Die Traumtänzer vom Abgrund

Wir schreiben den 16. November 1925. Mitten im Berliner Amüsierviertel der Friedrichstraße dümpelt eine männliche Leiche in der Spree, Hinterkopf nach oben. Kein Schwimm- oder Tauchunfall, sondern: Mord. Das Opfer ist ein Journalist, der für das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ geschrieben hat. Im Ausklang des Jahres, in dem in München die NSDAP neu gegründet wurde, Hitler den ersten Band von „Mein Kampf“ veröffentlichte und die SS ins Leben gerufen wurde, lässt die Autorin Kerstin Ehmer ihren sympathischen Kommissar Ariel Spiro in einem Fall ermitteln, in dem er oft einen Schritt zu spät zu kommen scheint.

Der dritte (und bisher beste) Roman mit dem Titel „Der blonde Hund“ knüpft nahtlos an den Vorgänger an, in dem Spiro Boxunterricht genommen hatte, um den nationalsozialistischen Schlägertrupps etwas entgegensetzen zu können, und in dem die Ausbreitung des Antisemitismus beschrieben wird.

Die Spirale beginnt nun, sich schneller zu drehen. Die Nazis treten selbstbewusster auf, versammeln Geldgeber um sich und vertreiben ihre hirnlosen Schläger in die zweite Reihe. Wer ihnen dort vor die Füße fällt, dem gnade Gott.

Der Judenhass bricht sich Bahn, und auch Ariel Spiro bekommt nun häufiger antisemitische Vorurteile um die Ohren gepfeffert. Er trägt zwar einen jüdischen Namen, ist aber kein Jude. Im ersten Roman „Der weiße Affe“ hatte Spiro noch immerzu betont, seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel sei ein Luftgeist. Mittlerweile hat Spiro die Erklärungen aufgegeben. Sein Umfeld weiß Bescheid, und den Nazis ist in ihrer erbitterten Ideologie ohnehin nicht zu helfen.

„Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn“

Spiros Ermittlungen führen ihn zunächst in die Villa des bekanntesten Berliner Pianofabrikanten Eduard Bachmann („Ihre Klimperkästen sind der Stolz der Stadt“). Er und seine Frau Helena hatten sich mit dem Verleger-Ehepaar Feldstein aus München im Hotel Adlon zum Dinner getroffen. Zugegen war auch ein weiterer Herr aus München, den die Kellner als „fleischlos“ bezeichnen, als Vegetarier. Helena Bachmann beschreibt ihn hingegen so: „Oh, das ist ein überaus interessanter Mann, ein aufstrebendes, politisches Talent mit großem Potenzial. Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn.“ Der Name des Mannes wird an keiner Stelle des Romans benannt; aber es dürfte sich bei ihm um Adolf Hitler gehandelt haben.

Zurück zum Mordfall: Spiros Spur bringt ihn schließlich nach München, wo der sogenannte „Blonde Hund“ abgetaucht sein soll, ein junger Mann, der im Verdacht steht, eine Verbindung zum Mordopfer gehabt zu haben. Spiro schleicht sich unter falschem Namen im deutsch-nationalen Salon der Feldsteins ein und ermittelt im Kreis der höchsten Gesellschaftsschichten Münchens. Er begegnet dem Vater von Heinrich Himmler, wird auf der Reise zum nächsten Fixpunkt seiner Ermittlungen von einem Trupp Nazis aufgemischt, und recherchiert bei den Artamanen, wo der „Blonde Hund“ untergekommen sein soll. Die Artamanen wollten im Osten des Deutschen Reiches möglichst autark von bäuerlicher Tätigkeit leben („Fast jeden Tag ein Ei, das ist schon was“), auch um polnische Saisonarbeiter aus dem Land zu drängen. Sie verfochten eine völkische, agrarromantische Blut-und-Boden-Ideologie, 1934 gingen sie in der Hitlerjugend auf. Heute gibt es sie übrigens wieder, die völkischen Siedler: Neo-Artamanen nennen sie sich.1)

Äußerst penibel recherchiert

In Ehmers brillantem Kriminalroman ist wie immer viel drin, und dennoch wirkt er an keiner Stelle überfrachtet. Die Autorin recherchiert für ihre Romane stets äußerst penibel und schafft mit ihrem Fachwissen die prächtige Bühne für ihre Figuren. Natürlich schwingt auch immer viel Lokalkolorit mit: Die Männer trinken sich abends ihre Molle, die Damen gießen sich das Likörchen aus der Mampe-Flasche ein, und dann geht’s hinein ins pulsierende Berlin mit seinen Clubs und Bars, mit Tanz und Eleganz, mit Jazz und Klaviermusik. Dazu die Reichen und Schönen, die Arbeiter und Elenden, die Verbrecher und die ganze politische Dramaturgie der scheinbar Goldenen Zwanziger.

