Ein Labyrinth der Möglichkeiten

Das LabyrinthDer schwedische Online-Journalist und Blogger Sigge Eklund hat einen Roman geschrieben, der vom deutschen Verlag Dumont als Antwort auf Gillian Flynns „Gone Girl“ beworben wird. „Das Labyrinth“ hat diesen Vergleich jedoch gar nicht nötig, denn das Leseerlebnis ist noch eindringlicher und verstörender als bei dem amerikanischen Bestseller. Dieser Roman ist wie ein Wein mit einem langen Abgang. Und den letzten Tropfen vergisst man nicht.

Das Ehepaar Åsa und Martin Horn ist verzweifelt: Ihre elfjährige Tochter Magda verschwindet genau zu der Zeit, als die beiden im Restaurant um die Ecke zu Abend essen. Zwar haben die beiden immer mal wieder nach ihrer Tochter gesehen, die Haustür jedoch völlig arglos nie abgeschlossen. So ist es die erste Vermutung, ein Mann könnte sich ins Haus geschlichen und Magda mitgenommen haben, denn als Åsa und Martin gegen zehn Uhr zurückkehren, ist Magda nicht mehr da.

Es beginnt eine große Suchaktion, zunächst mit den Nachbarn, dann mit der Polizei, mit Suchtrupps und Tauchern. Bei einer Pressekonferenz wenden sich Åsa und Martin direkt an einen möglichen Entführer. Doch die Botschaft wird ihnen wenig später selbst zum Verhängnis, denn nun konzentriert sich die Ermittlungsarbeit der Polizei auf sie beide: Sie stehen im Verdacht, ihre Tochter ermordet zu haben.

Aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt

Und genau hier setzt die Handlung des Romans ein. Erzählt wird die Geschichte aus vier verschiedenen Perspektiven: Zum einen natürlich aus der Sicht von Åsa und Martin, zum anderen aber auch durch Tom, einem sehr loyalen Mitarbeiter von Martin, sowie dessen Ex-Freundin Katja. Alle vier sind in irgendeiner Weise miteinander verbunden, und sei es auch nur über Magda.

Als Leser sitzt man schnell zwischen den Stühlen, denn alle machen den anderen und auch dem Leser etwas vor, teilweise aber auch sich selbst. Bei Gerichtsprozessen heißt es nicht umsonst, dass der Zeuge das unsicherste Beweismittel ist. Vor allem dann, wenn er ein eigenes Interesse an einem bestimmten Ausgang des Verfahrens hat. Åsa und Martin reiben sich gegenseitig auf, durch gegenseitige Schuldzuweisungen, aber auch durch ihre eigenen Schuldgefühle. Ihre Ehe besteht nur noch auf dem Papier. Martin stürzt sich in seine Arbeit als Verlagslektor, Åsa streift auch nach Monaten noch nachts durch die Gegend und hofft, nachempfinden zu können, wie Magdas Entführer sie ausgewählt, beobachtet und schließlich mitgenommen hat.

Tom ist nicht einfach nur loyal, sondern geradezu unterwürfig und latent homoerotisch fasziniert von seinem Chef. Er ist besessen von dem Gedanken, Martin entlasten und dessen Unschuld beweisen zu können und ermittelt auf eigene Faust. Und Katja ist die neue Krankenschwester an Magdas Schule und hat erst kurz vor ihrem Verschwinden seltsame Male am Körper des Mädchens entdeckt. Was Åsa und Tom nicht wissen: Martin und Katja kennen sich. Und das ist nicht das letzte Geheimnis, das Martin mit sich herumträgt.

Symbol für das Gewirr aus Gedanken

Das titelgebende Labyrinth ist Symbol für die falschen Wege, die man einschlägt, für das Gewirr aus Gedanken, aus dem man schlecht den Ausgang findet, wenn sich das Ganze nicht aus einer höheren Warte betrachten lässt. Erst zum Schluss gelingt es zumindest dem Leser, sich zu erheben und das ganze fürchterliche Debakel von oben zu betrachten.

Auch wenn „Das Labyrinth“ auf den Krimi-Tischen der Buchhandlungen liegt, so ist es dennoch kein klassischer Krimi, sondern ein wirklich gut geschriebenes und vielschichtiges Beziehungsdrama mit hervorragend ausgefeilten Charakteren. Am Ende bleibt wie so oft die Gewissheit, dass ein wenig Offenheit und Miteinanderreden Vieles verhindert hätte.

