Der Beginn eines baldigen Gotham-Klassikers

Passend zum internationalen Batman-Tag am 16. September tauchte in diesem Jahr die ausgesprochen aufregende erste Ausgabe von Rafael Grampás Comic „Batman: Der Gargoyle von Gotham“ aus den Schatten auf. Der mit dem renommierten Eisner-Award ausgezeichnete brasilianische Comic-Künstler bebilderte zuvor bereits die Episode „Batman: Das goldene Kind“ für den Comic-Star Frank Miller („Sin City“). Jetzt hat Grampá eine neue, eigenständige Geschichte über Batmans Anfangszeit geschrieben und gezeichnet. Sie könnte ein neuer Klassiker der Batman-Comics werden. Wer bisher keinen Zugang zu dem dunklen Ritter hatte – hier wäre der richtige Einstieg ins Batmobil.

Grampás Gotham ist wesentlich düsterer und hoffnungsloser als in anderen Darstellungen. Auf den ersten Seiten sehen wir, wie die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderklafft. In den Straßen häufen sich Müllsäcke zwischen den imposanten Bauten, Obdachlose drängen sich in den Hauseingängen, während Passanten nur Augen für ihre Smartphones haben. Gewalt, Korruption und Ausbeutung haben Einzug gehalten, und es gibt nur einen, der die Entwicklung noch aufzuhalten vermag: Batman. Der hatte sich bekanntlich am Grab seiner Eltern geschworen, das Böse zu bekämpfen.

Töte Bruce Wayne – sei Batman

Aber so recht will es nicht gelingen, denn im Hauptjob ist er ja auch noch Bruce Wayne, der Milliardär. Nachdem Batman bei einer Begegnung mit einem unheimlichen Bösewicht beinahe durch eine Explosion in einem TNT-Labor gestorben wäre, offenbart er seinem engsten Vertrauten, dem Butler Alfred Pennyworth, dass er den öffentlichen Tod von Bruce Wayne plant. Ausradieren müsse er sich, um sich ganz seiner Mission zu widmen. „Die Lage wird immer schlimmer, und Gotham muss permanent geschützt werden“, sagt er selbstbewusst.

Unterdessen treibt ein beunruhigender Serienmörder in Gotham sein Unwesen, und die Polizei ist noch völlig ahnungslos. Sie registriert nur immer mehr Todesfälle, bei denen die Opfer seltsam übereinstimmende Stichverletzungen haben und immer nackt zurückgelassen werden. Dann findet der Polizist Jim Gordon eine Verbindung zu Bruce Wayne, und alles dreht sich in eine völlig unerwartete Richtung.

Charakterzeichnung ist brillant

Mit „Der Gargoyle von Gotham“ erleben wir die Stadt nicht nur ungewöhnlich dunkel und abgehalftert, sondern auch Batman zeigt sich in neuen charakterlichen Facetten. Grampás Schachzug, Bruce Wayne abzunabeln und sich vollständig auf Batman zu konzentrieren, ist außerordentlich gelungen. Seine Charakterzeichnung ist brillant. Der junge Batman ist bei Grampá grimmig und zuweilen auch brutal, aber immer auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten, auch als er seine eigene Identität in Frage stellt.

Als kontrastierender Gegenpol glänzt der neue furchterregende Schurke Crytoon. Er ist ein übler Mörder mit glatter, schwarzer Haut, einem schwarzen Anzug und psychotisch laufenden Tränen. Seine Tränen, erklärt er an einer Stelle, sind die Vorboten der Tränen seiner Opfer. Grampá zeigt ihn als mordendes Wesen, dem seine Taten bewusst sind und die er zuvor bedauert, sie jedoch nicht aufhalten kann. Wie Batman hadert auch Crytoon mit seiner Identität.

In einem Interview, das thepopverse.com mit Rafael Grampá geführt hat, erzählt der Comic-Künstler, dass ihn eine Erinnerung an die eigene Kindheit zu Crytoon inspiriert habe. Grampás Großmutter liebte die klassische italienische Theaterkunst der Commedia dell’arte und bewahrte deshalb eine ganz in weiß gekleidete Porzellanfigur des ikonisch weinenden Clowns Pierrot auf.