Während Spiro durch Deutschland fährt, bleibt seine eigenwillige Geliebte Nike Fromm in Berlin. Neugierig nimmt sie an Séancen teil, geht zu einem Wahrsager und versucht auf eigene Faust, das Rätsel um einen schwer verletzten jungen Mann zu lösen, der offenbar von einem brutalen Nazi-Offzier bei ausartenden SM-Spielen misshandelt wurde. Um Näheres herauszufinden, besucht sie eine Pension, in der Menschen mit dieser besonderen sexuellen Neigung im wahrsten Sinne des Wortes verkehren und in der niemand Fragen stellt.

Ja, es ist viel drin zwischen den beiden Buchdeckeln, und Kerstin Ehmer gelingt es auch in ihrem dritten Roman, gekonnt und mit viel Feingefühl die Spannung zu halten. Es ist ein geschickter Schachzug der Autorin, ihren Kommissar durchs Land reisen zu lassen, in einer Zeit, an der Deutschland langsam an den Scheitelpunkt gerät. Hervorragend stellt sie dar, wie die nationalsozialistische Ideologie auf der einen Seite bei immer mehr Menschen verfängt, während sie auf der anderen Seite abgetan oder gar unterschätzt wird. Der Oberkommissar der Politischen Polizei etwa verkennt die Lage völlig und sagt zu Spiro: „Meine Abteilung ermittelt überwiegend am linken Rand des politischen Spektrums, wo ich persönlich die größere Gefahr für unsere Republik sehe. Die Nationalsozialisten sind so gut wie tot.“

Nur eine ist hellsichtig und klug

Der Abgrund nähert sich, und selbst Spiro sieht es nicht. Für ihn sind die Bachmanns und Feldsteins alle „Traumtänzer, die mit Scheuklappen die Gegenwart ausblenden“. Nur eine in diesem Roman ist hellsichtig und klug: Nike Fromm. Sie sagt zu Spiro: „Etwas geschieht. Aber es ist viel größer als dein Fall. Es geschieht gleichzeitig an verschiedenen Orten. Der Aberglaube ist zurück. Unwissen und Dummheit sind wiederauferstanden und der Hass auf die Juden. Wir gehen nicht mehr vorwärts. Wir gehen zurück.“

Weniger als ein Jahr ist Spiro jetzt in Berlin. Er hat ein Mädchen gefunden, liebe Freunde und eine neue Heimat. Man hofft so sehr, dass die wandelnden Zeiten ihm das Glück nicht zerstören, aber wir gedanklich Zeitreisenden wissen es vermutlich besser: Das wird arg und ärger. Ja, fürwahr, der Abgrund nähert sich. Spiro, was wirst du tun?

Kerstin Ehmer: Der blonde Hund, Pendragon-Verlag, Bielefeld, 2022, 460 Seiten, broschiert, 22 Euro, ISBN 978-3865327635, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

1) Der „Deutschlandfunk Kultur“ hat 2017 in der Sendung „Zeitfragen“ über die neuen völkischen Siedler im ländlichen Raum berichtet. Der Beitrag ist hier nachzulesen.

Stolz und Vorurteil

Als sich der Angeklagte zum letzten Wort erhebt, steht auch die Frau auf. Sie zieht die Waffe und schießt. Acht Schuss, acht Treffer. „Hoffentlich ist er tot“, sagt sie noch und lässt sich widerstandslos festnehmen. „Die Wahrheit der Dinge“, der neue Justiz-Roman von Markus Thiele (Debüt: „Echo des Schweigens“), beginnt ungewohnt dramatisch.