Sigge Eklund: Das Labyrinth, Dumont Buchverlag, Köln, 2015, 383 Seiten, broschiert, 14,99 Euro, ISBN 978-3832197582

Eine viel zu kurze Geschichte von fast allem

Eine schöne junge FrauDer niederländische Autor Tommy Wieringa hat einen Kurzroman über einen erfolgreichen Virologen geschrieben, der sich in eine 15 Jahre jüngere Frau verliebt. Als die beiden ein Schrei-Baby bekommen, nimmt das Drama seinen Lauf. Leider ist der nur 124 Seiten lange Roman mit Themen dermaßen überfrachtet, dass er seine Stärke nicht entfalten kann. Die Kürze jedoch hat Gründe.

Jedes Jahr im Frühjahr wird in Amsterdam die „Nationale Buchwoche“ gefeiert, bei der Verlage ihre Neuerscheinungen vorstellen und Autoren aus ihren Werken lesen. Traditionell vergibt die Veranstalterin, die „Stiftung Kollektive Propaganda für das niederländische Buch“, jedes Jahr einen lukrativen Auftrag an einen Autoren, einen kurzen Roman zu schreiben, der dann an die Buchkäufer verteilt wird. Das sogenannte Buchwochengeschenk wird immer von bekannten Autoren verfasst. Harry Mulisch, Cees Nooteboom und Salman Rushdie haben schon ihren Beitrag dazu geleistet. Im Jahr 2014 bekam Tommy Wieringa den Auftrag. Das Ergebnis ist das jetzt in Deutsche übersetzte Werk „Eine schöne junge Frau“.

Edward ist 42 Jahre alt, als er auf einer Caféterrasse sitzt und eine unfassbar schöne, junge Frau an sich vorbeiradeln sieht. Wenig später trifft er Ruth in einer Billardkneipe wieder und macht Nägel mit Köpfen. Trotz des Altersunterschieds verlieben sich die beiden ineinander und heiraten. Als auch der Kinderwunsch nach langen Mühen in Erfüllung geht, könnte ihr Glück perfekt sein, doch Ruth entwickelt den irrsinnigen Glauben, ihr Sohn reagiere allergisch auf Edward und sei deshalb solch ein Schrei-Kind. Fortan übernachtet er nicht mehr im Ehebett, sondern im Dachstuhl.

Aber ihr Glück ist auch vorher schon nicht perfekt, denn Edward geht mit einer jungen Chemielaborantin fremd. Sein Gewissen beruhigt er mit sozialpsychologischen Studien, nach denen es nicht anormal ist, dass ein Mann in der Schwangerschaft seiner Frau fremd geht. Außerdem glaubt er, er habe sich schon zu sehr an die Schönheit seiner Frau gewöhnt, so dass neue optische Reize hermüssen: „Man gewöhnte sich an alles. Und was war Gewohnheit anderes als der erste Schritt zum Tod? Auch ihre Schönheit führte nicht automatisch zu Geilheit, ganz im Gegenteil, ein Mädchen wie Marjolein van Unen erregte ihn viel mehr als seine tausendmal besser aussehende Frau.“

Der Nährboden ist damit genug bereitet, um ein Ehedrama darzustellen. Wieringa hätte nur alle anderen Themenanrisse unterlassen sollen: Die Tierversuche, zu denen Edward als Virologie eine sehr drastische Einstellung hat, die Geschichte des Aids-Virus‘, von der der allwissende Erzähler in epischer Breite berichtet, die Nebenhandlung mit Ruths Bruder. Stattdessen hätte Wieringa die Tücken des Altersunterschieds intensiver herausarbeiten und die Ängste vor Verlust und Alleinsein sowie die Überlegungen zum Ehebruch stärker in den Blick nehmen können.

Außerdem bleiben vor allem die Frauenfiguren des Romans seltsam blass, obwohl der Leser sie mit Edwards Augen betrachtet. Zu selten wird ihnen die Bühne bereitet, auf der sie sich hervortun können. Edward ist und bleibt der Dreh- und Angelpunkt dieses Romans, und auch das ist schlichtweg zu wenig. Warum sich Ruth beispielsweise von der betörend jungen Frau in das streitsüchtige Muttertier verwandelt, wird nicht annähernd erklärt.

