Buch Wien: Freundschaft, Eulen und die Liebe unter Aliens

Filip Florian (l.) im Gespräch mit seinem Übersetzer Georg Aescht - Foto: Christian Lund
Filip Florian (l.) im Gespräch mit seinem Übersetzer Georg Aescht – Foto: Christian Lund
Das Programm der „Buch Wien“ ist in diesem Jahr erstaunlich dürftig und schlecht auf die einzelnen Messetage verteilt. Äußerst wundersam etwa ist, dass sich ein Großteil der interessanten Autoren und vor allem der Publikumslieblinge am Sonntag auf der Buchmesse tummeln: Bernhard Aichner, Marjana Gaponenko, Thomas Raab, Peter Henisch, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Dirk Stermann und nicht zuletzt Ela Angerer. Dementsprechend kann ich heute nur von zwei herausragenden Lesungen berichten:

Zunächst stellte der rumänische Schriftsteller Filip Florian vor erschütternd leeren Stuhlreihen seinen neuen Roman „Alle Eulen“ vor. Es ist sein dritter Roman und der zweite, der auf Deutsch erschienen ist (zuvor: „Kleine Finger“, Suhrkamp, 2008). Florian, 1968 in Bukarest geboren, gilt mittlerweile als einer der besten rumänischen Schriftsteller der heutigen Zeit. Sein Übersetzer und gleichzeitig Moderator der Lesung, Georg Aescht, geht sogar so weit, ihn einen „besessenen Schriftsteller“ zu nennen. Mit „Alle Eulen“ habe Florian einen Roman einer großen Freundschaft verfasst, erklärte Aescht.

In dem Buch trifft Luca, ein Lausbub aus der Kleinstadt, auf Emil, der nach einem bewegten Leben in Bukarest unverhofft in der Provinz landet. Emil öffnet Lucas Blick und Geist für Literatur und Musik, Luca schenkt ihm dafür seine Neugierde und liefert immer zuverlässig den letzten Dorfklatsch. Emil wiederum hat die Gabe, mit Eulen sprechen zu können, und Luca wünscht sich fortan nichts sehnlicher, als das auch zu können. Es ist also ein nicht nur ein Roman über ungleiche Freunde, sondern auch über die Liebe zur Natur.

Rückbesinnung auf die Poesie

Dass diese Liebe zur Natur aber gleichzeitig auch zur Liebe von Poesie und Literatur führen kann, wie es Aescht im Gespräch vorschlug, verneinte Florian. Für ihn ist das unabhängig voneinander. Wohl aber könne die Rückbesinnung auf die Poesie verdeutlichen, dass es etwas Tieferes gibt, als das, was uns täglich umgibt.

Nachdem Florian eine Passage auf Rumänisch vorgetragen und Aescht dieselbe Stelle auf Deutsch gelesen hatte, erklärte letzterer: „Beim Lesen seiner Sätze muss ich oft innerlich schmunzeln, manchmal kommen mir auch die Tränen.“ Darauf Florian: „Das sind die Augentropfen.“ Aescht wiederum: „Nein, das ist der Humor, der so still ist, dass man innerlich angerührt ist.“ Ob Florian den Humor absichtlich in den Roman bastelt.

Es sei seine Art zu schreiben, erklärt der. „So schreibe ich nun mal, und jeder Leser nimmt den Text anders wahr, oft auch anders als der Autor.“ Und wenn er an seinem Schreibtisch sitzt und schreibt, dann schreibt er „ganz“, wie er das bezeichnet. Nichts interessiert ihn dann, nur das Schreiben. „Und vielleicht die Ergebnisse des FC Liverpool, da bin ich etwas verrückt.“ Ansonsten aber sei er ganz in seiner Welt verhaftet, „deren Hauch mich beseelt und mich aus der Welt des Scheins hinausträgt“.

