Stalking in Stockholm – Kepler kann’s doch

Ich jage dichRund ein Jahr lang hat Lars Kepler seine Leser warten lassen. Jetzt endlich ist der fünfte Kriminalroman mit dem eigensinnigen Ermittler Joona Linna erschienen – und das Rätsel um seinen möglichen Tod gelöst. Anfangs noch etwas wacklig auf den Beinen sucht er diesmal einen brutalen Serienmörder und Stalker, der offenbar ein heftiges Problem mit Frauengesichtern hat. Glücklicherweise ist der fünfte Band durchdachter und spannender als sein Vorgänger.

Stellen Sie sich vor, es ist Abend und Sie sitzen allein mit einem Glas Wein auf dem Sofa und schauen Fernsehen. In einer Werbepause blicken Sie gedankenverloren aus dem Fenster und entdecken plötzlich ein Gesicht an der Scheibe. Im nächsten Augenblick ist es verschwunden, und Sie können sich nicht mehr sicher sein, ob Sie es wirklich gesehen haben. Sie stehen auf und treten näher ans Fenster, doch dort spiegelt sich nur das hell erleuchtete Zimmer, in dem Sie stehen. Hat Ihnen die eigene Müdigkeit ein Schnippchen geschlagen? Sie lächeln über ihre Angst und kehren zum Sofa zurück. Doch jetzt haben Sie ein Geräusch gehört und fragen sich: Bin ich wirklich allein?

Die Frauen, die in Stockholm dem Stalker begegnen, stellen sich diese Frage nicht lange, denn schon im nächsten Moment bringt er sie auf blutrünstige und bestialische Art und Weise um. Er entstellt ihre Gesichter und lässt die Leichen in rätselhaften Positionen zurück. Der Polizei mailt er zuvor ein Video, das das Opfer noch zu Lebzeiten zeigt, gefilmt durch die hell erleuchteten Fenster. Die Informationen reichen jedoch nie aus, um den Mord zu verhindern.

Großteil der Spuren vernichtet

Gerade der letzte Mord aber hat es noch besonders in sich, denn der Ehemann des Opfers findet seine Frau kurz nach der Tat und reagiert panisch. Er putzt das Haus und trägt seine Frau ins Bett. Für die Kriminalpolizei ist es ein Fiasko, weil er damit den Großteil der Spuren vernichtet hat. Hinzu kommt, dass der Ehemann unter der traumatischen Erfahrung einbricht und sich nur noch bruchteilhaft daran erinnert, was er gesehen hat. Die Landeskriminalpolizei unter Leitung der hochschwangeren Kommissarin Margot Silverman beauftragt den Psychiater Erik Maria Bark damit, den Ehemann unter Hypnose zu befragen.

Kepler-Leser kennen Bark schon seit dem Debüt-Roman „Der Hypnotiseur“. Inzwischen ist er von seiner Frau geschieden, hat hin und wieder Frauenbekanntschaften und frönt immer noch seinem Laster, der Tablettensucht. Die Hypnose des Ehemanns führt ihn zurück zu einem alten Fall, bei dem der Tatort ähnlich aussah. Bark verschweigt der Polizei dieses Detail, offenbart sich aber gegenüber seinem besten Freund Joona Linna. Gemeinsam ermitteln sie auf eigene Faust, aber auch sie können das Morden nicht aufhalten. Und plötzlich steht Bark selbst direkt in der Schusslinie.

Mit dem neuen Roman hat das schwedische Autoren-Ehepaar Alexandra Coelho Ahndoril und Alexander Ahndoril alias Lars Kepler zu seiner alten Klasse zurückgefunden. Die liebgewonnenen Charaktere Joona Linna und Erik Maria Bark entwickeln sich entscheidend weiter, und auch andere Figuren aus der Reihe tauchen wieder auf. Neu in dem Gefüge ist die schwangere Kommissarin Margot Silverman, die trotz weit vorgeschrittener Schwangerschaft noch arbeitet und unter der zusätzlichen Belastung leidet, einen schnellen Ermittlungserfolg vorweisen zu müssen. Lars Kepler lässt sie deshalb leicht aus der Haut fahren, sie ist oft genervt, ähnlich starrköpfig wie Linna und wirkt über weite Strecken des Buches eher unsympathisch. Sie ist für den Leser nicht leicht zu nehmen, und gerade das macht sie zu einer der interessantesten Figuren.