Glücklicherweise ist der Roman wenigstens sprachlich gelungen. Wieringa beobachtet sehr fein, hat Sinn für leise Zwischentöne, und manche Sätze und Metaphern möchte man sich einfach gern notieren. Zum Beispiel: „Die Hitze lag seufzend wie ein Hund auf der Straße.“ Oder die Beschreibung des Schrei-Babys: „So tritt der Lärm in Edwards Leben, wie ununterbrochen hupende Lastwagenfahrer im Streik, angeführt von einem Umzug des Vereins ‚Mopeds ohne Auspuff‘. Hundert lautstark wehklagende semitische Witwen bilden das Schlusslicht.“ Wieringa vereint Witz und Ernsthaftigkeit, ohne dass es gekünstelt wirkt. Doch sprachliche Raffinesse genügt nicht. So bleibt „Eine schöne junge Frau“ leider nur ein Werk, das das Regal nicht braucht.

Tommy Wieringa: Eine schöne junge Frau, Carl Hanser Verlag, München, 2015, 124 Seiten, gebunden, 14,90 Euro, ISBN 978-3446247888, Leseprobe

Die Nette und Dr. Biest

Washington SquareWas kann ein Vater seiner Tochter antun, wenn er nicht glauben möchte, dass sein Kind von einem Mann um seiner selbst willen geliebt wird, sondern beharrlich davon ausgeht, der Verlobte sei nur an der Mitgift interessiert! Henry James‘ zeitlos gebliebener Roman „Washington Square“ handelt mitunter von einer solchen Misere und ist im Manesse-Verlag in vortrefflicher Art neu erschienen.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert in New York ein Dr. Austin Sloper, der als Arzt einen hervorragenden Ruf genießt. Seine Patienten nennen ihn „brillant“, der allwissende Erzähler beschreibt ihn als „zutiefst ehrenhaften Mann“. Doch auch Arztfamilien sind nicht vor dem Schicksal gefeit, und so verstirbt zunächst der erstgeborene Sohn im frühen Kindesalter und wenig später nach der Geburt der Tochter auch die eigene so innig geliebte Ehefrau.

Die Tochter Catherine ist für den Vater früh eine Enttäuschung, sieht er in ihr doch nur einen schlechten Ersatz für den verlorenen Sohn, den er zu einem Prachtexemplar von Mann heranziehen wollte. Catherine aber, ach!, hat nichts von der Schönheit ihrer verstorbenen Mutter geerbt. Sie sähe „nett“ aus, sagen die Leute, wenn sie Catherines Äußeres loben wollen, und auch im 19. Jahrhundert schon war nett nix für’s Bett, geschweige denn für eine Hochzeit.

Rechthaberisch bis ins letzte Detail

Catherine ist schlicht, wo andere klug sind, sie hat weder eine schnelle Auffassungsgabe noch war sie in ihrer Jugend ein Ausbund an Wildheit. Was sie jedoch von frühester Kindheit auszeichnet, ist ihre schier unerschütterliche Liebe für ihren Vater, gleichzeitig aber fürchtet sie ihn sehr. Das macht sie unterwürfig. Ihrem Vater zu gefallen, ist ihr seligster Wunsch. Der wiederum kennt keine väterliche Liebe. Kalt ist er, berechnend, ein Analytiker. Und vor allem rechthaberisch bis ins letzte Detail.

In diese schwierige Vater-Tochter-Konstellation tritt nun ein junger, gutaussehender Mann namens Morris Townsend, der Catherine den Hof macht, aber sein eigenes Vermögen durchgebracht hat. Dr. Sloper hält nichts von dem möglichen Schwiegersohn in spe, er sieht in ihm nur einen Taugenichts, der hinter dem Geld seiner Tochter her ist.