Grampá: „Ich hatte Angst vor diesem Bild.“

„Als ich ein Kind war, hatte ich große Angst davor“, erzählt Grampá in dem Interview: „Diese Figur, dieses weiße Gesicht, das schwarze Tränen weint; wenn sie das Licht ausschaltete, sah ich das vor mir und hatte Angst vor diesem Bild.“ Aus diesen Kindheitserinnerungen entwickelte Grampá seine eigene Version des Pierrot. Um ihn dann auch noch von den anderen Clown-Schurken im Batman-Universum abzugrenzen, brachte ihn seine Frau auf die Idee, den ursprünglichen Pierrot in ein Foto-Negativ umzukehren. Crytoon ist geboren!

Und schließlich ist da noch der Polizist Jim Gordon, den Grampá als religiösen Mann darstellt. In seiner trostlosen Wohnung hängt ein Jesusbild an der Wand, in seinem Büro im Revier ein ans Holzkreuz genagelter Jesus. Auf einem Schubladenelement steht eine Madonnafigur. Nur auf dem Telefontischchen zu Hause sehen wir ein Foto von Gordons Frau. Daneben liegt die Dienstwaffe. Die Pflicht ruft, und es ist dieselbe, die auch Batman verspürt.

Auch zeichnerisch ist „Der Gargoyle von Gotham“ auf hohem Niveau. Das Comic-Layout besteht zum großen Teil aus senkrechten und waagerechten Linien zwischen den Panels. Nur wenn es richtig zur Sache geht, rutschen die Linien aus der Symmetrie. Man könnte meinen, der Comic sei zu kontrolliert und wenig wagemutig, wenn er seine Geschichte so stark formgebunden präsentiert. Doch das Gegenteil ist der Fall: Nicht die Form gibt dem Comic seine Geschwindigkeit und seinen Drive, sondern die stimmungsvollen Inhalte der einzelnen Panels, die geradezu filmisch anmuten.

Wer versteht die Hinweise?

Grampá zieht aber noch eine zweite Ebene ein: Für besonders aufmerksame Leser*innen hat er in seinen Panels dezente Hinweise und Botschaften versteckt, etwa eine Hommage an David Fincher und Frank Miller. Wer von uns kratzt beim Lesen nur an der Oberfläche und wer versteht die Anzeichen?

Grampás „Gargoyle von Gotham“ soll nach vier großformatigen Bänden abgeschlossen sein. Der zweite Band erscheint in Deutschland am 20. Februar 2024, die Erscheinungstermine für die beiden letzten Bände sind noch nicht bekannt.

Schon der Auftaktband bringt uns wahren Nervenkitzel, viel Action, aber auch wohldurchdachte leise Szenen; und während wir Batman dabei zusehen, wie er die dunkelsten Ränder seines eigenen Herzens abschreitet, werden wir Zeugen von der wahnsinnigen Kunstfertigkeit des Rafael Grampá. Im Interview mit Popverse erklärt er: „Diese Geschichte ist mein Versuch, Batman zu sezieren, weil ich diesen Charakter liebe und ihn auf den heißen Stuhl setzen wollte.“ Davon wollen wir unbedingt noch mehr! Breite deinen Mantel aus, Batman, und leg los!

Rafael Grampá: Batman – der Gargoyle von Gotham, Panini-Verlag, Stuttgart, 2023, 60 Seiten, gebunden, Euro, ISBN 978-3741635335, Leseprobe;

Rafael Grampá: Batman – der Gargoyle von Gotham (Variant-Cover), Panini-Verlag, Stuttgart, 2023, 60 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3741635335, limitiert auf 333 Exemplare.

Eden im Jenseits

„Lass uns jeden Tag das Leben endlos spüren / Und uns niemals unsre Ehrlichkeit verlieren“, heißt es in dem deutschen Schlager „Jenseits von Eden“ von Nino de Angelo. In dem neuen Kriminalroman „Das Ende von Eden“ des US-amerikanischen Autors Stephen Amidon ist Eden kein (biblischer) Ort, sondern eine junge Frau von 20 Jahren, und trotzdem passt das Schlager-Zitat. Irgendwer hat Eden zwischen Abend und Morgen in der idyllischen Bostoner Vorstadt Emerson ins Jenseits befördert. Dorothy Gates, Detective bei der State Police, sagt es Edens Mutter, wie es ist: „Man kann das einfach nicht schonend sagen. Eden ist tot.“ Was danach in dem Örtchen geschieht, ist perfekte Serienvorlage, ist Zeugnis für menschliche Abgründe, für Klassenunterschiede und die Macht des Geldes. Und es ist gut geschrieben.