„Zauberhaft melancholisches Buch“

Die Presse feiert Florians neuen Roman bereits frenetisch: „‚Alle Eulen‘, von Georg Aescht in so flüssiges wie sinnliches Deutsch gebracht, ist ein zauberhaft melancholisches Buch über die Abendstunde der Erinnerung (…)“, schreibt etwa Jan Koneffke in der Neuen Zürcher Zeitung. Und Paul Jandl urteilt in der Welt: „‚Alle Eulen‘, mit dem Filip Florian sich endgültig als fixe Größe in der nicht gerade stimmenarmen rumänischen Literatur etabliert, ist kein dickes, aber ein gewaltiges Buch, ein böses Märchen mit nicht ganz so bösem Ausgang.“

Filip Florian: Alle Eulen, Matthes & Seitz, Berlin, 2016, 213 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN: 978-3957572219

Am Abend dann las Terézia Mora in der Alten Schmiede in Wien aus ihrem aktuellen Erzählband „Die Liebe unter Aliens“. Am Vorabend noch hatte sie die Eröffnungsrede der „Buch Wien“ gehalten, jetzt waren die zahlreichen Zuschauer neugierig auf ihre Kurzprosa. Nach „Seltsame Materie“, 1999 bei Rowohlt erschienen, ist das jetzt ihr zweiter Band mit Erzählungen.

Darin wendet sie sich Menschen zu, die sich verlieren, aber nicht aufgeben, die verloren sind, aber weiter hoffen. Ein Ausflug ans Meer soll ein junges Paar zusammenführen. Ein Nachtportier fühlt sich heimlich zu seiner Halbschwester hingezogen. Ein japanischer Professor verliebt sich in eine Göttin. Die Liebe geht hier reichlich seltsame Wege, und sprachlich ist das alles eine Wucht! Zehn Erzählungen versammelt dieser Band, und sie berichten auch von der Fremdheit sich selbst und anderen gegenüber, erklärt Moderatorin Angelika Reitzer: „Immer wieder wechseln die Perspektiven, erleben wir Blicke von innen und außen – das Stilmittel, für das sie bekannt und berühmt ist.“ Diese starke erzählerische Liebe bringe „das Blasse zum Leuchten“.

Mora erzählte sodann, sie habe im Februar zum ersten Mal in Wien aus ihrem damals noch nicht erschienenen Erzählband vorgelesen und habe sich zu der Veranstaltung einen Musiker aussuchen dürfen, der sie begleitet. „Ich habe dann gesagt, ich hätte gerne Félix Lajkó (ungarisch-serbischer Musiker), weil ich dachte: den kriegen die nie! Haben sie aber. Ich habe die Titelstory ‚Die Liebe unter Aliens‘ gelesen, und es fühlte sich wirklich an wie zwei Aliens nebeneinander – er verstand kein Deutsch und hat aber trotzdem gespielt, als wären wir eine Einheit.“

Geschichte des jüdischen Malers Felix Nussbaum

Um dieses Erlebnis nicht zu wiederholen, entschied sich Mora an diesem Abend für die Erzählung mit dem Titel „Selbstbildnis mit Geschirrtuch“, die ursprünglich als Auftragsarbeit entstanden war. Sie erzählt die Geschichte des jüdischen Malers Felix Nussbaum und dessen Frau Felka Platek, allerdings übertragen in die heutige Zeit.

Mora ist Figurensammlerin, erklärt sie. Sie habe eine Liste mit 22 Figuren gehabt, aus denen sie die zehn besten für das Buch ausgewählt habe. Für die Figur des Marathonmanns in einer ihrer Erzählungen habe sie etwa drei Vorbilder gehabt, das älteste stamme aus ihrer eigenen Kindheit: „Ich war 15, als ein Mann mir und anderen Fahrgästen erzählte, er sei den Marathon in Wien gelaufen, und das Schönste für ihn sei gewesen, dass es an der Strecke Südfrüchte gegeben habe. Alle anderen haben ihn belächelt, für mich war er ein Held.“ Die anderen beiden Marathonfiguren seien ein Nachbar – und ihr ehemaliger Lektor. „Ich gebe den Figuren eine Geschichte, damit sie ein Zuhause haben.“