Catherine jedoch ist bereits in schüchterner Liebe entbrannt. Unglückselige Unterstützung findet sie in ihrer nicht besonders intelligenten Tante Mrs. Penniman, die hoffnungslos romantisch und sentimental ist und am liebsten selbst einen Liebhaber hätte, mit dem sie unter falschem Namen geheimnisvolle Briefe austauschen kann. Dr. Sloper erkennt bald den Ernst der Lage und verkündet, er werde seine Tochter enterben, wenn diese den Heiratsschwindler eheliche. Es beginnt ein Ziehen und Zerren zwischen zwei Männern, die nur aus blindem Egoismus handeln, nicht aus Edelmut oder zum Schutze von Catherine. Man möchte meinen, Catherine wäre dem Untergang geweiht, ein Spielball der eigensinnigen Intentionen zweier Männer. Doch Henry James entwirft mit ihr langsam die Geschichte einer stillen Heldin, die wahrhaftig liebt.

Feine Ironie und geistreiche Erzählkunst

Die Neuübersetzung von Bettina Blumenberg, die auch ein lesenswertes Nachwort verfasst hat, ist über die Maßen gelungen. Henry James‘ feine Ironie und geistreiche Erzählkunst werden hier erstmalig offenbar. Die Antiquiertheit früherer Übersetzungen sucht man vergebens. Ohnehin ist „Washington Square“ kein antiquiertes Sujet, denn auch heute noch heiratet mancher aufgrund geldwerten Vermögens.

Das Buch erscheint mit einem wunderbar handkolorierten Buchschnitt und einem passenden Lesebändchen. Dem Manesse-Verlag ist es damit gelungen, einmal mehr ein besonderes Stück Literatur herauszugeben. Eine wahre Wiederentdeckung!

Henry James: Washington Sqaure, Manesse Verlag, Zürich, 2014, 275 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 24,95 Euro, ISBN 978-3717523109, Leseprobe

Bizarre Begierde nach dem Vergewaltiger

OhEines der bekanntesten Enfants terribles der französischen Literatur hat wieder zugeschlagen: Philippe Djian stichelt in seinem neuen, ins Deutsche übersetzte Werk mit dem schlichten Titel „Oh…“ nicht mehr gegen den Literaturbetrieb, sondern widmet sich der Film- und Fernsehindustrie. Hauptthema aber ist die Bewältigung einer erlebten Vergewaltigung. Wie immer hat Djian das raffiniert verwoben. Nur mit seinem üblichen Chaos-Setting hat er es diesmal etwas übertrieben.

Michèle ist eine knallharte Filmproduzentin, die an mehreren Fronten gleichzeitig kämpft: Sie hat eine Affäre mit dem Mann ihrer besten Freundin, ihr Sohn ist auf dem besten Wege, sich ein Kuckuckskind unterschieben zu lassen, und ihr eigener Vater sitzt seit Jahren im Gefängnis, weil er einst 70 Kinder in einem Ferienlager an der Atlantikküste erschossen hat. In Frankreich kennt man Michèles Vater nur als „Das Monster von Aquitanien“. Zu allem Überfluss kündigt Michèles 75-jährige Mutter an, wieder heiraten zu wollen, und zwar ihren wesentlich jüngeren Lover.

Michèle ist es gewohnt, dass die Menschen vor ihrer Dominanz zurückschrecken und unter ihr einknicken. Eines Tages aber wird sie in ihrem eigenen Haus überfallen und vergewaltigt. Sie selbst ist nun die Schwache, die Unterlegene, und das wirft sie völlig aus der Bahn. Sie beschließt, niemandem davon zu erzählen, weiterzumachen wie bisher, sich aber Pfefferspray zu kaufen und das Haus mit einer Alarmanlage zu sichern. Vielleicht glaubt sie, die völlig durchgedrehte Welt um sie herum werde sie das Erlebte schon vergessen lassen. Aber das funktioniert nicht. Mehr noch: Sie beginnt zu realisieren, dass ihr die Erinnerung an die Machtübernahme durch den vermummten Mann ungeahnte Lust verschafft. Sie begehrt ausgerechnet den Mann, der sie zuvor vergewaltigt hat. Die anderen Männer und Geliebten in ihrem Leben sind dagegen Langweiler, Banker, Nachbarn und vor allem: stets unterwürfig.