Wie schon beim Vorgänger liegen ihm wahre Rechtsfälle zugrunde: Zum einen der von Marianne Bachmeier, einer Mutter, die 1981 im Gerichtssaal den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter erschoss. Zum anderen das Schicksal des Schwarzen Amadeu Antonio Kiowa, der 1990 in Eberswalde eines der ersten tödlich verletzten Opfer rassistisch motivierter Gewalt in Deutschland wurde. „Die Wahrheit der Dinge“ ist ein bedrückender, anspruchsvoller Roman von unbedingter Aktualität, den man nicht so schnell vergisst.

Hat er Fehler gemacht?

Seit Corinna Maier in seinem Gerichtssaal die Pistole aus der Handtasche zog und den Angeklagten erschoss, rutscht der Strafrichter am Landgericht Hamburg, Frank Petersen, in eine tiefe Sinnkrise. Hätte er die Tat verhindern können? Hat er Fehler gemacht? Seine Frau wirft ihm vor, er habe den Respekt verloren. Allem gegenüber. Seine Chefin widerspricht: „Das hat die Frau nicht dazu veranlasst, den Abzug zu drücken. Sie hat geschossen, weil sie mit keinem anderen Urteil außer dem Tod des Angeklagten einverstanden gewesen wäre. Sie hat sich selbst zum Richter erhoben, weil sie Ihren Spruch nie akzeptiert hätte.“

Ein Akt der Selbstjustiz also. Dass vor Gericht nur Recht gesprochen wird, nicht aber Gerechtigkeit hergestellt wird, fassen Juristen gerne mit dem Satz zusammen, man bekomme nur ein Urteil, keine Gerechtigkeit.

Im echten Fall von Marianne Bachmeier zeigten Menschen damals Verständnis für ihre Tat. Im Roman will Frank Petersen die Frau verstehen, ihre Motive, ihre Gedanken. Als er hört, dass sie ihre Haftstrafe abgesessen hat und demnächst in die Freiheit entlassen wird, fasst er den Entschluss, sie zu treffen. Er beschließt, ihr und sich selbst die Fragen zu stellen, vor denen er bisher die Augen verschlossen hat.

„Sag dem Affenmann, dass er mich nicht anpacken soll“

Eine zweite Zeitebene erzählt von dem Schwarzen Steve Otremba, der 1989 an der Uni Hamburg als Gastdoktor die Bekanntschaft einer jungen Studentin macht. Die beiden verlieben sich, wollen bald heiraten. Doch von Anfang an wird diese Beziehung gesellschaftlich geächtet. Im Linienbus will Steve einem gestürzten Betrunkenen aufhelfen, reicht ihm dazu die Hand. Der aber lallt nur: „Ey, Blondie, sag dem Affenmann, dass er mich nicht anpacken soll.“ Keiner der anderen Fahrgäste reagiert, der Busfahrer fährt beharrlich weiter. Steve nimmt’s mit Humor, klettert auf einen Sitz, mimt den Affen. Der Bus hält an. Der Fahrer wirft Steve aus dem Bus. Die Fahrgäste bleiben stumm.

Es ist auch das Jahr 1989, als in der Bäckerei neben Mandelhörnchen und Himbeertorte auch Blechkuchen verkauft wird mit Vanillepudding und schwarz-brauner Schokoglasur. Das nennt sich dann Nigeria-Platte.

Der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland beunruhigen Steve scheinbar nicht. 1990 zieht der Mediziner für sein praktisches Jahr nach Eberswalde (Brandenburg). Wenig später ist er tot. Neonazistische Skinheads haben ihn und zwei weitere Schwarze auf der Straße angegriffen. Steve ist so schwer verletzt, dass er ins Koma fällt, aus dem er nicht wieder erwacht.

Thiele glänzt einmal mehr mit seiner Art zu schreiben

Der selbst als Rechtsanwalt praktizierende Autor Markus Thiele führt beide Fälle raffiniert und glaubwürdig zusammen, und doch steht jeder Handlungsstrang für sich selbst. Wie schon in seinem Debütroman glänzt Thiele einmal mehr mit seiner Art zu schreiben. Seine feinfühligen Personenbeschreibungen und seine Beobachtungsgabe für die poetischen, kleinen Momente des Lebens zeugen von seinem Können.