Im Vorfeld ihres Erzählbandes habe sie natürlich auch viele Erzählungen anderer Autoren gelesen, so etwa von Alice Munro oder Hilary Mantel, aber sie habe nicht viel Herausragendes entdeckt: „Gott sei Dank, das wäre doof gewesen, wenn ich was gefunden hätte, bei dem ich gesagt hätte: besser kann man das nicht machen!“

Abschluss der Trilogie um Darius Kopp

Als nächstes plant Mora, ihre Trilogie über den IT-Spezialisten Darius Kopp abzuschließen, die sie mit „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009) und „Das Ungeheuer“ (2013) begonnen hat. „Nein, es folgt jetzt nicht noch ein Erzählband, sondern ein Roman – das musste ich meinem Verlag auch versprechen.“

Terézia Mora: Die Liebe unter Aliens, Luchterhand, München, 2016, 272 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN: 978-3630873190, Leseprobe

Der mörderische Leser

FinderlohnIn der Literaturgeschichte finden sich mehrere Beispiele von Schriftstellern, die nur wenige Werke geschrieben haben und dann für ewige Zeiten verstummt sind: Jerome David Salinger, Margaret Mitchell, Emily Brontë oder auch Ralph Ellison. Glücklicherweise war bisher keinem von ihnen das Schicksal beschert, das John Rothstein ereilt hat. Denn der fiktive Autor von nur drei Romanen wird in Stephen Kings neuem Thriller „Finderlohn“ von einem glühenden Fan überfallen und ermordet. King hat damit nicht nur den erzählerisch mitreißenden zweiten Band seiner Trilogie um den alternden Ex-Detective Bill Hodges geschrieben, sondern auch eine lesenswerte Abhandlung über das Spannungsverhältnis zwischen Leser und Autor verfasst.

In King-Kennern wird der Roman schnell Erinnerungen an „Misery“ (in der deutschen Übersetzung hieß der Roman schlicht „Sie“) wachrufen. Darin ließ King eine geistesgestörte Leserin ihren Lieblingsautor gefangenhalten und zum Schreiben zwingen. Ihr gefiel nämlich gar nicht, dass ihre Lieblingsfigur sterben sollte. Ähnlich verhält es sich auch in Kings aktuellem Roman: Morris Bellamy vergöttert John Rothstein, der in den Sechzigerjahren eine berühmte Trilogie geschrieben hat. Im letzten Band geht der Held dieser drei Bücher, Jimmy Gold, in die Werbebranche – für Bellamy ein unfassbares Ende. Seine Identifikationsfigur endet im bürgerlichen Leben. Das hätte nicht geschrieben werden dürfen. Rothstein muss sterben, findet Bellamy. „‚Sie haben eine der größten Gestalten der amerikanischen Literatur erschaffen und dann einfach darauf geschissen‘, sagte Morrie. ‚Ein Mensch, der so etwas tut, verdient es nicht, weiterzuleben.“

Morris Bellamy bringt den Autor, den das Time-Magazin mal „Amerikas scheues Genie“ genannt hat, um und räumt dessen Tresor aus. Darin: Bargeld und Dutzende von Notizbüchern mit zwei weiteren Romanen über Jimmy Gold – für den großen Fan ein unglaublicher Schatz. Doch das Schicksal will es, dass er die Beute zunächst in einem Koffer versteckt vergraben muss, weil er für 30 Jahre wegen einer gänzlich anderen Sache in den Knast wandert. In der Zwischenzeit findet der jugendliche Peter Saubers – ebenfalls Verehrer von John Rothstein – den Koffer. Als Bellamy kurz darauf frei kommt, beginnt die wahrlich nervenaufreibende Hatz.

Kings eigene Leidenschaft für Literatur

Doch die wirkliche Stärke dieses Romans ist die erzählerische Kraft, die er entwickelt, ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Viel mehr als der Vorgänger „Mr. Mercedes“ ist „Finderlohn“ auch ein Stoff für’s Kino. Das liegt schon daran, dass King seinen beiden Hauptcharakteren genügend Raum gibt, sich zu entwickeln. Und das ist wirklich fabelhaft erzählt. Privatermittler Bill Hodges tritt erst sehr viel später auf den Plan. Bis dahin macht King keinen Hehl aus seiner eigenen Leidenschaft für Literatur: Immer wieder entwickeln sich Literaturgespräche zwischen handelnden Personen, Lesebekenntnisse werden ausgestoßen, die Welt der Bücher gelobpreist.