Der 1959 geborene Stephen Amidon ist in Deutschland leider ein völlig unbekannter Autor. Abgesehen von „Das Ende von Eden“ (im Original: „Locust Lane“), das in diesem Jahr erschienen ist, haben es nur „The New City“ im Jahr 2000 als „Traumstadt“ sowie „Human Capital“ 2006 als „Der Sündenfall“ in eine deutsche Übersetzung geschafft (2019 mit Liev Schreiber verfilmt). In den USA dagegen ist Amidon durchaus ein Name. Wendy Smith schrieb im Januar in der Washington Post über ihn: „Stephen Amidon hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Reihe von ebenso fesselnd lesbaren wie scharfkantigen Romanen über so unbequeme Fakten des amerikanischen Lebens wie Rasse, Klasse und Geld geschrieben.“ Auch in „Das Ende von Eden“ bleibt er dieser Linie treu. Opfer dieser Geschichte ist am Ende nicht nur das Mord-Opfer.

Eden, die in voller Pracht Eden Angela Perry heißt, liegt – offenbar erschlagen – im Haus der Bondurants. Dort war Eden seit drei Monaten als eine Art Haushälterin und Hundesitterin angestellt, dabei sind Eden und ihre Mutter Danielle mit der wohlhabenden Familie über mehrere Ecken verwandt. Danielle und Eden hatten eine Auszeit vereinbart, so wie auch Partnerschaften manchmal eine Auszeit brauchen, damit sich alle Beteiligten besinnen können. Eden, die hin und wieder dummes Zeug macht, weil das einfacher ist, die aber keiner Fliege was zuleide tun kann. Eden, die Menschen allzu leichtherzig vertraut. Eden, die ihre Mutter zum Wahnsinn getrieben hat, die von ihrer Mutter jedoch im selben Atemzug als Engel beschrieben wird. „Es ist schwer zu erklären. Dafür muss man sie kennen“, sagt Danielle. Was nun schwierig geworden ist.

Aber glaubt man ihm?

Ihren letzten Abend hat Eden mit drei Leuten von ihrer Schule verbracht: Christopher Mahoun, der schwer in sie verknallt war, sowie Jack Parrish und Hannah Holt, die beide ein Paar sind. Die Polizei hat schnell einen Verdächtigen ausgemacht, der es gewesen sein kann. Gewesen sein muss. Christopher Mahoun, Sohn eines libanesischen Einwanderers und bekannten Gastronoms in der Stadt, war von ihnen allen der letzte, der Eden lebend gesehen hat. Er beteuert jedoch, dass er sie nicht angefasst, dass sie noch gelebt hat, als er sie in der Nacht verließ. Und er kann auch die Kratzer an seinem Hals erklären. Aber glaubt man ihm?

Alle drei Jugendlichen fallen zu Hause auf. Noch in der Nacht oder am nächsten Morgen. Sie alle haben etwas zu verbergen. Auch die mitunter schwerreichen Eltern. Da ist Lug und Betrug, da sind Alkohol und Drogen im Spiel, falsche Freundschaften brechen auf und moralische Grenzen verschwimmen. Manch einer rächt sich, andere halten aus vermeintlich hehren Motiven schützend ihre teuren Hände über die Köpfe ihres Nachwuchses.

Für die Polizei passt es bei Christopher Mahoun einfach am besten. Für die Kommentatoren in den Sozialen Medien ohnehin: ein Dunkelhäutiger, der ein weißes Mädchen aus der privilegierten Schicht killt, weil sie ihn abblitzen lässt? Da ist der Schuldige also schnell gefunden, und die Hexenjagd beginnt mit all ihren hässlichen Fratzen.

Kluger Wechsel der Erzählstimmen

Stephen Amidon schreibt seinen Kriminalroman aus der Sicht von fünf Erwachsenen: Hannahs Stiefmutter, Jacks Mutter, Christophers Vater, Edens Mutter und aus der Sicht eines eigentlich unbeteiligten Dritten, der in der besagten Nacht etwas gesehen hat, sich aber aufgrund eines Alkoholproblems nicht traut, zur Polizei zu gehen. Geschickt rationiert Amidon die Häppchen, die er uns vorlegt und mit denen wir der Lösung immer wieder nahe zu kommen glauben. Nur um uns gleich danach wieder auf eine völlig neue Fährte zu bringen. Klug lässt der Autor seine fünf Erzählstimmen die Blickwinkel wechseln – und wir wissen nie sicher, welcher davon wie zu trauen ist.

