Bizarre Begierde nach dem Vergewaltiger

OhEines der bekanntesten Enfants terribles der französischen Literatur hat wieder zugeschlagen: Philippe Djian stichelt in seinem neuen, ins Deutsche übersetzte Werk mit dem schlichten Titel „Oh…“ nicht mehr gegen den Literaturbetrieb, sondern widmet sich der Film- und Fernsehindustrie. Hauptthema aber ist die Bewältigung einer erlebten Vergewaltigung. Wie immer hat Djian das raffiniert verwoben. Nur mit seinem üblichen Chaos-Setting hat er es diesmal etwas übertrieben.

Michèle ist eine knallharte Filmproduzentin, die an mehreren Fronten gleichzeitig kämpft: Sie hat eine Affäre mit dem Mann ihrer besten Freundin, ihr Sohn ist auf dem besten Wege, sich ein Kuckuckskind unterschieben zu lassen, und ihr eigener Vater sitzt seit Jahren im Gefängnis, weil er einst 70 Kinder in einem Ferienlager an der Atlantikküste erschossen hat. In Frankreich kennt man Michèles Vater nur als „Das Monster von Aquitanien“. Zu allem Überfluss kündigt Michèles 75-jährige Mutter an, wieder heiraten zu wollen, und zwar ihren wesentlich jüngeren Lover.

Michèle ist es gewohnt, dass die Menschen vor ihrer Dominanz zurückschrecken und unter ihr einknicken. Eines Tages aber wird sie in ihrem eigenen Haus überfallen und vergewaltigt. Sie selbst ist nun die Schwache, die Unterlegene, und das wirft sie völlig aus der Bahn. Sie beschließt, niemandem davon zu erzählen, weiterzumachen wie bisher, sich aber Pfefferspray zu kaufen und das Haus mit einer Alarmanlage zu sichern. Vielleicht glaubt sie, die völlig durchgedrehte Welt um sie herum werde sie das Erlebte schon vergessen lassen. Aber das funktioniert nicht. Mehr noch: Sie beginnt zu realisieren, dass ihr die Erinnerung an die Machtübernahme durch den vermummten Mann ungeahnte Lust verschafft. Sie begehrt ausgerechnet den Mann, der sie zuvor vergewaltigt hat. Die anderen Männer und Geliebten in ihrem Leben sind dagegen Langweiler, Banker, Nachbarn und vor allem: stets unterwürfig.

Sex spielt eine wichtige Rolle

Wer jetzt glaubt, Djian hätte die französische Version von „Shades of Grey“ geschrieben, der irrt. Solche Nacheiferungen hat Djian nicht nötig. Sex spielt in allen seinen Büchern eine wichtige Rolle, und auch bei „Oh…“ ist er allgegenwärtig. In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus erklärte Djian, auf das Thema Sex in seinen Büchern angesprochen: „Zuerst geht es mir um die Beziehungen zwischen Menschen. Da kann ich diesen Bereich schwerlich auslassen. Die Gesten, die mit Sex zu tun haben, sind äußerst aufschlussreich für die Psyche der Personen. Da kann man wirklich erkennen, ob jemand ein gemeiner Hund ist oder nicht.“

Michèle ist kein gemeiner Hund, sondern schlichtweg eine Frau, der etwas Ungeheuerliches passiert ist, und der wir dabei folgen, das Erlebte zu verstehen. Und trotz der vielen wörtlichen Rede in diesem Buch ist es eher ein innerer Monolog, den man zwischen den Zeilen lesen muss, zwischen den assoziativen Reihungen, die manchmal so viel Fahrt aufnehmen, dass es einem schwindelig werden kann beim Lesen.

Das ist starke Literatur, fürwahr! Aber für den Leser bedeutet das Arbeit: Viel Aufmerksamkeit ist vonnöten! Wer gerne kurz vor dem Schlafen noch ein paar Seiten liest, sollte besser zu einem anderen Buch greifen. Hinzu kommt das eingangs erwähnte maßlos chaotische Setting. Da hätte sich Djian etwas in Zurückhaltung üben können – wobei das noch nie eine von Djians Eigenschaften gewesen ist.