Thiele beweist, dass Juristen nicht nur staubtrockene Gesetzestext-Wälzer oder unverbindliche „Kommt drauf an“-Schwadronierer sein müssen, sondern gute Romanciers sein können. Im Gegensatz zu seinem Erstling „Echo des Schweigens“ über den Strafverteidiger Hannes Jansen hat er sich diesmal thematisch zurückgenommen und nicht versucht, möglichst viele Sujets zwischen zwei Buchdeckel zu pressen.

Leider ist die Figur des zweifelnden Richters im Grenzgebiet von Recht und Schuld nicht eine so ans Herz wachsende Rolle wie die des verschuldeten und schwer verliebten Hannes Jansen, der zwischen Gesetz und Moral steht. Das mag aber auch an der Persönlichkeitsstruktur des Richters liegen, den Thiele analytisch als authentisch leidenschaftlichen, aber eigenwilligen Juristen zeichnet. Wo Hannes Jansen noch gefallen will, hat Frank Petersen das nicht mehr nötig.

Markus Thiele weiß, was er tut. Ihm ist mit „Die Wahrheit der Dinge“ einmal mehr ein kluger Roman gelungen, spannend und anrührend geschrieben, mit einer klaren Meinung, aber ohne belehrend zu sein. Nachdenklich stimmend und sehr empfehlenswert!

Markus Thiele: Die Wahrheit der Dinge, Benevento Verlag, Wals bei Salzburg, 2021, 240 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 22 Euro, ISBN 978-3710900938, Leseprobe

Seitengang dankt dem Benevento-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Helle Sprache, dunkle Zeit

Schon mal von Kronsnest gehört? Sie meinen, das klinge wie der Phantasiename einer von Kindern gebauten Baumhütte hoch droben in den Wipfeln? Nein, Kronsnest ist ein Ortsteil von Neuendorf bei Elmshorn. Schleswig-Holstein also. Dort zwischen den holsteinischen Elbmarschen, wo heute noch die kleinste Fähre Deutschlands über die Krückau gesteuert wird, spielt der sprachlich hervorragende Debütroman von Florian Knöppler, der in diesem Frühjahr im Pendragon-Verlag erschienen ist.

Wir befinden uns in den 1920er Jahren. Der 15-jährige Hannes ist ein zartbesaiteter, bücherliebender Junge; von seinen Mitschülern gehänselt, vom eigenen Vater ständig gemaßregelt. Irgendwann soll er den elterlichen Bauernhof übernehmen, wenn der Vater nicht mehr kann. Das ist hier so: Die Söhne übernehmen die elterlichen Höfe, Fisimatenten wie ein Umzug nach Hamburg oder Berlin sind schöne Träume, aber die Realität ist eine andere. Das war schon immer so auf dem Land. Die Berufswahl ist vorherbestimmt. Doch der Vater – ein wortkarger Mann, der oft wie ein Besessener arbeitet – hält Hannes für einen Schwächling. Zu verweichlicht, nicht annähernd fähig, einen Hof zu führen. Wie soll der jemals ein Auskommen als Bauer haben? Regelmäßig setzt es Prügel. Die Mutter schaut weg, versorgt still die Wunden, die man sehen kann.

Hannes hat nicht viel. Einen besten Freund: Thies, vom Nachbarhof. Einen Hund: Böltje. Einen Lehrer, der ihn mit Büchern versorgt: Herr Govinski, dem eine Granate im Ersten Weltkrieg ein Bein zerfetzt hat. Und dann ist da noch Mara, ungünstigerweise die Tochter des Großbauern Harm von Heesen. Im Dorf und unter dem Kleinbauern rümpft man die Nase über diese Familie. Doch Hannes ist derbe verliebt in Mara, die ihrerseits Blumen so liebt wie er und mit der er so zauberhafte, unbeschwerte Momente erlebt, die ihm das Herz ganz leicht und gleichzeitig so schwer machen.

Die 20er Jahre schleichen sich aufs Land – politisch und wirtschaftlich

Denn die 20er Jahre schleichen sich auch politisch und wirtschaftlich aufs Land. Hier, wo seit Jahren alles seinen vorbestimmten Gang geht, alles in ruhigen Bahnen verläuft, alles immer derselbe Trott ist. Hier, wo Hannes erwachsen wird, bricht nun plötzlich etwas ein, zunächst unterschwellig, doch bald ist es offenbar: Der Nationalsozialismus keimt auf. Thies schließt sich den Nationalsozialisten an, ein anderer Freund den Kommunisten. Hannes bleibt dem allen fern.