Spannend und dramatisch

Litt der Vorgänger noch an zahlreichen Ungereimtheiten, so merkt man diesem Roman an, dass er besser recherchiert worden ist. Nach wie vor schreibt Lars Kepler sehr brutal und blutig; für zarte Gemüter ist auch der neue Roman deshalb nicht geeignet. Als Schwedenkrimi-Leser ist man einiges gewöhnt, aber hier legt Kepler nochmal eine Psycho-Schippe nach. Es ist spannend und dramatisch, und die kurzen Kapitel sorgen für einen ganz eigenen Lese-Sog. Es bleibt zu hoffen, dass die restlichen Bände der auf acht Bücher ausgelegten Serie weiterhin auf diesem Niveau bleiben.

Fraglich ist aber erneut, warum der Bastei Lübbe Verlag den passenden Titel der schwedischen Originalausgabe („Stalker“) nicht übernommen, sondern ihn mit „Ich jage dich“ übersetzt hat. Die Umschlaggestaltung mit einem auf den Betrachter gerichteten Fotoapparat unterfüttert die Deutungsmöglichkeit, dass nicht Stalking das Thema des Buches ist, sondern vielleicht ein Paparazzo. Der Mörder aber fotografiert seine Opfer nicht, sondern filmt sie. Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass der Verlag weiterhin seiner Linie treu bleibt und die Bücher der Serie mit farblich passenden Lesebändchen versieht.

Lars Kepler: Ich jage dich, Bastei Lübbe Verlag, Köln, 2015, 687 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,99 Euro, ISBN 978-3785725115, Leseprobe

Ein Manifest zur Sexarbeit

Hure spielenMelissa Gira Grant ist in den USA eine der bekanntesten Stimmen in der Debatte um Sexarbeit. Jetzt ist ihr Sachbuch „Hure spielen – Die Arbeit der Sexarbeit“ auch auf Deutsch erschienen. Es beleuchtet vor allem die Diskussion in den USA, wo das Kaufen und Verkaufen von Sex illegal ist. Die Analyse der Journalistin, die früher selbst Sexarbeiterin war, stellt überzeugend die Vielfalt der Sexarbeit dar, aber auch wie einfältig wir immer noch das Thema betrachten. Dabei finden sich auch nachdenklich stimmende Parallelen zur deutschen Debatte um ein Verbot der Prostitution. Wer sich zu diesem Thema eine Meinung erlaubt, sollte „Hure spielen“ gelesen haben.

Das Buch der US-Autorin in der Öffentlichkeit zu lesen, könnte zur Folge haben, dass Sie skeptische, prüfende Blicke ernten. Zunächst auf den Buchumschlag, dann ins Gesicht. Abschätzend, nicht unbedingt abschätzig. „Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit“ steht in großen Lettern auf der Vorderseite des Buchdeckels. „Hure“ funktioniert als Reizwort und ist immer noch zutiefst negativ besetzt.

Grant, die dem Hurenstigma ein eigenes Kapitel widmet, erklärt, dass auch viele Menschen, die gar nicht der Sexarbeit nachgehen, mit dem Wort „Hure“ gebrandmarkt werden: „Sie werden mit diesem Stigma behaftet, weil sie gegen bestimmte ‚Zwangstugenden‘ verstoßen haben, oder weil ihnen das unterstellt wird.“ Die Äußerung des Hurenstigmas als Folge der feministischen Tradition der Hurenbewegung könne aber einen Ausweg aus der Situation bieten, indem sich Frauen innerhalb und außerhalb der Sexbranche mehr miteinander solidarisieren.