Die Figurenzeichnung ist in ihrer Tiefe fast ausschließlich gut gelungen, vor allem die der Frauen. Oberflächlich gesehen bedient sich Amidon zwar gängiger Klischees von Klassenunterschieden. So ist Danielle, die Mutter der getöteten Eden, mit ihren Tattoos („Ich bin die illustrierte Ausgabe“) und den schwarz gefärbten Haaren der Arbeiterklasse zuzurechnen, während die anderen Frauen aus der oberen Mittelschicht edel wohnen, nicht arbeiten müssen und sich mit Geld ein paar Probleme vom Leib schaffen können. Amidon darauf zu relativieren, wäre aber falsch. Denn der Autor versteht es, die Innensicht seiner Figuren psychologisch nachvollziehbar darzustellen. Nur Michel, der Vater des Hauptverdächtigen, sowie die beiden Detectives bleiben ungewöhnlich blass. Im Hinblick auf seine wichtige Rolle im Innenverhältnis zu seinem Sohn ist das vor allem bei Michel unverständlich.

Sorgfältig ausstaffiert

Amidon schreibt gut, und Alice Jakubeit hat seinen Text in ein flüssiges Deutsch übertragen, das auch den Sarkasmus transportiert, mit dem Amidon seine Figuren manchmal sprechen oder denken lässt. Der Autor gibt seiner Geschichte viel Zeit, sich zu entwickeln. „Das Ende von Eden“ ist also kein atemloser Pageturner, der mit Cliffhangern arbeitet, sondern eine gesellschaftskritische Kriminalgeschichte, die nach und nach sorgfältig ausstaffiert wird.

Die Auflösung kommt schließlich unerwartet, heftig und erschütternd und öffnet uns in diesem Roman einmal mehr die Augen, wie Gerechtigkeit zurechtgebogen wird, wenn Menschen mit Geld ihre Macht und ihren Einfluss ausnutzen. Das Ende ist kein versöhnliches. Mit seiner Bitterkeit wird es nicht allen schmecken. Aber es hinterlässt uns nicht ohne Hoffnung, trotz der noch offenen Fragen.

Hoffen wir außerdem, dass der Droemer-Verlag mit „Das Ende von Eden“ genug Aufmerksamkeit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erzeugen kann, damit auch die anderen Romane von Stephen Amidon eine deutsche (Neu-)Übersetzung erfahren. Ansonsten bleibt uns nichts anderes übrig, als die Bücher im Original zu lesen. Entdecken Sie Stephen Amidon!

Stephen Amidon: Das Ende von Eden, Droemer-Verlag, München, 2023, 381 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3426283929, Leseprobe

Der vergessene Schöpfer des unvergesslichen Central Parks

Hand aufs Herz: Kennen Sie den US-Amerikaner Andrew Haswell Green? Die meisten Menschen dürften das verneinen, obgleich sie im selben Atemzug eine Frage nach der Bekanntheit des Central Parks von New York City bejahen würden. Ohne Andrew Haswell Green gäbe es heutzutage jedoch keinen Central Park, keine New York Public Library, kein Metropolitan Museum of Art. Zum Anfang des 20. Jahrhunderts erhielt Green gar den Beinamen „Vater von Greater New York“, weil er entscheidend daran mitgewirkt hat, dass sich Manhattan und Brooklyn, Queens und Staten Island zu einer einzigen Stadt vereinen.

Und heutzutage? Ist der Mann nahezu vergessen. Dank eines einfühlsamen Romans des britischen Autors Jonathan Lee dürfte sich das in Teilen ändern oder bereits geändert haben. Im vergangenen Frühjahr erschien im Diogenes-Verlag sein Buch „Der große Fehler“. Es erzählt die bewegende Lebensgeschichte von Andrew Haswell Green – aber auch die mysteriösen Hintergründe seines abrupten und tragischen Ablebens. Denn Green wurde plötzlich und unerwartet auf der Treppe vor seinem Haus mit fünf Pistolenkugeln niedergestreckt. Wer sollte diesem Mann von 83 Jahren nach dem Leben trachten?