Was dem Diogenes Verlag noch anzukreiden wäre, ist die missglückte Umschlagbeschreibung. Dort ist zu lesen, Michèle sage das titelgebende „Oh…“, „nachdem sie in ihrem Haus bei Paris überfallen wurde“. Möglicherweise ist da zu Beginn ein „Oh…“ verloren gegangen, aber das einzige „Oh…“ dieses Romans fällt auf Seite 231. Und es steht im letzten Satz. Die Beschreibung auf dem Umschlag lässt etwas anderes vermuten. Aber das ist wohl bei einem Buch wie diesem nur eine Nebensache und kann als Kleinlichkeit des Rezensenten abgetan werden.

Philippe Djian: Oh…, Diogenes Verlag, Zürich, 2014, 231 Seiten, gebunden, 21,90 Euro, ISBN 978-3257069044, Leseprobe

Wenn ein Kind zum Mörder wird

Das Kind das tötetWenn der Brite Simon Lelic ein Buch schreibt, kann man sicher sein, dass es ungewöhnlich ist und umstrittene Themen anpackt. Sein Debütroman „Ein toter Lehrer“ befasste sich mit einem Lehrer, der in seiner Schule Amok läuft. In seinem neuesten Streich („Das Kind, das tötet“) erzählt er von einem Anwalt, der einen 12-jährigen mutmaßlichen Mörder verteidigen will. Was die Gesellschaft vom Ideal eines fairen Verfahrens für jeden Angeklagten, gleich seiner ihm vorgeworfenen Tat, hält, führt Lelic eindrucksvoll vor Augen.

Der Geschichte liegt ein Fall aus Englands Justizgeschichte zugrunde: Im Jahr 1993 entführen die beiden Zehnjährigen Jon Venables und Robert Thompson im Einkaufszentrum von Liverpool den erst zwei Jahre alten Jamie Bulger. Eine Videokamera filmt, wie die drei zusammen das Gebäude verlassen. Es sind die letzten Bilder des lebendigen Jamie. Rund drei Stunden später ist er tot. Misshandelt und schließlich von einem Zug überrollt.

Auch Felicitas Forbes muss bis zu ihrem Tod Schreckliches erleiden. Die 11-Jährige in Lelics Roman wird von ihrem Mörder schwer misshandelt, sexuell missbraucht und anschließend in einem Fluss ertränkt. Daniel Blake, „Das Kind, das tötet“, wird wenige Zeit nach der Tat gefasst. Genauso erging es auch damals Jon Venables und Robert Thompson. Und in beiden Fällen folgt eine Hexenjagd sondergleichen.

Wohltuende Überzeugung für Moral und Gerechtigkeit

Für den jungen Anwalt Leo Curtice ist der Anruf, ob er die Pflichtverteidigung im Fall Blake übernehme, wie ein Sechser im Lotto. Er wittert die große Chance, endlich erfolgreich zu sein. Mit großem Ehrgeiz und einer wohltuenden Überzeugung für Moral und Gerechtigkeit macht er sich an die Arbeit, muss aber an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen.

Denn die Öffentlichkeit und die Medien gehen wenig zimperlich mit seinem Mandanten um. Die Gazetten des Landes machen Daniel Blake zu einem Monster, dem kein Recht auf eine Verteidigung gestatten werden dürfe. Leos Tochter Ellie wird in der Schule zunehmend gemobbt und eines Tages sogar mit roter Tinte überschüttet. Die Harmonie in der Familie hängt an einem dünnen Faden, denn auch Leos Frau Meg, die selbst öffentlich beschimpft wird, hat immer weniger Verständnis für sein Engagement in diesem Fall.