Das Wort von dem Hass befreien

In einem späteren Kapitel erklärt Grant jedoch, dass es womöglich schwierig sei, genug aktive und ehemalige Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter zusammenzubekommen, die „sich darauf einigen können, die Bezeichnung ‚Hure‘ für sich positiv zu besetzen, so wie das mit dem Adjektiv ’schwul‘ gelungen ist.“ Dabei sei es doch erstrebenswert, das Wort von dem Hass zu befreien, den es mit sich trage, und den Mechanismen etwas entgegensetzen zu können, mit denen Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter definiert oder in Kategorien eingeteilt werden.

„Ich glaube nicht, dass wir irgendjemanden und schon gar nicht uns selbst abwerten, wenn wir uns selbst als ‚Huren‘ bezeichnen. Allein schon um zu zeigen, dass niemand durch das abgewertet wird, was zwischen meinen Beinen passiert, und auch nicht durch das, was ich darüber zu sagen habe, sollten wir den Begriff ‚Hure‘ für uns besetzen.“

Grant ist selbst ehemalige Sexarbeiterin, hat aber in ihrem Buch ausdrücklich nicht von ihren Erfahrungen geschrieben, sondern andere zu Wort kommen lassen. Trotzdem ist es eine sehr persönliche Streitschrift geworden, auch weil sie nicht immer journalistisch korrekt objektiv berichtet und analysiert und auch mit Humor und Polemik nicht spart. Aber sie stellt die Fragen, auf die es oft nur unbequeme Antworten gibt. Und in vielen Bereichen ist dieses Buch vor allem eins: ein Manifest der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter.

Stereotyper Irrglaube

Kommen wir zum Lesen in der Öffentlichkeit zurück: Wird Frauen womöglich eine andere Motivation zur Lektüre unterstellt als Männern? Das könnte eine Folge des stereotypen Irrglaubens sein, Männer seien die Freier, Frauen die Prostituierten. Doch es gibt Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter. Dankenswerterweise beschränkt sich Grant in ihrem klugen Buch nicht nur auf die Frauen in der Sexarbeit, sondern bezieht auch die Männer und Transsexuellen ein.

Die „Prostituierten-Rettungsindustrie“ aber, wie die Ethnologin Laura Augustín das Phänomen nennt, sieht nur die Frauen – und die sind stets die Opfer. Nach Ansicht der „Retter“ muss deshalb zum einen den Sexarbeiterinnen geholfen werden, weil sie von den Freiern ausgenutzt werden, zum anderen aber auch den Frauen, die sich gegen die professionellen Reize der Sexarbeiter nicht wehren können. Diesen Irrglauben beleuchtet die deutsche Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal in ihrem lesenswerten Vorwort auch in einem Exkurs zum Thema Geschlechtsehre.

Grant streitet für viele Aspekte der Sexarbeit. Aber am wichtigsten ist ihr, dass Sexarbeit tatsächlich als Arbeit anerkannt wird, als Option, Geld zu verdienen und der Armut zu entkommen. Die „Rettungsindustrie“ aber erkenne die Sexarbeit nicht nur nicht als Arbeit an, sondern glaube darüberhinaus zu wissen, dass keine Prostituierte ihrer Arbeit freiwillig nachgeht. So werde die Kritik der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter an den Bedingungen der Sexarbeit oft „schlicht als Beweis für deren eigentlichen Wunsch gelesen (…), eine andere Arbeit zu finden.“ Dabei gehörten Beschwerden über Arbeitsbedingungen zu jeglicher Art von Arbeit und sollten nicht anders gesehen werden, nur weil sie Prostituierte äußern. Grant zitiert als Beispiel zu diesem häufigen Missverhältnis die Journalistin Sarah Jaffe, die als Kellerin gearbeitet hat: „Niemand wollte mich je aus dem Gastronomiesektor retten.“

Warnung vor einseitigen Darstellungen

Dass Sexarbeit nicht immer nur Arbeit ist, sondern auch mit Gewalterfahrungen zusammenhängen kann, verschweigt Grant indes nicht. Aber sie warnt davor, die Arbeit einseitig und stets als Gewalterfahrung darzustellen und sie für die „Rettungsindustrie“ zu instrumentalisieren. So gebe es auch andere Arbeitsfelder, in denen Frauen ausgebeutet oder an der Gesundheit geschädigt werden, und trotzdem nenne man deren Beschäftigungsfeld Arbeit. Im Bereich der Sexarbeit aber scheine die Distanz zu fehlen.