Der bei London aufgewachsene Jonathan Lee ist bereits 2012 nach New York City gezogen und spaziert gern durch den Central Park. Eines Tages entdeckt er eine marmorne Bank, die schon etwas verwittert ist. Tauben haben ihre Geschäfte darauf erledigt, und einmal pro Woche kommt jemand, um den Dreck zu entfernen. In die Rückenlehne ist eine Inschrift eingraviert: „Zu Ehren von Andrew Haswell Green / Dem Schöpfergeist des frühen Central Park / Vater von Greater New York“. Der Name sagt Jonathan Lee, dem Autor von drei Romanen, dem New Yorker Verlagsmitarbeiter und Drehbuchschreiber, überhaupt nichts. Null. Er beginnt zu recherchieren und weiß bald: Das wird mein nächster Roman.

Erzählerisch äußerst gelungen

Der ist vor allem erzählerisch äußerst gelungen und sprachlich glänzend geschrieben. Es ist weniger ein Kriminalroman als ein biographischer Zugang in das New York zur Jahrhundertwende. Natürlich behandelt Lee auch die Ermittlungen des wunderbaren Inspectors McClusky, der in der Not steht, sich beweisen zu müssen, nachdem er zuvor durch ein Ungeschick seinen Ruf in der Polizeitruppe ruiniert hat. Dieser Erzählstrang nimmt jedoch nicht so viel Zeit ein, wie der Klappentext des Buches das vermuten ließe.

Auf einer zweiten Zeitebene erzählt Lee detailreich vom Aufwachsen, Leben und Handeln des einst berühmten Mannes. Greens Eltern haben elf Kinder, er selbst ist das siebte in der Reihe. Ein zurückhaltender, schmächtiger Junge, der Ordnung liebt und gerne zeichnet, dem aber nicht erlaubt wird, die Schule zu besuchen. Denn seine Arbeitskraft ist auf dem Bauernhof der Familie in Massachusetts wesentlich mehr von Nöten. Als Green 12 Jahre alt ist, stirbt seine geliebte Mutter. Ein Schock für ihn. Als man ihn dabei erwischt, wie er seinen besten (und einzigen) Jugendfreund küssen will, schickt ihn der Vater in die Lehre bei einem befreundeten Gemischtwarenhändler in New York.

Dort blüht Andrew Haswell Green auf, und er soll es noch mehr tun, als eines Tages der junge Anwalt Samuel Tilden in den Laden schneit. Der nimmt sich seiner an, macht ihn zu seinem Assistenten, zeigt ihm die Welt der Bücher („Ich glaube, dass man ohne eine Vorliebe für das Lesen niemals ein eleganter Mann werden kann“) und wird später stadtbekannte Projekte mit ihm umsetzen. Allen voran den Central Park, einen öffentlichen Park, der für alle Menschen frei zugänglich sein soll – ungewöhnlich für die Zeit, war man doch sonst bestrebt, Eintritt zu verlangen, um die Landstreicher und Kriminellen aus den Parks zu halten. Außerdem sollten Manhattan und Brooklyn zusammengeführt werden. Eine Idee, die manchen Zeitgenossen sehr zuwider war, die Green aber mit großer Verve verfolgte.

Bangen um ihr Ansehen und Wirken

Es ist mehr als eine innige Freundschaft, die die beiden Männer verbindet. Doch sie sind zu keiner Zeit bereit, ihre Liebe zueinander öffentlich zu machen, weil es sie bangt, dass nicht bloß ihr Ansehen, sondern vor allem ihr Wirken und ihre Vorhaben für die Gesellschaft dadurch Schaden nehmen können. Jonathan Lee beschreibt diesen inneren Kampf der unmöglichen Liebe, des Wollens, aber nicht Könnens, behutsam und mit viel Wissen um die Nuancen dieser Entscheidung.

Jonathan Lee hat seinen Roman in 33 Kapitel unterteilt, die als Überschrift jeweils die Namen der Parkeingänge zum Central Park tragen und schon erste Hinweise auf den Kapitelinhalt erlauben. Lee hat damit auch in der äußeren Form einen Rückgriff auf Greens Werk geschaffen, alle Wege durch die Tore seines Romans führen in den Central Park. Ist das der „große Fehler“, der dem Buch seinen Titel gibt, der Central Park? Jemand sagte mal, er halte den Park mitten in der Stadt für eine „schwache, sentimentale Idee“. Oder war es ein Fehler, dass Green am Morgen des 13. Novembers 1903, der ein Freitag war, sich keinen Talisman gegen das Unheil und das Böse an den Körper gelegt hat? Oder hat der Mann, der ihn erschoss, möglicherweise den falschen umgelegt?