Das Verhältnis zwischen Leser und Autor ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Kings Werk. Das beste Beispiel ist der bereits eingangs erwähnte Roman „Misery“. Aber auch in seinem Interview mit dem Musikmagazin Rolling Stone (Ausgabe 245 / März 2015) erklärt King, dass er selbst den Ehrgeiz habe, Leuten zu gefallen. „Aber irgendwann kommt auch der Punkt, wo man sich sagt: Ich werde mich nicht prostituieren und genau das schreiben, was man von mir erwartet.“ Insbesondere als er „Mr. Mercedes“ geschrieben habe, was schließlich nichts anderes als ein klassischer Krimi gewesen sei, habe er sich gefragt: „Willst du das machen, wozu dir dein Herz rät – oder das, was Leute von dir erwarten? (…) Schreib besser, was du selbst schreiben willst.“ Zuletzt hat er sein Verständnis von Autor und Leser in einem lesenswerten Aufsatz für die New York Times noch einmal spezifiziert.

„Finderlohn“ ist der erzählerisch besser gelungene, zweite Teil der Hodges-Trilogie, eine Hymne auf Büchernarren dieser Welt und die Mächte der Literatur. Nicht ganz so dramatisch spannend wie „Mr. Mercedes“, aber wie so oft im King-Universum mit dem ersten Teil verknüpft. Bedauerlicherweise lähmt der Auftritt des skurrilen Ermittlertrios die Klasse der Erzählung etwas – dabei sind Hodges und seine zwei Helfer eigentümlich genug, um einen Roman lesenswert zu machen. In „Mr. Mercedes“ haben sie das bewiesen, in „Finderlohn“ leider nicht. Aber das Duell zwischen dem mörderischen Leser Morris Bellamy und dem jungen Fan Peter Saubers entschädigt für alle Schwächen dieses Romans. Im Jahr 2016 soll der abschließende Teil der Trilogie erscheinen. Einen englischen Titel gibt es schon: „Suicide Prince“.

Stephen King: Finderlohn, Heyne Verlag, München, 2015, 544 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, ISBN 978-3453270091, Leseprobe

Die Zitate aus dem Rolling Stone-Interview entstammen der deutschen Übersetzung aus der deutschen Magazin-Ausgabe (März 2015). Das Interview führte der US-Autor Andy Greene für die amerikanische Ausgabe des Rolling Stone im Jahr 2014. Veröffentlicht wurde es am 31. Oktober 2014. Zum Zeitpunkt der Rezension ist das Interview im Internet nur auf Englisch vollständig abrufbar.

Buch Wien: „Ganz am Ende gibt’s einen Schnaps, und dann ist wieder alles gut“ (Valerie Fritsch)

Valerie Fritsch (l.) im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. © Christian Lund
Valerie Fritsch (l.) im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. © Christian Lund
Den Donnerstag der diesjährigen Buch Wien hätte man getrost auch in den „Fritsch-Tag“ umbenennen können, denn der Verfasser dieses Blogs sah den Höhepunkt nicht etwa in einem weiteren Auftritt von Adolf Muschg, sondern sowohl in der Lesung der herzerreichenden österreichischen Autorin Valerie Fritsch als auch im gemeinsamen Auftritt mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch am frühen Nachmittag.