Grants Buch handelt selbstverständlich auch viel von der Sexarbeit in den USA. Dort kommt es immer wieder zu demütigenden Polizeieinsätzen gegenüber Menschen, die verdächtigt werden, der Prostitution nachzugehen, und Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter werden gesellschaftlich ausgegrenzt. Grant zeigt detailliert, wie die Sexarbeit systematisch kriminalisiert wird.

Einen weiteren unglaublichen Teil besorgt dann noch ein Teil des Feminismus‘, der fordert, man müsse die Prostitution zum Wohle der Frauen verbieten, ohne je zuvor mit einer Prostituierten gesprochen zu haben. Auch dafür kämpft Grant mit ihrem Buch: Dass die Öffentlichkeit den Sexarbeitern zuhört. Dass sie gehört und vor allem ernst genommen werden. Dass sie über die Gefahren in ihrem Leben sprechen können. Und dass sie nicht gleich in eine Opferrolle gedrängt werden.

Das lässt sich auch auf Deutschland beziehen, wenngleich sich hier die Situation für Prostituierte verbessert hat. Aber auch hier sollten Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter am Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden. Es sei denn, sie gelten auch bei uns nur als Opfer. Oder als Unmündige. Die öffentliche Debatte zu den angestrebten Änderungen der Bundesregierung am Prostitutionsgesetz ist weitestgehend verstummt. Es ist den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, aber auch unserer Gesellschaft zu wünschen, dass Grants Manifest die Debatte wieder anheizt.

Melissa Gira Grant: Hure spielen – Die Arbeit der Sexarbeit, Edition Nautilus, Hamburg, 2014, 191 Seiten, Taschenbuch, 14,90 Euro, ISBN 978-3894017996, Leseprobe

12 Frauen

AnnaliederWelche Entdeckung ist diese Autorin! Ein gutes Dreivierteljahr, nachdem Nadine Kegele bei der Lesefestwoche Wien aus ihrem Debütwerk „Annalieder“ vorgelesen hat, stellt sich das Gefühl der Hochachtung schnell wieder ein. Der Erstling, endlich vollständig vom Rezensenten gelesen, ist so tief beeindruckend wie schwierige Kost, aber nicht für jedermann geeignet.

„Annalieder“, das sind zwölf Erzählungen über zwölf Frauen, von denen Anna nur eine ist. Diese Geschichten sind allesamt keine Lieder, die man vergnügt trällern würde, obgleich sie Momente der Komik haben. Es sind vielmehr Melodien, die zu nachdenklichen Chansons taugen, viel Moll, einige Misstöne, scheinbar Unpassendes dazwischen, wie ein Klavierspieler, der zu viele Tasten auf einmal trifft.

Die Frauen in Kegeles Geschichten stecken mitten drin. Im Leben, im Schlamassel, im Auf- oder Ausbruch. Die eine schneidet sich versehentlich die Brustwarze auf, als sie mit dem Rasierer in der Hand nach dem Duschgel greift. Die andere kämpft mit den erzkonservativen Vorstellungen ihres Mannes, der eine Schlagbohrmaschine nicht in der Hand einer Frau sehen möchte und meint, Schwangere dürfen nicht verreisen.

Vaterfiguren zum Partner

Eine sucht sich Vaterfiguren zum Partner („Warum keinen Vater suchen, wenn man einen Vater vermisst, hatte sie geantwortet und mit dem Arm über ihren Mund gewischt.“), eine andere ist Prostituierte und mag nicht mehr.