Doch das Augenverschließen ist keine Lösung mehr. Der Nationalsozialismus kommt. „Ja, die Kerle wissen, was sie tun, und haben Erfolg damit. Die Hälfte der Leute findet es gut, die andere kriegt es mit der Angst“, sagt Harm von Heesen, nachdem sein Hof von Nazis angegriffen wurde. Heute weiß man: Der große Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung bei der Landbevölkerung von Schleswig-Holstein war eine der wesentlichen Grundlagen für den immensen Anstieg der NSDAP-Stimmen in den Jahren 1930 bis 1932. 1 Dabei galt gerade Schleswig-Holstein seit 1870 als liberales Bauernland.

Die Stimmung kippt, das einst stille Marschland wird von den politischen Entwicklungen überschattet, und Hannes betrifft das alles plötzlich ganz persönlich. Auf dem elterlichen Hof lösen sich Probleme mit einem Mal von selbst, der Hof der von Heesens dagegen treibt in den wirtschaftlichen Ruin. Und Maja? Ach, Maja!

Sprachlich eine Perle

„Kronsnest“ liest sich über weite Strecken als ruhiger Roman, unaufgeregt, gemächlich, sanft, wie ein Nebenfluss, so wie die Krückau einer ist. Er erzählt sich mühelos dahin, hat es den Anschein. Das gelingt gerade deshalb so hervorragend, weil es sprachlich eine Perle ist, was und wie Florian Knöppler schreibt. Seinen Protagonisten Hannes beschreibt er derart liebevoll und mit einer so intensiven Wärme, als wolle er ihn damit vor allen Unwägbarkeiten beschützen, die einem Heranwachsenden in dieser Zeit eiskalt um die Ohren fliegen können. Und das Dorf Kronsnest ist ein wundersames Kleinod, das man unbedingt einmal selbst erleben möchte. Knöppler wohnt mit seiner Familie dort in der Nähe. Im Blog des Pendragon-Verlags schreibt er: „Durch solch direkte Bezüge fällt es mir leichter, eine Wirklichkeit entstehen zu lassen, die konkret ist, nicht nebulös, die es mit der Realität aufnehmen kann und zugleich eine Bedeutung hat, mit einem Gefühl verbunden ist.“

Knöpplers Roman ist ein faszinierender Erstling, bildhaft, stark, eindringlich. Vor allem auch: umfangreich recherchiert. Sechs Jahre hat er daran gearbeitet. „Kronsnest“ zeigt am zeithistorischen Beispiel, wie sich politische Veränderungen einschleichen, politische Tendenzen entwickeln und politische Meinungen nicht nur aufgrund wirtschaftlicher Notlagen ändern. Und wie gefährlich das ist. Die Auswirkungen davon lesen wir in der Fortsetzung, an der Knöppler bereits arbeitet. Die spielt zwölf Jahre später, 1941. Hannes lebt noch. Und was ist mit Maja? Ach, Maja!

Florian Knöppler: Kronsnest, Pendragon-Verlag, Bielefeld, 2021, 448 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 24 Euro, ISBN 978-3865327468, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

1. Lesetipp für den geschichtlichen Hintergrund: Der Soziologe Rudolf Heberle hat als Privatdozent in Kiel in den Jahren 1932/33 den Versuch unternommen, die Gründe des politischen Umschwungs in Schleswig-Holstein durch eine wahlsoziologische Untersuchung festzustellen. Nach der Machtübernahme der Nazis konnte die Schrift nicht mehr veröffentlicht werden. Sie ist aber 1963 in der Deutschen Verlags-Anstalt mit einem Vorwort von Heberle veröffentlicht worden und derzeit als pdf-Datei kostenlos verfügbar, etwa hier direkt bei De Gruyter oder bei den Schweitzer Fach- und Unibuchhandlungen.