Selbstverständlich gibt es eine Lösung, wie es auch ein Motiv für den Mord gibt. Beides klärt Jonathan Lee in seinem Roman auf, und doch sind beide Auflösungen zweitrangig, denn in erster Linie gelingt es Jonathan Lee auf literarisch hohem Niveau einen Mann wieder ins Licht zu holen, der zu lange Zeit vergessen war. Jede Frau und jeder Mann sollte dieses Buch gelesen haben, bevor ein jeder auch nur einen Fuß durch eines der Tore im Central Park gesetzt hat. Alles andere wäre ein Fehler.

Jonathan Lee: Der große Fehler, Diogenes-Verlag, Zürich, 2022, 367 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3257071917, Leseprobe, Hörprobe

Bis es zu Ende ist

Vor zehn Jahren erschütterte der grässliche Mord an einer jungen Studentin die altehrwürdigen Mauern des fiktiven Pelham-Colleges in Oxford. Ausgerechnet ihre Mitbewohnerin und Freundin Hannah fand damals die Leiche und hatte zuvor den Mörder wegrennen sehen. Ihre Aussage brachte den Mann ins Gefängnis, wo er nun durch einen Herzinfarkt gestorben ist. Geschichte zu Ende?

Nein, denn genau jetzt will ein Journalist Hinweise darauf haben, dass der vermeintliche Mörder unschuldig im Gefängnis saß. Er meldet sich bei der labilen und schwangeren Hannah, die seit Jahren versucht, dem Thema aus dem Weg zu gehen und mit der Vergangenheit abzuschließen. Nichts ist zu Ende, bis es zu Ende ist. Das zeigt die britische Bestseller-Autorin Ruth Ware in ihrem neuen Thriller mit dem sinnigen deutschen Titel „Das College“.

Als Hannah Jones das erste Mal ihr College in Oxford betritt, ist sie überwältigt, dass ihr diese Ehre zuteil wird, hier lernen und studieren zu dürfen. Sie bestaunt den grünen Rasen, den niemand betreten darf, die hohen Hallen des Wissens, in denen schon einige berühmt gewordene Menschen wandelten, und die mittelalterlichen Studentenunterkünfte.

So schön, dass … autsch!

Die bodenständige Hannah hat das Glück, in einer dieser Suiten aus der alten Zeit zu wohnen. Nicht allein, sondern mit der unnatürlich schönen und reichen April Clarke-Cliveden, die ihren Kühlschrank gern mit Champagner gefüllt sieht und nicht wegen ihrer guten Noten in Oxford ist, sondern weil ihr Vater dem College finanziell zugewandt ist. Die zu dieser Zeit reichlich naive Hannah beschreibt April so: „Sie besaß jene Art von Schönheit, die andere in den Bann zog und zugleich wehtat.“ Ähnliche Beschreibungen von naiven Charakteren über reiche, schöne Menschen haben wir auch in Erfolgsromanen wie „Shades of Grey“ lesen dürfen. April kann man getrost als doppelgesichtig bezeichnen, denn sie spielt unter dem Deckmäntelchen ihrer Freundschaft und optischen Perfektion ihrer eigenen Clique gleichzeitig manchmal ganz schön übel mit.

Hannah hat dennoch eine gute Zeit in Oxford, wenn man mal davon absieht, dass sie sich in Will de Chastaigne verliebt, der leider Aprils Freund ist. Zwischen Will und Hannah herrscht stets eine besondere Anziehungskraft, die sich Hannah bald auf Rücksicht auf April verbietet. Hannah studiert, genießt das Partyleben, macht aber auch unangenehme Erfahrungen mit dem übergriffigen Pförtner John Neville, der ihr nachzustellen scheint.

Und eines Abends, ja, sieht sie plötzlich, wie Neville die Treppe von ihrer Wohnung hinunterkommt. Nur Minuten später entdeckt sie die tote April, hingestreckt vor dem Kamin. Es besteht kein Zweifel: Nur der unheimliche Neville kommt als Täter in Frage, und es ist letztendlich Hannahs Zeugenaussage, die den jungen Pförtner hinter Gitter bringt.

Erzählung in „Vorher“- und „Nachher“-Kapiteln

Ruth Ware erzählt den Roman in sich abwechselnden „Vorher“- und „Nachher“-Kapiteln. Die „Vorher“-Kapitel berichten von der Vorgeschichte bis zum Mord, soweit sich Hannah erinnert, in den „Nachher“-Kapitel recherchiert Hannah, ausgehend von der Todesnachricht des Verurteilten, ob Neville wirklich der Täter war oder ob sie damals einem Trugschluss aufgesessen ist. Was ist in dieser Nacht wirklich geschehen?