Als Leo die ersten Drohbriefe bekommt, ist das der Anfang vom Ende. Er verheimlicht sie. Stattdessen baut er weiter an seiner Verteidigungslinie und versucht, Daniels Vertrauen zu erlangen, der bislang geschwiegen und nichts zu seinen Beweggründen gesagt hat. Auch darum geht es in Lelics Roman: Die Ahnung dafür zu bekommen, was diesen kleinen Jungen dazu gebracht hat, eine 11-Jährige zu ertränken. Eine Ahnung, mehr nicht.

Die Geschichte in der Geschichte

Ausdrücklich muss bei diesem Buch gewarnt werden, dass es sich dabei nicht um einen Krimi oder einen Thriller handelt. Dies ist ein Roman. Und er ist beileibe nicht immer leicht zu lesen, weil Lelic gerne auch die Geschichte in der Geschichte erzählt. Jene über Daniels Familie und die Ohnmacht der Mutter und des Stiefvaters, mit den Geschehnissen umzugehen. Auch jene über die Gefahr des Auseinanderbrechens einer Ehe. Oder eben jene dramatische Geschichte einer Tochter, Leos Tochter Ellie, die plötzlich verschwindet. Als Folge der Drohbriefe? Als Racheakt?

Lelic schreibt das alles gekonnt auf, ohne dabei in reißerische Darstellungen zu verfallen. Seine klare Untersuchung der Ereignisse ist trotzdem nahegehend und aufwühlend. Und so ist Lelics drittes Buch einmal mehr ein empfehlenswertes Werk geworden. Dass der Droemer Verlag den wesentlich zurückhaltenderen Original-Titel „The Child Who“ geradezu marktschreierisch mit „Das Kind, das tötet“ übersetzt und veröffentlicht, ist jedoch nicht zu verstehen.

In der britischen Tageszeitung „The Guardian“ stellte der Kulturredakteur die Frage: „Könnte dieses Buch Lelics absoluter Durchbruch sein?“ Und antwortete selbst: „Verdient hätte er es.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Simon Lelic: Das Kind, das tötet, Droemer Verlag, München, 2013, 350 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 3426199435, Leseprobe

Keine Zähne, kein Biss

Cry BabyIn Wind Gap, einer kleinen Stadt am Mississippi und im äußersten Südosten von Missouri, ist ein junges Mädchen ermordet worden. Ein zweites Kind wird vermisst, und die Einwohner fürchten, dass es das Schicksal des ersten Opfers teilen wird: erdrosselt und aller Zähne beraubt wird man auch dieses Mädchen finden. Die Daily Post aus Chicago schickt Camille Preaker als Reporterin in das kleine Nest. Es ist ihre Heimatstadt und Wiege traumatischer Erlebnisse.

Camille trägt die Wunden der Vergangenheit tagtäglich mit sich herum. Einst schnitt sie sich mit Rasierklingen Wörter in die Haut. Ihr ganzer Körper ist damit übersät. Nur auf dem Rücken ist eine kreisrunde Stelle verschont geblieben, weil sie mit der Hand nicht hinreichte. Die äußeren Narben weiß sie gut zu verbergen. Mit langer Kleidung. Mit Vorsicht. Die inneren betäubt sie mit Alkohol.

Das Verhältnis zur Mutter ist distanziert. Kein Wunder: Sie reagiert kühl, ja, fast eisig und macht keinen Hehl daraus, dass Camille nicht herzlich willkommen ist. Die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung belastet die Recherchen in Wind Gap von Anfang an. Die örtliche Polizei kommt mit dem Fall ebenfalls nicht so recht voran, auch der eigens aus der Großstadt gerufene Profiler stochert im Nebel, macht Camille aber schöne Augen.

Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt

Dann wird plötzlich das zweite Mädchen gefunden. Erdrosselt und zwischen zwei Hauswände gesteckt. Auch diesem Mädchen fehlen die Zähne. Wer war es denn nun? Das möchte auch der Leser endlich wissen, doch das Buch „Cry Baby“ verliert sich. Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt.