Nazis klatschen

Als der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger (CDU) im Dezember 1966 deutscher Bundeskanzler wird, schreibt der Philosoph Karl Jaspers: „Dass aber ein ehemaliger Nationalsozialist nun die Bundesrepublik regiert, bedeutet: nunmehr gilt es als gleichgültig, einst Nationalsozialist gewesen zu sein.“ In Paris fragt eine Frau ihren Mann: „Serge, was können wir tun?“ Weniger als zwei Jahre später wird diese Frau Kurt Kiesinger auf einem CDU-Parteitag eine schallende Ohrfeige verpassen und ihn als „Nazi“ bezeichnen. Die Frau heißt Beate Klarsfeld, und die Ohrfeige ist der offizielle Auftakt für ihren Kampf gegen alte und neue Nazis, gegen Antisemitismus und für Israel. Die Franzosen Pascal Bresson und Sylvain Dorange haben über die Geschichte von Beate und Serge Klarsfeld einen aufschlussreichen, historischen Comic geschaffen, der endlich auch auf Deutsch vorliegt.

Das deutsch-französische Paar hat sein Leben dem Kampf gegen das Vergessen gewidmet. In der Graphic Novel sagt Serge Klarsfeld bei einem Interview: „Wir haben unsere Pflicht getan. Wir haben mit unseren militanten und aufmüpfigen Aktionen ein Beispiel für bürgerliches Engagement gegeben.“ Es gibt Filme, Bücher und natürlich allerlei Dokumentationen über sie. Ja, das Theater Osnabrück hat einen Teil ihres Lebens sogar als Oper auf die Bühne gebracht. „Beate & Serge Klarsfeld: Die Nazijäger“ ist jedoch die erste Graphic Novel über das politisch aktive Paar. Drehbuchautor Pascal Bresson und Illustrator Sylvain Dorange ist es dabei in weiten Teilen gelungen, die Ereignisse so genau wie möglich, aber auch für junge Leser*innen möglichst aufschlussreich zu erzählen. Vorlage dafür waren die Memoiren der Porträtierten.

Im Mai 1960 begegnen sich Beate und Serge das erste Mal. Beate ist Au-pair-Mädchen in Paris, Serge steht am Ende seines Politikstudiums. Als er ihr von seiner Familie erzählt, ist sie erschüttert – das Dritte Reich wurde bei ihr zu Hause totgeschwiegen. „Man machte weiter, und unter dem Schleier des Vergessens gab man ein reines Gewissen vor.“ Serge ist Jude. Seine Familie wurde in der Nazi-Zeit verfolgt, sein Vater starb im Vernichtungslager Auschwitz.

Ihre Methoden wandeln sich

Beate und Serge heiraten und nehmen sich vor, fortan die Ruhe der Alt-Nazis zu stören und sie aus ihren politischen Ämtern zu heben; ehemalige hochrangige NSDAP-Mitglieder zu entlarven, die weltweit untergetaucht sind; und jeglichen Mantel des Schweigens herunterzureißen. Ihre Methoden wandeln sich. Erst sind es Briefe an Behörden und einflussreiche Persönlichkeiten oder Artikel und Stellungnahmen in französischen Zeitungen. Dann suchen die Klarsfelds direkte Wege in die Öffentlichkeit und bringen unter anderem Flugblätter unter die Leute.

Zuletzt schrecken die beiden auch nicht mehr vor Entführungen zurück: 1971 wollen sie zum Beispiel den ehemaligen Gestapo-Chef Kurt Lischka kidnappen. In Bolivien entlarven sie das Versteck des Kriegsverbrechers Klaus Barbie, der wegen seiner Grausamkeit den Beinamen „Schlächter von Lyon“ trug. Barbie war für die Folterung und Ermordung von Mitgliedern der Résistance – unter ihnen Jean Moulin – in Südfrankreich verantwortlich. Darüber hinaus wurden ihm zahlreiche andere Verbrechen zur Last gelegt, darunter Massaker, Razzien sowie die Deportation von 44 jüdischen Waisenkindern („Kinder von Izieu“). Die Jagd nach Klaus Barbie hat 12 Jahre gedauert. Am Ende erreichen Beate und Serge, dass ihm in Lyon der Prozess gemacht wird. Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird er 1987 zu lebenslanger Haft verurteilt.