Valerie Fritsch ist längst keine Unbekannte mehr. Spätestens seitdem der Suhrkamp-Verlag Anfang März 2015 ihren Roman „Winters Garten“ (Leseprobe) veröffentlicht hat, ist das Schriftstellerkollegium und die Literaturkritik von der jungen Autorin und ihrer Sprache begeistert. „Was macht Valerie Fritsch im Rest ihres Lebens, wenn sie jetzt schon so gut ist?“, fragt der Schweizer Autor Jürg Laederach. Und der österreichische Schriftsteller und Büchner-Preisträger Josef Winkler äußert sich frenetisch jubelnd: „Ich bin beglückt. Da kann man Gift oder Gegengift drauf nehmen, ich bin mir sicher, dass mit Valerie Fritsch ein Prosatalent in der österreichischen Gegenwartsliteratur aufgetaucht ist, von dem man noch viel hören wird.“

Winters Garten, das ist nicht nur „der Sehnsuchtsort, an den der Vogelzüchter Anton mit seiner Frau Frederike nach Jahren in der Stadt zurückkehrt“, wie der Verlag im Klappentext schreibt. Winters Garten ist auch der buchgewordene Wildwuchs von Valerie Fritschs Großmutter. Ein wilder Garten, den sie als Kind geliebt hat, obwohl die Großmutter in Kärnten „eigentlich ein böser Mensch“ war, bekennt Fritsch im Gespräch mit ORF-Moderatorin Katja Gasser. Ohnehin sei die Natur für sie ein „großer Kraftquell“. Sie sei schon mit einem großen Urvertrauen auf die Welt gekommen, sagt sie. „Mir fehlt die Angst, ich könnte nicht mehr zurückkommen.“ Dabei ist sie nicht nur Autorin, sondern als Photokünstlerin auch Weitgereiste und furchtlose Entdeckerin der gefährlicheren Ecken dieser Welt. Nur eines macht sie bange: „Ich habe totale Angst vor Schlangen.“ Sie müsse nur eine in der Zeitung sehen, dann beschleunige sich schon ihr Puls.

Bis zur Erschöpfung parat stehen

Schonungslos ehrlich ist Valerie Fritsch aber vor allem dann, wenn sie offenbart, dass der ihr zuteil gewordene Erfolg sie nicht nur anfangs überrascht und gefreut hat, sondern mittlerweile auch müde mache: „Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal in meinem Bett geschlafen oder mit Menschen etwas unternommen habe, die ich wirklich kenne.“ Sie spricht davon, bis zur Erschöpfung immer parat zu stehen für die Leser, die Fans, den Verlag. Ständig auf Lesereise, ständig unterwegs, kaum im geschützten Raum der Familie, bei ihrem Hund, den sie so sehr liebt und der ihr Herzenswärme gibt. Und auch am Ende dieses Messetages wird ihre Stimme angeschlagen sein, weil sie aus ihrem Werk gelesen, gute und schlechte Fragen beantwortet und natürlich eifrig Bücher signiert und mit den Lesern geplaudert hat.

Aber auch das Romaneschreiben sei „Knochenarbeit“, sagt Valerie Fritsch. Gerade zum Ende eines Romans gerate sie in einen rauschartigen Zustand, in dem es nicht ungewöhnlich sei, dass sie frisch gewaschene Socken in den Kühlschrank lege oder ähnlich verquere Dinge tue. „Aber ganz am Ende gibt’s einen Schnaps, und dann ist alles wieder gut.“ Wer Valerie Fritsch beim Vorlesen zuhört („Winters Garten“ bei zehnseiten.de), läuft Gefahr, in einen ähnlichen Rausch zu geraten. Man möchte an ihren Lippen hängen, ihre eindringlichen Worte in sich aufsaugen dürfen, um sie für sich zu behalten und in passenden Augenblicken der Stille wieder hervornehmen zu können.

Valerie Fritsch: Winters Garten, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2015, 154 Seiten, gebunden, 16,95 Euro, ISBN 978-3518424711