Kegeles Frauen sind verwundet, ob nun tatsächlich blutend wie eine aufgeschnittene Brustwarze oder seelisch. Es geht um den alltäglichen Kampf der Geschlechter, das ewige „Mann und Frau“, das noch immer nicht gleichberechtigt ist. Es geht aber auch um Scham und existenzielle Fragen.

Schwangerschaft ist ebenso ein großes Thema bei Kegele. „Mir tut es immer leid, wenn sichtlich schwangere Frauen im Publikum sitzen und ich diese Geschichten vortrage“, sagte sie bei ihrer Lesung in Wien. Aber eine Mutterschaft sei etwas Schwieriges, wo Frauen viel abverlangt werde.

Man muss sich mit den Erzählungen beschäftigen

Auch dem Leser wird einiges abverlangt, vor allem Konzentration. Manch einer mag sagen, dieses Büchlein zu lesen, sei Arbeit. Ja, das ist es vielleicht, aber mehr im Sinne von Beschäftigung. Man muss sich mit diesen Erzählungen beschäftigen, denn so lapidar Kegele auf den ersten Blick schreibt – wer die Wörter nur überfliegt, könnte die Landebahn für den Sinn verpassen.

Kegele schreibt nicht nur, sie richtet an. Da finden Sätze plötzlich kein Ende, sodass man meint, man habe Unfertiges vor sich. Die Sprache ist so beschädigt wie die Heldinnen der Erzählungen. Das muss man nicht mögen, aber man kann es. Es sind Kunst-Erzählungen. Nicht über Kunst, sondern mit Kunst. Gekonnt.

Das haben auch andere schon erkannt: Die junge Vorarlberger Autorin, die mit 18 nach Wien kam und dort nach dem Zweiten Bildungsweg Germanistik, Theaterwissenschaften und Gender Studies studierte, ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Unter anderem ist sie die Publikumspreisträgerin des Bachmann-Preis-Wettbewerbs 2013.

Kegele schreibt wie Kegele

Neue Autoren werden gerne mit großen Namen verglichen. „Schreibt wie Proust.“ „Denkt wie Aristoteles.“ „Erinnert an Hemingway.“ Hier mal was Neues: Kegele schreibt wie Kegele. Sie braucht keine großen Namen und Vergleiche.

Wer sich ihr und ihrem Werk erst mal vorsichtig und mit Bedacht nähern möchte, dem sei ihre Homepage empfohlen. Auch bei Twitter kann man ihr folgen. Außerdem hat sie für die Literaturseite zehnSeiten.de aus „Annalieder“ vorgelesen. Das Video ist noch bei YouTube abrufbar.

Am 25. August erscheint im Wiener Czernin Verlag der erste Roman von Nadine Kegele („Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“). Für eine Passage aus diesem Buch hatte Kegele im vergangenen Jahr den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs gewonnen.

Der Textauszug war innerhalb der Jury höchst umstritten, wie auf der Internetseite des Bachmann-Preises nachzulesen und zu sehen ist. Dem Publikum aber scheint er gefallen zu haben. Ob Kegele auch einen ganzen Roman so kunstfertig schreiben kann, und ob dem Leser auch das zusagt, bleibt indes abzuwarten.

Nadine Kegele: Annalieder, Czernin Verlag, Wien, 2013, 112 Seiten, gebunden, 17,90 Euro, ISBN 978-3707604467, Leseprobe

Ophelia schwimmt wieder

Das QuartettDas fünfte Rad am Wagen ist entweder nur Ersatz oder störend, weil es das Gefährt aus der Spur bringt. Ähnlich müsste es bei einem Quartett sein, zu dem ein Fünfter stößt. Fügt es sich, wird es ein Quintett, bleibt das Quartett aber intakt, welche Rolle fällt dem Fünften zu? Bei Manuel Vázquez Montalbáns „Quartett“ ist dies eine von vielen Fragen, die nur unbefriedigend gelöst werden.