„Kino auf Papier“

Bresson und Dorange porträtieren die Klarsfelds detailliert, feinsinnig und mit Respekt. Für den Autor waren die Klarsfelds „moderne Helden“, er verfolgte ihre Spuren schon, seit er 15 Jahre alt war. Zur Entstehungsgeschichte dieser Graphic Novel erzählt Bresson dem Carlsen-Verlag, wie Beate und Serge ihm zunächst misstrauisch begegnet seien, obgleich Serge bereits Bressons Buch über die französische Holocaust-Überlebende Simone Veil kannte (bislang nicht ins Deutsche übersetzt). Dann aber habe man sich sechs Monate lang jede Woche getroffen, Serge habe sogar sein Archiv geöffnet und Bresson unveröffentlichte Fotos aus Konzentrationslagern gezeigt. Drei Jahre arbeiteten Bresson und der Illustrator Sylvain Dorange an dem Buch, bis es das war, was es nach Worten von Bresson werden sollte: „Kino auf Papier.“

Ja, es ist tatsächlich Kino auf Papier. Eine Biographie, die wie ein Thriller angelegt ist, die Zeitsprünge macht, die verlässlich und immer akribisch genau informiert, die aber auch sehr emotional ist. Insbesondere die in sepia-grau gezeichneten Rückblenden auf die Familiengeschichte der Klarsfelds gehen an die Nieren. Bedrückend sind die Momente, in denen deutlich wird, dass die alte Nazi-Riege nicht tatenlos zuschaut, wie die Klarsfelds sie hartnäckig bekämpfen. Eine Auto-Bombe bedroht das Leben der beiden, Steine zertrümmern Fensterscheiben und Droh-Anrufe rütteln am Nervenkostüm der Aktivisten.

Beate und Serge Klarsfeld überleben all das und leben auch heute noch. Ihre Geschichte kann jetzt von nachfolgenden Generationen gelesen werden, die zum Teil selbst schon die Erfahrung machen, dass Protest, Demonstrationen und das Auflehnen gegen die Tatenlosigkeit der Eltern-Generation Dinge voranbringt, ganz nach Gudrun Pausewang: Etwas lässt sich doch bewirken. Dem Engagement von Beate und Serge Klarsfeld setzt diese Graphic Novel ein modernes Denkmal, das nicht nur Sehenswürdigkeit ist, sondern unerlässlich im Kampf gegen das Vergessen, den Beate und Serge begonnen haben. Auf dass er niemals ende.

Pascal Bresson / Sylvain Dorange: Beate & Serge Klarsfeld – Die Nazijäger, Carlsen-Verlag, Hamburg, 2021, 208 Seiten, gebunden, 28 Euro, empfohlen ab 14 Jahren, ISBN 978-3551793478

Anmerkung: Empfehlenswert ist dazu der Dokumentarfilm „Die Nazijäger – Beate & Serge Klarsfeld“ aus der Reihe „Geschichte treffen“ des Senders ZDFinfo, derzeit nur abrufbar über YouTube.

Gewaltige Fabulierkunst

Mississippi JamWie Phönix aus der Asche steigt seit einiger Zeit der US-Autor James Lee Burke auf dem deutschen Buchmarkt auf und wird hier – endlich! – gefeiert. Nach weniger erfolgreichen Versuchen der Verlage Ullstein und Goldmann in den 90er Jahren, ihn den deutschen Lesern schmackhaft zu machen, gelingt das nun dem Heyne-Verlag, vor allem aber dem Bielefelder Kleinverlag Pendragon. Letzterer hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle 20 Bände der Dave-Robicheaux-Reihe zum Teil erstmals auf Deutsch herauszubringen. Eine wahre Wucht von nervenaufreibendem Hardboiled-Krimi ist der 588-Seiten-Wälzer „Mississippi Jam“.

Das Buch ist unbedingt zu empfehlen – das weiß man besser, bevor man etwas über den Plot erfährt. Es klingt einfach geradezu hanebüchen: 1942 soll vor dem Mississippi-Delta ein U-Boot der Nazis gesunken sein, an Bord ein sagenumwobener Nazi-Schatz. Einige zwielichtige Schatzsucher wollen das Wrack rund 50 Jahre später bergen, und niemand Geringeres als ausgerechnet Dave Robichaeux weiß, wo das Ding liegt. Robicheaux ist Detective und Bootsverleiher mit Anglerladen in New Orleans, hat mittlerweile einiges auf dem Kerbholz, Vietnam-Erfahrungen und Alkohol-Narben, aber immerhin eine tolle Frau, seine dritte.