Dabei hat der Buchumschlag etwas anderes versprochen. Auf der Buchrückseite wird Stephen King zitiert: „Dies ist ein absolut grandioser Roman. Mir grauste es vor den letzten dreißig Seiten, aber ich konnte nicht anders, ich musste umblättern. Dann, nachdem ich das Licht gelöscht hatte, merkte ich, dass die Geschichte in meinem Kopf blieb, zusammengerollt und zischend wie eine Schlange in einer Höhle.“ Auf den Marketing-Trick des Verlags fiel offensichtlich auch die Zeitschrift Bild + Funk aus dem Gong-Verlag herein, die in einer Rezension schrieb: „Selbst Steven King lobte es in höchsten Tönen!“ Na, dann kann es ja nur gut sein.

So übermäßig gelobt worden ist das Debüt der Bestsellerautorin Gillian Flynn, die erst mit ihrem dritten Roman „Gone Girl“ den weltweiten Durchbruch erlebte. Von der Klasse jenes Bestsellers ist Flynn in „Cry Baby“ aber noch meilenweit entfernt. Eine begabte Schreiberin ist hier beileibe nicht am Werk.

Der Geschichte fehlt der Biss

Die Figuren sind schwach und zu klischeehaft gezeichnet, und der Geschichte fehlt der Biss. Sie bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück. In einem Interview mit dem Fischer Verlag sagte Flynn: „Bei „Cry Baby“ war ich mir lange Zeit nicht darüber im Klaren, wer eigentlich der Mörder sein sollte.“ Das merkt man dem Buch leider an.

So bleibt Flynns erstes Werk eine Enttäuschung für den Leser. Auf dem deutschen Buchmarkt ist es wohl nur aufgrund des enormen Erfolgs von „Gone Girl“, das von David Fincher verfilmt wurde und im Herbst 2014 in die deutschen Kinos kommt. Neben „Cry Baby“ (erste deutsche Veröffentlichung im Jahr 2007) ist auch Flynns zweites Buch „Dark Places“ (erste Veröffentlichung 2010 unter dem Titel „Finstere Orte“) nun wieder neu aufgelegt worden. „Cry Baby“ ist aber ein Buch, das das Regal nicht braucht.

Gillian Flynn: Cry Baby – Scharfe Schnitte, Fischer Scherz Verlag, Frankfurt, 2014, 332 Seiten, broschiert, 12,99 Euro, ISBN 978-3651011649, Leseprobe

Das perfide Verbrechen

Gone GirlEs gibt Bücher, über die ein Leser zuvor nicht zu viel wissen sollte. So können sie ihn unvorbereitet und mit voller Wucht treffen. Der Roman „Gone Girl“ ist ein solches Buch. Wer es nicht gelesen hat, hat eines der aufregendsten Bücher des Jahres 2013 verpasst. Das perfekte Verbrechen ist überholt. Es lebe das perfide Verbrechen!

Ausgerechnet an ihrem fünften Hochzeitstag verschwindet Nicks Frau Amy. Die Haustür steht sperrangelweit offen, im Wohnzimmer liegt der Couchtisch in Scherben, Möbelstücke sind umgeworfen, alles sieht nach einem Kampf aus. Und Amy ist nicht da. Sie ist weg, verschwunden.

Die Polizei entdeckt in der Küche Reste von Blutspuren. Sie sind fortgewischt worden, nachdem dort jemand viel Blut verloren haben muss. Schnell konzentrieren sich die Ermittlungen auf Nick, der teilweise erschreckend dümmlich reagiert. Amys Eltern, die einst Millionen mit einer Kinderbuchserie über ihre Tochter verdient haben, fangen an, ihrem Schwiegersohn zu misstrauen. Und auch der Leser hat es schwer mit Nick.

Eine der Größen dieses Romans

Gerade das aber ist eine der Größen dieses Romans, der weniger Thriller oder Krimi, als vielmehr die erschreckende psychologische Studie einer Ehe ist. Die Autorin Gillian Flynn lässt Nick und Amy abwechselnd erzählen. Von Nick erfährt der Leser den aktuellen Fortgang der Geschichte, angefangen mit Amys Verschwinden.