Sex spielt eine wichtige Rolle

Wer jetzt glaubt, Djian hätte die französische Version von „Shades of Grey“ geschrieben, der irrt. Solche Nacheiferungen hat Djian nicht nötig. Sex spielt in allen seinen Büchern eine wichtige Rolle, und auch bei „Oh…“ ist er allgegenwärtig. In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus erklärte Djian, auf das Thema Sex in seinen Büchern angesprochen: „Zuerst geht es mir um die Beziehungen zwischen Menschen. Da kann ich diesen Bereich schwerlich auslassen. Die Gesten, die mit Sex zu tun haben, sind äußerst aufschlussreich für die Psyche der Personen. Da kann man wirklich erkennen, ob jemand ein gemeiner Hund ist oder nicht.“

Michèle ist kein gemeiner Hund, sondern schlichtweg eine Frau, der etwas Ungeheuerliches passiert ist, und der wir dabei folgen, das Erlebte zu verstehen. Und trotz der vielen wörtlichen Rede in diesem Buch ist es eher ein innerer Monolog, den man zwischen den Zeilen lesen muss, zwischen den assoziativen Reihungen, die manchmal so viel Fahrt aufnehmen, dass es einem schwindelig werden kann beim Lesen.

Das ist starke Literatur, fürwahr! Aber für den Leser bedeutet das Arbeit: Viel Aufmerksamkeit ist vonnöten! Wer gerne kurz vor dem Schlafen noch ein paar Seiten liest, sollte besser zu einem anderen Buch greifen. Hinzu kommt das eingangs erwähnte maßlos chaotische Setting. Da hätte sich Djian etwas in Zurückhaltung üben können – wobei das noch nie eine von Djians Eigenschaften gewesen ist.

Was dem Diogenes Verlag noch anzukreiden wäre, ist die missglückte Umschlagbeschreibung. Dort ist zu lesen, Michèle sage das titelgebende „Oh…“, „nachdem sie in ihrem Haus bei Paris überfallen wurde“. Möglicherweise ist da zu Beginn ein „Oh…“ verloren gegangen, aber das einzige „Oh…“ dieses Romans fällt auf Seite 231. Und es steht im letzten Satz. Die Beschreibung auf dem Umschlag lässt etwas anderes vermuten. Aber das ist wohl bei einem Buch wie diesem nur eine Nebensache und kann als Kleinlichkeit des Rezensenten abgetan werden.

Philippe Djian: Oh…, Diogenes Verlag, Zürich, 2014, 231 Seiten, gebunden, 21,90 Euro, ISBN 978-3257069044, Leseprobe

Großmutter und die Phase mit Hitler

IrminaSchon bei Goethes Faust wohnten zwei Seelen, ach!, in seiner Brust. Auch Irmina ist innerlich zerrissen, allerdings nicht mit faust’schen Ambitionen, sondern zwischen Rechtschaffenheit und dem Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg. Sie ist die Heldin in Barbara Yelins gleichnamiger Graphic Novel. Zutiefst beeindruckend erzählt die Autorin und Zeichnerin darin die Geschichte einer jungen Mitläuferin zur Zeit des Nationalsozialismus‘. Viele Bücher sind darüber geschrieben worden, aber selten geht eines dem Leser so nahe wie dieses. Vielleicht weil Barbara Yelin das Leben ihrer eigenen Großmutter als Vorlage genommen hat. Vielleicht auch, weil es eine Generation an das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern erinnert.

Die Handlung beginnt im Jahr 1934. Irmina, eine junge, selbstbewusste Frau, stolz, aber etwas spröde, geht von Stuttgart nach London, um dort an einer Wirtschaftsschule für Mädchen eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu machen. Frei möchte sie sein und unabhängig. Sie verliebt sich in Howard, einen schwarzen Stipendiaten aus Oxford. Beide verbindet das Fremdsein in England. Offen ergreift sie für ihn Partei, wenn er sich rassistischen Bemerkungen gegenübersieht. Auf Äußerungen der Engländer zur Situation in Nazi-Deutschland reagiert Irmina indes patzig und kratzbürstig.

Als selbst Howard bei einer romantischen Bootstour Adolf Hitler erwähnt, wird sie wütend und schimpft, alle Welt rede immer nur von Hitler, wenn das Gespräch auf Deutschland komme. „Der hält sich doch nicht. Das ist nur eine Phase“, erklärt sie Howard. Davon sei sie fest überzeugt. Schon hier deutet sich eine politische Naivität an, die sich später noch öfter zeigen wird. Howard und Irmina träumen von einer gemeinsamen Zukunft, vielleicht sogar auf Barbados, Howards Heimat. Doch dann wird das Geld knapp. Sie kehrt nach Deutschland zurück. Ohne ihre große Liebe. Im April 1935.