Leider braucht es rund 150 Seiten, bis der Roman ansatzweise in Gang kommt, und auch dann ist es nur gemächliche Thriller-Kost. Das ist verwunderlich, ist Ware doch sonst eine Pageturner-Expertin. Dem Sujet fehlt es auch an einer nachvollziehbaren Motivation, warum Hannah sich nun nach zehn Jahren diesem Thema stellt, nachdem sie es bisher so vehement verdrängt hat.

Mails von Journalisten, die sie regelmäßig zu erreichen versuchen, verschiebt sie bis dato ungelesen in einen Ordner, und sie hat weitere Mechanismen gefunden, wie sie den Mord zehn Jahre von ihrem Leben fernhält, obwohl sie inzwischen mit dem damaligen Freund des Opfers verheiratet ist (ja, ja!) und ein Kind bekommt. Die bedrohliche Notwendigkeit für die Recherche wird überhaupt nicht klar.

Wenig überraschend sind dagegen manche Wendungen in diesem Thriller – die Auflösung jedoch ist zwar nicht so vorhersehbar, wie zwischendurch befürchtet, aber auch nicht der Oberknaller. Was man Ware lassen muss: Sprachlich und vom Setting her kann ihr Thriller gut unterhalten. Mehr aber leider nicht.

Ruth Ware: Das College, dtv-Verlag, München, 2023, 463 Seiten, broschiert, 16,95 Euro, ISBN 978-3423262279, Leseprobe

Der frühe Volo fängt den Wurm

Einmal Boulevard machen. Das wünschen sich wohl manche Chefredakteur*innen, während sie abends mit den Blattmachern an den sachlich-korrekten Aufmacherüberschriften der nächsten Ausgabe tüfteln. Wäre es nicht viel einfacher, wenn man in großen Lettern reißerisch die nächste Halbwahrheit verkünden könnte? Wie es in den Newsrooms großer Boulevardblätter zugeht, weiß man nicht zuletzt durch Dokumentationen wie die umstrittene Amazon-Serie „BILD.Macht.Deutschland?“ oder den Dokumentarfilm „Kronen-Zeitung: Tag für Tag ein Boulevardstück“ der Belgierin Nathalie Borgers.

Einen ganz anderen Einblick gewährt dagegen Moritz Hürtgen in seinem exzellenten Debütroman „Der Boulevard des Schreckens“. Wer nicht ganz so tief in der Medienlandschaft steckt, weiß vielleicht nicht, dass Hürtgen über jeden Verdacht erhaben ist, den Boulevard-Journalismus zu propagieren. Der 1989 geborene Hürtgen war seit 2019 Chefredakteur der Satirezeitschrift „Titanic“, gab seinen Posten aber im Herbst 2022 auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Nun wird nicht aus jedem Journalisten ein hervorragender Romancier, und nicht jeder Chefredakteur ist qua Funktion eine Edelfeder.

Davon ist wohl auch bei Oliver Michels auszugehen, in Hürtgens Roman Chefredakteur einer überregionalen Berliner Tageszeitung. Michels kokst offen im hell erleuchteten Newsroom und ist ein ausgemachter Choleriker. In der großen Konferenz, an der sonst nur die Chefredaktion, Ressortleiter*innen und deren Stellvertreter*innen teilnehmen dürfen, ist an einem schicksalhaften Morgen auch der Volontär Martin Kreutzer anwesend.

Ein Anfall von Größenwahn und Karrieregeilheit

Ende zwanzig und damit vermutlich schon mit ein wenig Lebenserfahrung ausgestattet, kommt er in einem Anfall von Größenwahn und Karrieregeilheit auf die Idee, ein Interview mit dem Performance-Künstler Lukas Moretti anzubieten, der der Zeitung bisher alle Interview-Anfragen ausgeschlagen hat. Aber er, Kreutzer, kenne Moretti noch persönlich aus Studienzeiten, rühmt er sich. Seminare gemeinsam besucht, guter Draht und so. Problem: Ist alles geflunkert. Kein Problem: Er bekommt den Auftrag.