Amy aber lässt den Leser ihre Tagebucheinträge vom Beginn ihrer Beziehung lesen. Anfangs sprüht aus ihren Zeilen die unbedingte Verliebtheit, die Schwärmerei, das Glück. Nick und Amy leben und arbeiten in New York und genießen den angenehmen Mittelklassen-„way of life“.

Doch dann geraten Leben und Liebe in Schieflage. Beide verlieren ihre Jobs als Journalisten, und Nicks Mutter liegt im Sterben. Der beschließt für Amy gleich mit, dass sie in seine Heimatstadt ziehen. Nach North Carthage, Missouri, in ein Haus direkt am Mississippi River.

Weder Glück noch Freunde

Dort findet Amy weder Glück noch Freunde. Das geht auch nicht spurlos an der Beziehung vorbei. Beide reiben sich aneinander und gegenseitig auf. Und plötzlich ist Amy weg. Nachbarn berichten der Polizei von lauten Streitereien. Der Verdacht fällt unweigerlich auf Nick.

Doch das Verschwinden Amys ist nicht das einzige Mysterium des Romans. Rätselhaft ist auch, wie sich ein auf den ersten Blick so perfektes Paar nach nur wenigen Jahren derart voneinander entfernen kann. Die Bezeichnung „Entfremdung“ wäre noch euphemistisch. Der Roman berührt damit auch die ureigenen Ängste, die jeder romantischen Beziehung zugrundeliegen, ohne dass man sie offen zu Tage treten lässt: Können wir das anfängliche Glück, die Liebe, das unbedingte Vertrauen über Jahre hinweg erhalten? Oder sind die Geheimnisse, die wir voreinander haben, wie ein schwarzes Loch, das uns unaufhaltsam ins Nichts zieht?

In den USA war Flynns Roman ein Bestseller. Die Rezensenten der großen Zeitungen überboten sich in ihren begeisterten Lobeshymnen. Regisseur David Fincher verfilmt das Buch derzeit mit Ben Affleck und Rosamunde Pike. Schon 2014 soll es in die Kinos kommen.

Auch in Deutschland wurde das Buch bereits sehr hofiert. Der Fischer Verlag begleitete das Erscheinen mit einer großen Werbekampagne. In den meisten Fällen mutet ein solcher Aufwand seltsam an. Der Verdacht liegt nahe, dass es dieses Buch ohne Werbung niemals in die Hände deutscher Leser schaffen würde. Doch in diesem Fall ist das Brimborium berechtigt. „Gone Girl“ ist eine Wucht.

Gillian Flynn: Gone Girl – Das perfekte Opfer, Fischer Scherz Verlag, Frankfurt, 2013, 576 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3502102229, Leseprobe

Vom Vögeln statt Lieben

Maria RosenblattSex spielt in dem neuen Roman von Corinna T. Sievers eine wichtige Rolle. Maria Rosenblatt, die herrische Chefin in einem männerdominierten Kommissariat der Stadtpolizei in Zürich, ermittelt in mehreren Fällen von Kinderpornografie, die sie an ihre Belastungsgrenze bringen. Sie selbst ist süchtig nach Sex und Liebe, ihr Ehemann aber hat zum letzten Mal mit ihr geschlafen, als sie vor fünf Jahren die zweite Tochter zeugten. Was also tun? Der Roman ist offen und direkt: Es wird gefickt und gelitten in diesem wirklich lesenswerten, harten Psychogramm einer starken Frauengestalt. Männer sind hier nur Kretins.

Maria Rosenblatt ist 45 Jahre alt und steckt in einer Ehe, bei der Mann und Frau mehr Lebenspartner als Sexualpartner sind. Auch die Kommunikation ist auf der Strecke geblieben. Geäußert wird nur noch ein verwässertes Etwas der Essenz. Maria rackert sich ab, beruflich wie privat, sendet hoffnungsvoll Signale eines noch nicht erkalteten Interesses an ihrem Mann und ihrer Ehe und erntet doch nur Vorwürfe, sie kümmere sich nicht ausreichend um die Kinder.