Gudrun (l.) und Valerie Fritsch bei der Lesung ihres gemeinsamen Lyrikbandes. © Christian Lund
Gudrun (l.) und Valerie Fritsch bei der Lesung ihres gemeinsamen Lyrikbandes. © Christian Lund
Wer sie überhaupt soweit gebracht hat, daraus macht Valerie Fritsch keinen Hehl: „Meine literarische Sozialisation begann mit den Vorlesestimmen meiner Eltern, der familiären Vertonung kleiner Welten, vollgestopft mit verrückten Persönlichkeiten und sprechenden Tieren, die – stets auf Krawall gebürstet – zu großen Abenteuern loszogen“, schreibt sie im Standard (7. November 2015). Es ist also wohl kein Wunder, dass sie mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch gemeinsam einen Lyrikband verfasst hat, der im Februar 2015 im Leykam-Buchverlag erschienen ist („Kinder der Unschärferelation“). „Diese Frau hat mir das Lesen und Schreiben und die Liebe zur Literatur beigebracht“, sagt Valerie Fritsch über ihre Mutter. Ist es also ein Geschenk der Tochter an die Mutter, die von sich selbst sagt, ihr Wunsch sei es immer gewesen, dass ihre Lyrik mal veröffentlicht wird? Nein, vielmehr ist es ein Geschenk untereinander, eine Art Familienlyrik, verfasst von den drei Frauen-Generationen der Familie Fritsch. Denn der Sammlung ist auch ein Gedicht von Valerie Fritschs Großmutter und Gudrun Fritschs Mutter beigefügt, ein Sterbegedicht, das bislang unveröffentlicht war. Sehr privat ist das, was wir lesen, Gespräche zwischen Müttern und Töchtern, aber auch gesellschaftliche Themen, verknappt mit den Worten der Lyrik.

„Es war sehr chaotisch“

„Wir hatten anfangs eine große Auswahl von Gedichten meiner Mutter, die ich in Kartons entdeckt habe – es war sehr chaotisch“, erinnert sich Valerie Fritsch schmunzelnd. In einigen Sommertagen habe sie dann ein paar Gedichte hinzugeschrieben, und so sei schnell der nun vorliegende Lyrikband entstanden. Familie, das macht Valerie Fritsch auch in diesem Gespräch deutlich, ist für sie, die sie oft monatelang unterwegs ist, der Herzenshafen, in den ihr Schiff immer wieder gern zurückkehrt: „Ich freue mich jedes Mal auf die Familie, auf den Hund, ja, vor allem auf die weichen Ohren des Hundes.“

Valerie Fritsch/Gudrun Fritsch: kinder der unschärferelation, Leykam-Buchverlag, Graz, 2015, 88 Seiten, broschiert, 14,90 Euro, ISBN 978-3701179619

Adolf Muschg stellt seinen Roman "Die japanische Tasche" vor. © Christian Lund
Adolf Muschg stellt seinen Roman „Die japanische Tasche“ vor. © Christian Lund
Es ist wahrlich schwer, einen passenden Übergang von den wohlig weichen Hundeohren zu Adolf Muschg zu finden, aber tatsächlich hielt der Schweizer nicht nur eine verschwurbelte Eröffnungsrede bei der Buch Wien 2015, sondern er war auch gekommen, um sein neues Buch „Die japanische Tasche“ (C.H.Beck-Verlag, Leseprobe) vorzustellen. Zentrales Motiv seines Romans sei „das Verschwinden einer Person“, sagte Muschg, nachdem er die Anfangsszene vorgelesen hatte. Darin berichtet er durchaus mit scharfer Beobachtungsgabe und feinem Witz, wie die Fahrgäste eines Zuges reagieren, der soeben einen Menschen überfahren hat. Diesen Vorfall habe er in eben jenem Zug selbst erlebt. „Wir wurden zu einer zusammengewürftelten Leichengesellschaft – die Leute fingen an zu reden und es gab diese merkwürdige Leichtigkeit, die sich einstellt, weil niemand den Getöteten gekannt hat.“

Dann aber verzettelt sich Muschg bei der Antwort auf die Frage nach dem Inhalt seines Buches. Er beginnt zu erklären, dass die Hauptfigur Historiker sei, und gerät darüber ins Fabulieren über Geschichte im Allgemeinen und Besonderen. Er schweift ab zum Kurz- und Langzeitgedächtnis der Menschen in Bezug auf die deutschsprachige Geschichte, vergleicht das Geschichtsverständnis seines Sohnes mit dem seinigen, und darf den nächsten und übernächsten Gedanken auch noch weiterspinnen, ohne von der Moderatorin unterbrochen zu werden. Inzwischen weiß der Zuhörer nicht mehr über das Buch als zu Beginn, wohl aber, dass Adolf Muschg offenbar selbst gerne der Leser seines Buches und Hörer seiner Worte ist.