Ja, er ist ein ziemlich harter Hund, und dennoch erschüttert es ihn, als ihm nicht nur die städtischen Gangster auf den Pelz rücken, sondern auch noch der skrupellose Neo-Nazi Will Buchalter deutlich macht, dass auch er ein intensives Interesse an dem U-Boot hat. Man könnte jetzt sagen: komm, das ist eine schöne Südstaaten-Posse. Aber „Mississippi Jam“ geht empfindlich darüber hinaus. Denn was der Nazi-Psychopath da so abliefert, gehört zu den krassesten gewaltlosen Wunden, die man so schlagen kann. Und damit nicht genug. James Lee Burke ist ein famoser Fabulierer! Wie er die rivalisierenden Milieus der Stadt zeichnet und den florierenden Drogenhandel, den Rassismus und Judenhass, und wie liebevoll und gleichzeitig erbarmungslos er Menschen beschreibt, das ist literarisch auf hohem Niveau. Sie werden außerdem selten so intensive und mitreißende Schilderungen der Louisiana-Landschaft und ihrer Wetterumschwünge gelesen haben wie in „Mississippi Jam“.

Schneise der Verwüstung im Garten Eden

Und dann sind manche Passagen auch perfekte Vorlagen für das eigene Kopfkino. Allein die Szene, wie Robicheauxs bester Freund Clete Purcel ins Führerhaus einer Planierraupe steigt und damit eine Schneise der Verwüstung durch den Garten Eden und die Villa eines Mafiosos zieht, ist wahrlich eine Pracht und muss eigentlich auch auf die große Leinwand. Burke kommentiert lapidar: „Die Römer in Karthago konnten ihre Sache kaum besser und gründlicher gemacht haben.“ Viele andere Szenen könnten auch einer Tarantino-Idee entstammen, das heißt, man muss als Leser schon gewalttätige und blutige Auseinandersetzungen in Krimis mögen, um das Buch nicht zur Seite zu legen.

Burke hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Robicheaux nach seinem Vorbild geschaffen hat. Wie sein Krimi-Held hat auch der 79-jährige Burke eine Alkoholvergangenheit und wie sein Alter Ego wohnt er in der Stadt New Iberia nordwestlich von New Orleans. Sein Held ist nur nicht so mit renommierten Preisen überhäuft, darunter als einer von wenigen Autoren gleich zwei Mal mit dem Edgar-Allan-Poe-Award und mit dem Hammett Prize.

Seit 1987 hat Burke insgesamt 20 Bände für die Robicheaux-Reihe geschrieben. Der Bielefelder Pendragon-Verlag hat indes angekündigt, sie in den nächsten Jahren nach und nach auf Deutsch zu veröffentlichen, allerdings nicht chronologisch. „Mississippi Jam“, im amerikanischen Original 1994 als „Dixie City Jam“ veröffentlicht, ist der siebte Band. Zuvor ist mit „Sturm über New Orleans“ („The Tin Roof Blowdown“, 2007) schon Band 16 erschienen. Ganz neu hat Pendragon im Juli Band 1 („Neonregen“) der Reihe in einer überarbeiteten Übersetzung herausgegeben. Die unsortierte Veröffentlichung ist im Übrigen nicht hinderlich für den Lesegenuss, denn Robicheauxs persönliche Historie wird in jedem Roman ausreichend erklärt.

Dem Verlag aus Bielefeld ist jetzt Durchhaltevermögen zu wünschen, auf dass irgendwann tatsächlich alle 20 Bände über den hartgesottenen Sheriff auf Deutsch und in ansprechender Übersetzung vorliegen. Das wäre eine Pracht für alle Hardboiled-Fans, und für die Burke-Fans ohnehin. Dieser Mann ist einfach ein Könner seines Genres, und es wird Zeit, dass die deutschen Leser das endlich erkennen. Vielleicht braucht es einfach einen neuen alten Kult-Krimihelden. Voilà, dürfen wir vorstellen? Dave Robicheaux.

James Lee Burke: Mississippi Jam, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2016, 588 Seiten, broschiert, 17,99 Euro, ISBN 978-3865325273, Leseprobe

Diese Rezension ist in gekürzter Fassung auch im Wochenendmagazin der Neuen Westfälischen (Samstag/Sonntag, 3./4. September 2016) erschienen.

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