Auch in ihrem aktuellen Fall geht es um Kinder. Unbekannte Täter fotografieren tote Kinder in pornografischer Art und Weise. Durch Zufall wird ein Handy mit entsprechenden Bildern gefunden, die offenbar per MMS verschickt worden sind, von Prepaidhandy zu Prepaidhandy, nicht nachzuverfolgen. Die Bilder in der Akte, vor Augen und im Kopf belasten nicht nur Maria, sondern gehen auch dem Leser an die Nieren.

Als Frau männlich sein

Die Ermittlungen sind zäh. Dabei ist es nicht hilfreich, dass Maria auch im Kommissariat an verschiedenen Fronten kämpfen muss. Im Grunde muss sie als Frau männlich sein, schroff, herrisch, streng. Um für die Männer nicht nur eine Frau, sondern die Vorgesetzte zu sein.

Sie ist genervt von einem Kollegen, der sich in ihrer Gegenwart ungeniert zwischen die Beine fasst. Ein anderer, Detlef, war einst ihr Liebhaber. Er behauptet, seitdem nur noch blonde Frauen vögeln zu können. Zu vögeln, nicht zu lieben. Sie hatte ihn damals verlassen, weil er nicht fähig war, ihr beim Sex schmutzige Worte ins Gesicht zu sagen. Darauf steht sie: Dirty Talk. Stattdessen war er ihr hörig.

In den Armen des neuen, ihr vorgesetzten Staatsanwalts findet sie einen Zufluchtsort, zwischen seinen Beinen einen Zu-Ficken-Ort. Es ist die Flucht vor der totalen Erschöpfung. Beim Steinmetz am See bestellt sie ihren eigenen Grabstein. Sie zahlt ihn an, doch am nächsten Tag storniert sie den Auftrag. „Abends im Bett hatte sie Hannes gefragt, ob es ihm auch so ginge, dass er die Toten um ihre Ruhe beneide.“ Ruhe. Mitunter findet sie die, wenn sie am See steht, ein wenig abseits der Autostraße in die Stadt. Ansonsten betäubt sie sich mit Alkohol.

Klare, sehr nüchterne Wortwahl

Die Figur der Maria Rosenblatt ist keine Sympathieträgerin. Doch gerade das ist einer der wichtigsten Aspekte des neuen Romans der Ärztin und Autorin Corinna T. Sievers. Einer netten, zuvorkommenden Frau nähme man die Geschichte nicht ab. Sie muss also eine harte, toughe Frau sein, wild und schamlos. Das Buch steht ihr in nichts nach. Es ist ein kurzer, nur rund 140 Seiten umfassender Kanten, der sich mit Wucht ins Gehirn hämmert. Hier wird nichts beschönigt. In klarer, sehr nüchterner Wortwahl beschreibt Sievers den atemlosen Kampf dieser Frau.

In einem Interview mit der in Bielefeld erscheinenden Tageszeitung Neue Westfälische erklärte Sievers eine der Intentionen ihres Buches: „Ich verstehe mein Buch (…) auch als Hilfeschrei einer Ärztin, die in ihrer Profession fast immer nur von Männern umgeben ist, die oftmals nicht trennen können zwischen dem Erotischen und dem Intellektuellen, wenn sie einer Frau begegnen.“

Der Roman ist wahrlich kein freudiges Leseerlebnis. Und dennoch ist es ganz und gar lesenswert. Ein ernsthaftes, wichtiges Buch.

Corinna T. Sievers: Maria Rosenblatt, Verlag Lutz Schulenburg (Edition Nautilus), Hamburg, 2013, 143 Seiten, gebunden, 16 Euro, ISBN 978-3894017798, Leseprobe

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