Adolf Muschg: Die japanische Tasche, C.H.Beck Verlag, München, 2015, 484 Seiten, gebunden, 24,95 Euro, ISBN 978-3406682018

Gewalt als attraktive Handlungsoption

Jörg Baberowski bei der Vorstellung seiner Studie "Räume der Gewalt". © Christian Lund
Jörg Baberowski bei der Vorstellung seiner Studie „Räume der Gewalt“. © Christian Lund
Viele Zuhörer fand am Mittag schließlich noch der Berliner Historiker und vielfach ausgezeichnete Stalinismusforscher Jörg Baberowksi, der sein Buch „Räume der Gewalt“ (S. Fischer Verlag, Leseprobe) vorstellte. Darin vertritt er die These, dass Gewalt für jedermann eine zugängliche und deshalb attraktive Handlungsoption war und ist, und kein „Extremfall“. Wer wirklich wissen wolle, was geschieht, wenn Menschen einander Gewalt antun, müsse eine Antwort auf die Frage finden, warum Menschen Schwellen überschreiten und andere verletzen oder töten.

Das interessante Gespräch wurde live in der Sendung „Von Tag zu Tag“ im Radiosender Ö1 übertragen, so dass auch Hörer zugeschaltet werden konnten, um Fragen zu stellen. So mutmaßte ein Hörer, dass Gewalt doch etwas mit Überforderung zu tun habe und dass Menschen deshalb im wahrsten Sinne des Wortes über die Strenge schlagen würden. „Ja und nein“, antwortete Baberowski. Man dürfe nicht den Fehler machen und davon ausgehen, dass Gewalt vor allem in ärmlichen oder ungebildeten Verhältnissen zu Tage trete. Gewalt sei aber sehr wohl ein Ausdruck der Überforderung, wenn die Worte nicht mehr ausreichen, um gehört zu werden. „Der Gewalttäter bleibt im Gespräch“, formuliert Baberowski. Schlägt jemand zu, richte sich die Aufmerksamkeit sofort auf den Gewaltanwender und sein Opfer.

Gewalt definiert der bekannte Historiker als „Machtaktion der Unterwerfung, die auf den Körper wirkt“. „Gewalt braucht immer Opfer und Täter – Menschen müssen den Täter sehen, damit sie Gewalt verspüren“, meint Baberowski. Gewalt sei deshalb immer auch an das Erleben des Opfers gebunden. Mit struktureller Gewalt könne er deshalb nichts anfangen, die davon ausgeht, Gewalt äußere sich in der Beeinträchtigung von Minderheiten.

Jörg Baberowksi: Räume der Gewalt, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 272 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3100048189

Fälschen will gelernt sein, Schreiben auch

Mark Trace will Schriftsteller werden und entdeckt schon früh ein seltenes Talent: Er kann sich den Stil berühmter Literaten aneignen und schreiben wie sie. „Der Hochstapler“ von David Belbin wartet mit einigen vergnüglichen Szenen auf: So bricht Mark während der Beerdigung von Roald Dahl in dessen Gartenlaube ein, um auf seiner Schreibmaschine eine Kurzgeschichte zu fälschen, während Dahls Enkel vor der Tür stehen und sich vor dem Geist ihres Großvaters gruseln. Einige schöne Ideen folgen, doch zum Ende wird das Buch fade. Sprachlich ist es ohnehin keine Wucht.

Alles beginnt in der Schule, als der 14-jährige Ich-Erzähler Mark ein Kapitel des „David Copperfield“ im Stil von Charles Dickens schreiben soll. Er imitiert dessen Stil so perfekt, dass der Lehrer glaubt, er habe geschummelt und den Text aus einem unbekannteren Werk abgeschrieben. Rund vier Jahre später zieht es den begabten jungen Mann hinaus in die Welt. Er will in London Literatur studieren und zuvor in Paris auf den Pfaden berühmter Schriftsteller wandeln.