Montalbán ist im deutschen Sprachraum vor allem durch seine Kriminalromane mit Pepe Carvalho („Carvalho und die tätowierte Leiche“) bekannt, in denen der Privatdetektiv die Leidenschaft für gutes Essen mit seinem Schöpfer teilt. Der 2003 verstorbene Montalbán war aber nicht nur bekennender Gourmet und Romanautor, sondern auch noch Essayist und Kolumnist der spanischen Tageszeitung El País. Der Kurzroman „Das Quartett“ jedoch weiß offenbar nicht recht, was er sein soll: Charakterstudie, Kriminalroman, Abhandlung oder Kammerspiel.

Auch hier dreht sich die Handlung um einen Mord. Die junge Antiquitätenhändlerin Carlota ist ertränkt und anschließend von Pflanzen umrankt im Teich ihres Anwesens drapiert worden. Wer hier Patin für die schöne Leiche stand, wird auch dem letzten unwissenden Leser schnell beigebracht, denn Montalbán erinnert zunächst an die Ophelia von Everett Millais und zitiert sodann aus Shakespeares Hamlet jene Passage, in der Hamlets Mutter den Tod der Ophelia beschreibt.

Zwei Frauen, drei Männer

Millais ist bei Montalbán das „präraffaelitische Genie“, und Carlota habe man als „präraffaelitische Schönheit bezeichnen können, während Pepa einer Yankeehure der Zwischenkriegszeit glich“. Zwei Frauen, drei Männer. Das Quartett + 1.

Das Quartett besteht aus zwei Ehepaaren, alle um die 30 Jahre alt, schön, erfolgreich, vermögend, egoistisch. Abseits steht und beobachtet der ältere Señor Ventòs das Treiben der Vier: Carlota und Luis sowie Pepa und Modolell.

„Die vier waren zehn Jahre jünger als ich und streckten ihre makellosen Gesichter dem Ernst der Vierzig entgegen, einem Alter, in dem jeder bereits für sein Gesicht selbst verantwortlich ist; und obwohl sie über die Anzeichen ihrer schon spürbaren Reife witzelten, trösteten sie sich durch den wohltuenden Vergleich mit mir.“

Rätselhaft ist nur der Sinn

Señor Ventòs betrachtet die beiden Paare distanziert, als habe er zuvor eine Glasglocke über die Szenerie gestülpt. Die wäre wahrscheinlich aus Murano-Glas, denn Señor Ventòs wohnt seit dem Tod seiner Mutter allein in einem Haus mit einer kostbaren Sammlung von Murano-Glas.

Und während er es sich in seinem Charles-Eames-Sessel mit einem Glas Knockando Gran Reserva bequem macht, betrachtet er die Menschlein. Den Tod der Carlota, die Verhaftung seiner Freunde und das Rätsel eines Verbrechens, das im Grunde kein Rätsel ist, sondern dem Leser schnell offenbar wird. Rätselhaft ist nur der Sinn dieses Kurzromans.

Ja, es könnten fünf Charakterstudien sein. Doch sie werden derart ungewürzt dargeboten, dass es wundert, wie der Gourmet Montalbán daran Gefallen gefunden hat. Sprachlich sind sie viel zu gekünstelt und zeitweise geradezu affektiert.

Manche virtuosen Sätze stechen zwar heraus und sind für die Kategorie „Schöne Worte“ aufschreibenswert, doch meist ist der altkluge und stark von sich eingenommene Señor Ventòs nicht in der Lage, den Leser nachhaltig zu begeistern. Schade um die schöne Ophelia.

Manuel Vázquez Montalbán: Das Quartett, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2012, 90 Seiten, Taschenbuch, 8,90 Euro, ISBN 978-3803126863

Keine Zähne, kein Biss

Cry BabyIn Wind Gap, einer kleinen Stadt am Mississippi und im äußersten Südosten von Missouri, ist ein junges Mädchen ermordet worden. Ein zweites Kind wird vermisst, und die Einwohner fürchten, dass es das Schicksal des ersten Opfers teilen wird: erdrosselt und aller Zähne beraubt wird man auch dieses Mädchen finden. Die Daily Post aus Chicago schickt Camille Preaker als Reporterin in das kleine Nest. Es ist ihre Heimatstadt und Wiege traumatischer Erlebnisse.