Sie selbst verändert sich schleichend

Über Beziehungen gelangt sie an eine Stelle im Reichskriegsministerium in Berlin. Überall auf den Fluren schallt ihr der Hitler-Gruß entgegen, sie selbst verändert sich schleichend. Sie heiratet einen überzeugten Nationalsozialisten, einen SS-Mann und Architekten, der auf den großen Auftrag wartet, den Speer einmal nicht bekommt, und hofft auf den ersehnten finanziellen Aufschwung, den gesellschaftlichen Aufstieg und das ganz persönliche Glück. Währenddessen verliert sie nach und nach und ganz leise ihren so wertvollen Sinn für Rechtschaffenheit.

Yelin lässt dem Leser genügend Raum für die Überlegung, was er an Irinas Stelle getan hätte, welchen Weg er beschritten hätte. Und ob er selbst dem sicheren Scheitern entkommen wäre. Eine Frage, die sich die Nachkriegsgenerationen noch heute stellen. Weil sie von ihren Eltern und Großeltern keine Antworten bekommen haben. Millionen von Menschen haben in der Nazi-Zeit geschwiegen, während auf der Straße Juden zusammengetrieben wurden, die noch gestern ihre Nachbarn waren. Millionen von Menschen haben die Augen vor der Realität verschlossen, den Mund nicht aufbekommen, und man fragt sich immer noch fassungslos: Wie konnte das sein?

Yelins Buch gibt eine eigentlich einfache, aber immer wieder erschütternde Antwort: Weil die Millionen Menschen, die wir heute als Mitläufer bezeichnen, aus dem Leid der Opfer ihren Nutzen gezogen haben. Sie haben sich schlichtweg an ihnen bereichert. Ehemaliges jüdisches Eigentum wurde versteigert, Wohnungen von Deportierten waren günstiger zu haben, Arbeitsstellen, die zuvor von Juden besetzt waren, wurden frei und konnten nun eingenommen werden. Der Historiker Dr. Alexander Korb, der Yelin bei dem Buch historisch begleitet hat, erklärt dies in seinem lesenswerten Nachwort als „eindeutigen Beleg dafür, dass die Judenverfolgung eben nicht nur ein von einer Clique von Verfolgern durchgeführtes Verbrechen war, sondern sich in einer vielfältigen Weise auf das Leben aller Zeitgenossen auswirkte, ebenso wie umgekehrt das Verhalten des Einzelnen eine Rückwirkung hatte auf den Verlauf der Verfolgung.“

Allerlei Schattierungen von Grau und Schwarz

Barbara Yelins Comicroman bietet einen ungeheuerlichen Einblick in eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Ihre Zeichnungen skizzieren detailreich und in allerlei Schattierungen von Grau und Schwarz die Zeit des Nationalsozialismus‘. Bei einer Lesung im Bielefelder Buchladen „Eulenspiegel“ erzählt sie, sie habe sich beim Zeichnen an die Geschichte herangetastet. Denn das Buch erzählt auch die Geschichte von Yelins Großmutter. Nach deren Tod entdeckte Yelin einen Karton mit Briefen und Tagebüchern.

Der Fund habe sie inspiriert, schreibt sie im Vorwort. Für die Handlung des Romans habe sie sich jedoch erzählerische Freiheiten genommen: „Die auftretenden Personen, ihre biografischen Zusammenhänge und viele der Schauplätze sind zugunsten der Dramaturgie frei gestaltet.“ Faszinierend ist vor allem, dass Yelin ihre Großmutter weder nur verurteilt, noch sie nur in Schutz nimmt, sondern sich beides die Waage hält.

Das Buch kostet 39 Euro – auch für Graphic Novels ist das ein stolzer Preis. Dennoch: „Irina“ ist vor allem eins: große Kunst. Und Kunst kostet nun mal Geld.

Barbara Yelin: Irmina, Reprodukt Verlag, Berlin, 2014, 288 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 38 Euro, ISBN 978-3956400063, Leseprobe

Seitengang dankt dem Reprodukt Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.