Fragen über Phagen

Sylvie ist austherapiert. Was für Laien irgendwie gut klingt, weil das Wort das (gute) Ende der Therapie suggeriert, ist für Betroffene das Schrecklichste, was passieren kann. Man ist schwer krank, und keine gängigen Therapien helfen mehr. In dieser Situation befindet sich die Jugendliche Sylvie Morell, seit ihr Vater ihr unbewusst ein multiresistentes E-coli-Bakterium übertragen hat. Jetzt droht sie, an einem panresistent gewordenen Keim zu sterben.

Der behandelnde Arzt am Klinikum in Berlin kennt eine einzige Rettungsmöglichkeit: Phagen. Das sind Viren, die hochspezifische Stämme einer bestimmten Bakterienart erkennen, befallen und sie schließlich zerstören. Vor allem im osteuropäischen Raum werden Phagen bereits seit Jahrzehnten erfolgreich als Alternative und Ergänzung zur klassischen Antibiotikatherapie eingesetzt, heißt es beim Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin.

In der Europäischen Union sind sie allerdings bisher nicht als Therapie zugelassen. Im Roman muss deshalb Sylvies Vater Tom zu einem früheren Arzt und heutigen Lobbyisten Kontakt aufnehmen. Der wiederum hat, wie der Zufall es will, gerade eine Lieferung Phagen von einem befreundeten Mikrobiologen aus Tiflis bekommen.

Notfalls mit Mord und Totschlag

Der Lobbyist ahnt jedoch nicht, dass der Forscher inzwischen tot und dessen Institut in der Hauptstadt von Georgien bei einem Bombenanschlag in die Luft geflogen ist. Und wer immer dahinter steckt, will nun auch in Berlin die Phagen in seinen Besitz bringen, notfalls mit Mord und Totschlag. Denn die zwölf Superphagen könnten die Medikamente gegen die gefährlichsten multiresistenten Keime der Welt sein.

Das ist das grobe Setting in dem spannenden und realistischen Wissenschaftsthriller „Probe 12“ des Autorinnenduos Kathrin Lange und Susanne Thiele, das 2021 mitten in der Corona-Pandemie im Verlag Bastei-Lübbe erschienen ist. Es erzählt klug und ohne einen erhobenen Zeigefinger von den Gefahren, denen wir weltweit ausgesetzt sind, weil die Resistenzen gegen Antibiotika enorm zugenommen haben.

Von der Astrophysik zur Autorin

Die 1969 in Goslar geborene Kathrin Lange schreibt schon seit Jahren erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche. Vor „Probe 12“ veröffentlichte sie unter ihrem Pseudonym Katja Lund mit dem Pellwormer Inselpolizisten Markus Stephan den Krimi „Wattenmeermord“ (Blanvalet-Verlag, 2021). Einst wollte Lange Astrophysik studieren, entschied sich dann aber für ihre Leidenschaft zu Büchern, wurde zunächst Buchhändlerin und dann Schriftstellerin.

Bei einer Autorennetzwerk-Tagung traf sie auf Susanne Thiele. Die 1970 in Bernburg Geborene ist Mikrobiologin und Wissenschaftsautorin. Wenn sie gerade keine Sachbücher schreibt, leitet Thiele die PR-Abteilung des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung in Braunschweig und schreibt für Zeitungen und Journale oder auf ihrem Blog „Mikrobenzirkus“. Als sie Kathrin Lange traf, hatte sie, bedingt durch ihren Beruf, die Idee von antibiotika-resistenten Keimen und der Phagentherapie bereits im Kopf, erklärt sie in einem Interview, das auf der gemeinsamen Autorinnenseite zu lesen ist. Der Rest ist Roman.

Tatsächlich ist es ein spannender Pageturner geworden, der Wissenschaft authentisch mit dem temporeichen Plot verwebt, auch wenn es manchmal ganz schön brutal zur Sache geht. Erzählt wird die kurzweilige Geschichte in mehreren, parallel verlaufenden Handlungssträngen, die sich gut voneinander trennen lassen und dennoch unausweichlich aufeinander zuführen. Die Figurenzeichnung ist überwiegend gut gelungen, nur die Rolle der ermittelnden Kommissarin vom LKA Berlin bleibt seltsam blass.

„Gefahr der Antibiotikaresistenzen gehört zum Alltag“

Dass das alles kein futuristisches Hirngespinst ist, erklären die Autorinnen im Anschluss an ihren Roman in einem aufschlussreichen Nachwort. Beide hätten sich für ein reales Szenario entschieden. „Leider gehört die Gefahr der Antibiotikaresistenzen, die wir im Buch skizzieren, zu unserem Alltag.“ Schon 2014 habe die Weltgesundheitsorganisation festgestellt, dass weltweite Epidemien mit multiresistenten Erregern nicht mehr auszuschließen seien.

„Die Menschen sind mobil, sie reisen, und all das führt dazu, dass wir Keime mit gefährlichen Multiresistenzen, die wir in und an uns tragen, aus Ländern einschleppen, in denen Antibiotika unregulierter verschrieben werden.“ Diese Bakterien können dann zur Gefahr werden, erklären die Autorinnen. „Dass in der Folge pan-resistente Erreger entstehen können, gegen die alle gängigen Antibiotika nicht mehr wirken, ist bisher zwar noch selten, aber leider Wirklichkeit.“

In dem oben erwähnten Interview sagt Thiele, sie halte das Genre der Wissenschaftsthriller als gute Wissenschaftskommunikation für sehr geeignet, um neue Zielgruppen zu erreichen. Das sei ein „Riesenpotenzial, um Elemente der Forschungsrealität mit erschreckenden Entwicklungen in unserer Welt wie zum Beispiel Klimawandel, Seuchen, Biowaffen zu verbinden“.

Tödlicher Erreger aus dem Permafrost

Und so haben die beiden Autorinnen in diesem Jahr bereits den Nachfolge-Roman „Toxin“ auf den Markt gebracht, in dem wir einigen der Figuren aus „Probe 12“ wieder begegnen werden. Diesmal geht es um einen tödlichen Erreger, der vor zehn Jahren durch das Auftauen des Permafrostbodens in Alaska freigesetzt wurde. Möglicherweise ist der Erreger im heutigen Berlin für einige Todesfälle verantwortlich.

„Probe 12“ ist der gut geschriebene, wissenschaftlich fundierte Auftakt dazu. Die Wochenzeitung Die Zeit hat ihn die verlagseigene, siebenteilige Buch-Edition „Wissenschafts-Thriller“ aufgenommen, gleichzeitig war der Roman im Jahr 2022 bei Bild der Wissenschaft als bestes Wissensbuch 2022 in der Kategorie „Unterhaltung“ nominiert (2020/2021 hatte in dieser Kategorie Dominik Eulbergs „Mikroorgasmen überall“ gewonnen). Wer sich für Wissenschaftsthriller begeistert, die intelligent aufgeschrieben sind, sollte hier also definitiv mal einen Blick riskieren.

Kathrin Lange, Susanne Thiele: Probe 12, Bastei-Lübbe-Verlag, Köln, 2021, 493 Seiten, broschiert, 15,90 Euro, ISBN 978-3785727553, Leseprobe

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