wiederum viel zu kurz. Knapp eine Stunde spielte Frida Gold nur, dann mussten sie Platz machen für eine Band namens „Supershirt“. Ich hab dann auch Platz gemacht und bin in die Untere Wandelhalle gestiefelt, habe ein Bier-Bier getrunken und mich mit allerlei anderem LitPop-Volk rhythmisch zu den Beats auf der riesigen Tanzfläche bewegt. Wenn ich richtig gesund gewesen wäre, hätte ich das bis zum frühen Morgen durchgehalten. So aber musste ich schon bald das Tanzbein ruhig stellen und den Heimweg antreten. Ich dachte ja, ich würde am Sonntag nochmal zur Messe rausfahren.

Sonntag, 18. März 2012:

Wie bereits gesagt: Einen Buchmesse-Sonntag im Jahr 2012 gab’s nicht mehr. Aufgrund meines Gesundheitszustands hab ich davon abgesehen, nochmal zur Messe zu fahren. Das ist mir zwar schwergefallen, aber es war ja nicht die letzte Messe. Für mich war es trotz der gesundheitlichen Strapazen ein echtes Erlebnis. Im nächsten Jahr werde ich wiederkommen, dann gesund sein und bleiben und von meinen Entdeckungen zeitnaher berichten können als in diesem Jahr. Das ist ja alles noch verbesserungswürdig.

Danke für Eure Genesungswünsche, danke, dass Ihr mir gefolgt seid, mich gelesen habt und die Rezensionen meines Blogs in Zukunft vielleicht sogar abonnieren wollt (ja, das geht!).

Ich habe schon die Anfrage bekommen, ob ich auch zur Frankfurter Buchmesse fahre – da kann ich nur sagen: Mal sehen! Ihr werdet es rechtzeitig erfahren. Leipzig jedenfalls ist großartig. Deshalb gilt mein letzter Dank dem Team der Leipziger Buchmesse 2012, das eine großartige Arbeit geleistet hat.

Tschüss, LBM12, und hallo, LBM13!

Von Freitag, 16. März, bis Sonntag, 18. März, gab es auf einer inzwischen gelöschten Sonder-Seite des Blogs die ausführlichen Berichte vom Tag und von den Highlights. Spontane Impressionen, Live-Bilder und Bonmots gab es auf der Facebook-Seite des Blogs und über Twitter.

Seitengang in Schieflage

Liebe Leser,

ich musste heute leider den ersten Tag der Leipziger Buchmesse frühzeitig abbrechen, weil ich plötzlich krank und schlapp wurde. Ich konnte deshalb nicht wie angekündigt von der Messe berichten, hoffe aber, dass es mir morgen besser geht und ich wieder dabei bin. Ich bin untröstlich, dass ich jetzt gerade Christian Krachts Lesung verpasse und auch der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse nicht beiwohnen konnte.

Morgen mache ich einen neuen Anlauf und hoffe, viele interessante Erfahrungen und Entdeckungen zu machen. Bleibt mir gewogen!

Der britische Sündenbock

Der Kalte Krieg war gerade auf einem seiner Höhepunkte, als in London der britische Kriegsminister John Profumo über eine Affäre mit dem Fotomodel Christine Keeler stürzte, die gleichzeitig eine Liebelei mit dem sowjetischen Marineattaché Jewgenij Iwanow hatte. Als Gewährsmann galt der High-Society-Osteopath Dr. Stephen Ward, der nicht nur mit Profumo, sondern auch mit Iwanow, Keeler und allerlei anderen britischen Stars und Sternchen verkehrte und einen Ruf als schillernder Lebemann hatte.

Als Profumo von seinen Ämtern zurückgetreten war, wurde urplötzlich Dr. Ward wegen Zuhälterei angeklagt und in einen Sensationsprozess gezerrt, in dem britische Prüderie auf den Beginn der „Swinging Sixties“ prallte. Den Prozess beobachtet hat damals die deutsch-britische Schriftstellerin und Journalistin Sybille Bedford. Jetzt ist ihre Gerichtsreportage erstmalig auf Deutsch erschienen und beeindruckt nachhaltig.

Es ist der 22. Juli 1963, als im Londoner Gericht Old Bailey die Anklageschrift gegen Dr. Ward verlesen wird. Dr. Ward, dessen Praxis einst Patienten wie Mahatma Gandhi, Winston Churchill oder Ava Gardner besuchten, war im Vorfeld des Prozesses „vorsichtig ausgedrückt, verfemt und in Ungnade gefallen“, wie Bedford schreibt. Vertreter der Anklage ist derselbe, der schon im „Lady-Chatterley“-Prozess mit seiner Prüderie für Aufsehen gesorgt hatte: der konservative Mervyn Griffith-Jones. So vermerkt Bedford, dass Griffith-Jones während des ganzen Prozesses nur das Wort „Geschlechtsverkehr“ verwendete, und es klingt in den Zeilen mit, wie angewidert der Ankläger das Wort ausgesprochen haben muss.

Was folgt, skizziert Bedford mit feiner Beobachtungsgabe. Sie ist empört, schlägt sich auf die Seite der Verteidigung, wirft Fragen auf, die im Prozess entweder nicht gestellt oder gar vom Richter und Staatsanwalt abgebügelt werden. Sie ist weit entfernt von jeglicher Vorverurteilung und predigt keine Moral. Mit Neugier verfolgt sie, wie unterschiedliche Gesellschaftsschichten aufeinanderstoßen und erkennt schon bald, wie wenig Chance besteht, die tatsächliche Wahrheit zu finden, wenn sich Politik, Justiz und Presse zusammentun, um einem Mann das Leben schwer zu machen. Man liest von Prostituierten als Zeuginnen, die Eide schwören, nur um die Aussagen später zu widerrufen. Von polizeilichem Druck ist die Rede, von Belastungszeuginnen, die hanebüchene Geschichten zum Besten geben, wenig hinterfragt von Staatsanwaltschaft und Gericht.

Das wirklich Tragische jedoch an diesem Fall ist, dass Dr. Ward seine Fürsprecherin nur ein einziges Mal kennengelernt hat – auf einer gemeinsamen Taxifahrt am Abend des letzten Gerichtstags. Dr. Ward und Sybille Bedford sollten sich nie wiedersehen, denn Dr. Ward nahm noch in derselben Nacht eine Überdosis Schlaftabletten.

„Wie dieses Urteil ausgefallen wäre, werden wir nie erfahren“, schreibt Bedford am Ende ihrer Gerichtsreportage. „Das ist nicht die einzige offene Frage nach diesem Prozess. Was war der Grund für die gnadenlose Verfolgung von Dr. Ward, und warum verfing sie? War es das Ergebnis einer bewussten Entscheidung, hat irgendjemand, irgendwo, bestimmte Dinge angedeutet, ausgesprochen, angeordnet? Oder war es die Summe von Zufällen, von fast unbewussten Manipulationen von Trends und Meinungen, von etwas Atmosphärischem? Wenn wir hartnäckig genug fragen, werden wir die eine oder andere Antwort bekommen. Der Rest darf nicht Schweigen sein.“

Der Fall des Dr. Ward ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Da hilft nur, sich hartnäckig dafür einzusetzen, dass dieses Buch gelesen und die Erinnerung wach gehalten wird. Lesen, unbedingt! „Der Rest darf nicht Schweigen sein.“

Sybille Bedford: Jagd auf einen Lebemann – Der Prozess Dr. Ward, Schirmer/Mosel Verlag, München, 2011, 101 Seiten, 15 Abbildungen in Duotone, gebunden, 12,80 Euro, ISBN 978-3829605434