Für Kreutzer geht’s nach München, wo Moretti ein zweitägiges Festival veranstaltet. Doch der DJ der guten Lyrik, der erlauchte Crossover-Künstler, will von dem Schreiberling aus der Hauptstadt nichts wissen, lässt ihn eiskalt und aus Gründen abblitzen. Der aber hat in seiner Boulevard-Akademie offenbar schon was gelernt und sagt sich: Gut gefälscht ist halb gewonnen. Und erfindet kurzerhand ein komplettes Interview. Die ganze Nacht feilt er daran. Schreibt Antworten um (die Fragen gehen ihm leicht von der Hand, aber die Antworten!). Und dann, um 7.15 Uhr sendet er den Text an die Redaktion. Da ist Moretti allerdings schon tot.

Fliegt nun der ganze Schwindel auf? Ist der wahre, echte Journalismus nicht so, dass die Schurken in den Redaktionsstuben irgendwann entlarvt werden? Bei Claas Relotius hat das doch auch funktioniert. Das allerdings war „Der Spiegel“, und nicht so ein Revolverblatt wie hier. Deshalb dreht Hürtgen die Schraube noch eine Drehung weiter. Nun muss Kreutzer nach Kirching, einen Münchner Vorort mit S-Bahn-Anschluss. Dort soll er die Todesumstände Morettis recherchieren. Und dann: große Reportage. Langstrecke! Exklusiv und so. Sein Interview mit Moretti? Hat die Redaktion in Berlin längst umgeschrieben.

„Der ganze Journalismus ist im Eimer“

„Der Boulevard des Schreckens“ ist surreal und herrlich drüber. Denn Hürtgen weiß, was er tut und wie man Satire gekonnt spitz formuliert. Doch wie Hunde nicht nur spielen wollen, will Hürtgen nicht nur übertreiben. Journalist*innen müssen beim Lesen viel leiden, denn ihre Berufssparte kommt nicht gut weg. „Der ganze Journalismus ist im Eimer!“, lässt der Autor den Boulevard-Fotografen Frank Nietner wissend sagen (ohnehin eine der besten Figuren in diesem Schauspiel), „man müsste alle rauskegeln und vorn vorne anfangen.“ Die Frage wäre nur, mit wem noch?

Auch der Münchner Speckgürtel bekommt sein Fett weg. Hürtgen hat in einem Niet dieses Gürtels seine Kindheit verbracht, hat dem Menschenschlag dort vermutlich jahrelang penibel auf den Mund geschaut und kann nun authentisch die Kulisse für diesen wahnwitzigen, mediensatirischen Mysterythriller beschreiben. Da wird unnatürlich in Serie gestorben, da brennen Forellen, und ein islamophober Anführer einer Bürgerwehr patrouilliert in Zehenschuhen durchs Dorf. Und schließlich fährt bei der dörflichen Sonnwendfeier noch ein Feuerwehrauto in bester King’scher „Trucks“-Manier in die Menschenmenge. Das sind Sternstunden des Boulevard-Journalismus‘. Oder dem Volontär ist es am Ende doch zu schwer, und er verliert den Verstand. Wer weiß das schon in diesen Zeiten?

Nicht nur der Volo zeigt ein Manko

Das Garstige an diesen jungen Volontär*innen ist allerdings, dass einige von ihnen die deutsche Sprache und ihre Merksätze nicht mehr beherrschen. „Wer ‚brauchen‘ ohne ‚zu‘ gebraucht, braucht ‚brauchen‘ gar nicht zu gebrauchen“, zum Beispiel. In Hürtgens Roman ist es leider nicht nur der Volo, der dieses Manko zeigt. Auch der Autor selbst ist nicht in der Lage, das Wortfeld „sagen“ angemessen korrekt anzuwenden. Blame it on the author? Vielleicht.

Aber zu einem guten Text gehört auch immer eine gute Redigatur. Dabei sollten solche Sprachschnitzer auffallen. Leser*innen von Tageszeitungen könnten jetzt Leser*innen-Briefe schreiben und gar mit Abo-Kündigung drohen, wenn die Fehler nicht abgestellt werden. Als Roman-Leser*innen können wir nur mit Nichtlesen des nächsten Buches drohen. Das aber schreckt keinen Verlag, keinen Autor. Erst recht keinen wie Hürtgen. Und dann war dieses Debüt auch noch unverschämt gut. Deshalb folgender Vorschlag: Dem Hürtgen ist ein befristeter Vertrag in einer untertariflich bezahlten Tochtergesellschaft des Verlags anzubieten. Damit er weiter gute Romane schreibt.

Moritz Hürtgen: Der Boulevard des Schreckens, Verlag Antje Kunstmann, München, 2022, 301 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3956145094, Leseprobe