Dort trainiert er seine Gabe, indem er Kurzgeschichten von Ernest Hemingway fälscht, deren Original-Manuskripte einst verloren gegangen sein sollen. Mark gerät an den windigen Paul Mercer, dem er erzählt, er habe eine Geschichte auf dem Flohmarkt zwischen den Seiten einer Zeitschrift entdeckt. Mercer ist sofort Feuer und Flamme, kauft Mark die Geschichte ab und stellt sie dem Fachpublikum vor. Die Geschichte wird als literarische Sensation gefeiert.

Einfach, lapidar, dann aber auch schwülstig und antiquiert

Mark ist inzwischen in London eingekehrt und arbeitet neben dem Studium bei einer einst renommierten Literaturzeitschrift – der perfekte Arbeitsplatz, um weitere Geschichten zu fälschen und unterzubringen. Jetzt ist Mark in seinem Element. Doch was der englische Autor Belbin in seinem Roman mit solch schönen Ideen beginnt, lässt sich nicht bis ins Unermessliche treiben. Und so ist es kaum verwunderlich, dass der Schluss des Buches wenig überzeugen kann. Bis dahin aber ist es zumindest nette Unterhaltung. Die Sprache lässt sich jedoch nicht mit der Brillianz der von Mark imitierten Schriftsteller vergleichen. Oft ist sie einfach, lapidar, dann aber auch schwülstig und antiquiert. Beispiel gefällig? „Das war alles etwas zu viel für mich: Vernichtung, Tod, Geburt rings um mich her. Ich wünschte ihnen aus der Tiefe meines zittrigen Herzens alles nur erdenklich Gute.“ (S. 249) Das hätte selbst Hedwig Courths-Mahler, Inbegriff der Trivialliteratur, so nicht geschrieben.

Wer nun erwartet, Mark Trace würde den Leser an seinen literarischen Finessen teilhaben, der irrt. Allenfalls Zusammenfassungen seiner Fälschungen bekommt der Leser geliefert, nicht aber eine Kostprobe der Hemingway-Plagiate oder des Dahl-Falsifikats. Und sein Schöpfer David Belbin hätte wohl auch gleich den Beruf des Fälschers ergreifen können, wenn er den Stil berühmter Schriftsteller so perfekt imitieren könnte wie seine Figur Mark Trace. Eine literarische Sensation ist „Der Hochstapler“ indes nicht. Nett zu lesen, aber eine Offenbarung sieht anders aus.

David Belbin: Der Hochstapler, Kindler Verlag, Reinbek, 2010, 284 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,95 Euro, ISBN 978-3463405803
David Belbin: Der Hochstapler, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 2011, 288 Seiten, Taschenbuch, 8,99 Euro, ISBN 978-3499254116

Live aus Leipzig

Vom 15. bis 18. März 2012 wird „Seitengang – Ein Literatur-Blog“ live von der Leipziger Buchmesse berichten. Seitengang freut sich auf interessante Gespräche mit Autoren und Verlagen, Lesungen und natürlich die Sputnik LitPop 2012.

Bei der LitPop hört und sieht Seitengang möglicherweise Sarah Kuttner, Steven Uhly und Frida Gold. Mit wenigen anderen Besuchern der LitPop wahrscheinlich… Na, und bei der Buchmesse selbst ist das Angebot schier unermesslich. Hier wird in den nächsten Tagen das Online-Ausstellerverzeichnis und das Programm von „Leipzig liest“ helfen müssen.

Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse wird jedoch wie immer die Präsentation der Neuerscheinungen des Frühjahrs sein. Andere Schwerpunkte in diesem Jahr sind unter anderem das Programm „tranzyt. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus“, Graphic Novels, buch+art – Kunst rund um das Buch und natürlich der Preis der Leipziger Buchmesse.

Für Anregungen und Tipps ist Seitengang dankbar. In den nächsten Tagen wird auf seitengang.wordpress.com abseits der Rezensionen ein eigene Seite für die Leipziger Buchmesse 2012 erstellt. Dort finden sich ab dem 15. März die Texte von der Leipziger Buchmesse.