Camille trägt die Wunden der Vergangenheit tagtäglich mit sich herum. Einst schnitt sie sich mit Rasierklingen Wörter in die Haut. Ihr ganzer Körper ist damit übersät. Nur auf dem Rücken ist eine kreisrunde Stelle verschont geblieben, weil sie mit der Hand nicht hinreichte. Die äußeren Narben weiß sie gut zu verbergen. Mit langer Kleidung. Mit Vorsicht. Die inneren betäubt sie mit Alkohol.

Das Verhältnis zur Mutter ist distanziert. Kein Wunder: Sie reagiert kühl, ja, fast eisig und macht keinen Hehl daraus, dass Camille nicht herzlich willkommen ist. Die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung belastet die Recherchen in Wind Gap von Anfang an. Die örtliche Polizei kommt mit dem Fall ebenfalls nicht so recht voran, auch der eigens aus der Großstadt gerufene Profiler stochert im Nebel, macht Camille aber schöne Augen.

Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt

Dann wird plötzlich das zweite Mädchen gefunden. Erdrosselt und zwischen zwei Hauswände gesteckt. Auch diesem Mädchen fehlen die Zähne. Wer war es denn nun? Das möchte auch der Leser endlich wissen, doch das Buch „Cry Baby“ verliert sich. Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt.

Dabei hat der Buchumschlag etwas anderes versprochen. Auf der Buchrückseite wird Stephen King zitiert: „Dies ist ein absolut grandioser Roman. Mir grauste es vor den letzten dreißig Seiten, aber ich konnte nicht anders, ich musste umblättern. Dann, nachdem ich das Licht gelöscht hatte, merkte ich, dass die Geschichte in meinem Kopf blieb, zusammengerollt und zischend wie eine Schlange in einer Höhle.“ Auf den Marketing-Trick des Verlags fiel offensichtlich auch die Zeitschrift Bild + Funk aus dem Gong-Verlag herein, die in einer Rezension schrieb: „Selbst Steven King lobte es in höchsten Tönen!“ Na, dann kann es ja nur gut sein.

So übermäßig gelobt worden ist das Debüt der Bestsellerautorin Gillian Flynn, die erst mit ihrem dritten Roman „Gone Girl“ den weltweiten Durchbruch erlebte. Von der Klasse jenes Bestsellers ist Flynn in „Cry Baby“ aber noch meilenweit entfernt. Eine begabte Schreiberin ist hier beileibe nicht am Werk.

Der Geschichte fehlt der Biss

Die Figuren sind schwach und zu klischeehaft gezeichnet, und der Geschichte fehlt der Biss. Sie bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück. In einem Interview mit dem Fischer Verlag sagte Flynn: „Bei „Cry Baby“ war ich mir lange Zeit nicht darüber im Klaren, wer eigentlich der Mörder sein sollte.“ Das merkt man dem Buch leider an.

So bleibt Flynns erstes Werk eine Enttäuschung für den Leser. Auf dem deutschen Buchmarkt ist es wohl nur aufgrund des enormen Erfolgs von „Gone Girl“, das von David Fincher verfilmt wurde und im Herbst 2014 in die deutschen Kinos kommt. Neben „Cry Baby“ (erste deutsche Veröffentlichung im Jahr 2007) ist auch Flynns zweites Buch „Dark Places“ (erste Veröffentlichung 2010 unter dem Titel „Finstere Orte“) nun wieder neu aufgelegt worden. „Cry Baby“ ist aber ein Buch, das das Regal nicht braucht.

Gillian Flynn: Cry Baby – Scharfe Schnitte, Fischer Scherz Verlag, Frankfurt, 2014, 332 Seiten, broschiert, 12,99 Euro, ISBN 978-3651011649, Leseprobe