Flucht ins Ungewisse – brillant erzählt

Sind Sie schon einmal in einer Citroën DS gefahren? Wie sie dahinschwebt, leicht und vergnüglich. So liest sich zeitweilig „Villa Royale“, das außergewöhnliche und wundervoll geschriebene Romandebüt der Französin Emmanuelle Fournier-Lorentz.

Scheinbar leicht. Denn: Wenn man den Kofferraum öffnet, ist darin das schwere Gepäck. Daran hat Palma schwer zu schleppen, denn sie ist gerade erst elf Jahre alt, als ihr Vater unerwartet stirbt. Man sagt, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Palmas Familie trägt jetzt aber auch noch das des Verstorbenen. Es ist keine Backsteinsammlung, die da so schwer wiegt, sondern das Leben eines nahen Menschen, das unbekannt geblieben ist, und das jetzt nach und nach ausgepackt wird. Mit allen Konsequenzen, die das haben kann.

Eine DS gibt’s in diesem Roman nicht, stattdessen einen orangefarbenen Renault R5. In diesem flüchten Palma, ihre beiden Brüder Charles und Victor sowie ihre Mutter quer durch Frankreich, nachdem der Vater eines Morgens tot auf dem Teppich lag. Alle drei Monate packt ihre Mutter wieder die Sachen zusammen, und dann geht es weiter, mit Sack und Pack, mit Kind und Kegel, im eigentlich viel zu engen Rennbrötchen.

Da machen die Präsidenten Urlaub

Von La Réunion reisen sie zu Palmas Großmutter nach Marseille, von dort in ein Kaff im Aveyron, wo die Mutter einen Job gefunden hat. Die Großmutter flunkert, da machten die Präsidenten Urlaub. „Dass das gar nicht stimmte, wussten wir ja nicht, und waren begeistert. Sie hat wohl selbst daran geglaubt.“

Das Auto, der R5, diese französische Knutschkugel, sie wird zum heimlichen Hort, an dem die Familie über das bisher Ungesagte sprechen kann. Wo die Kinder fragen und die Mutter manchmal mehr sagt, weil sie den Blick auf der Straße hat. Wo sie gemeinsam einen Weg aus der Trauer suchen, der nicht nur aus Wegfahren besteht.

Wir erleben das alles aus Sicht der anfangs elfjährigen Palma, die so heißt wie das Restaurant in New York, in dem ihre Mutter erfuhr, dass sie mit Palma schwanger war. Palma versteht das alles nicht, die ständigen Umzüge. An einer Stelle sagt sie, dass sie doch hätten in Marseille bleiben können, „an diesem heilen Ort im Warmen, über den das Unglück keine Macht zu haben schien“. Doch stattdessen geht’s von Ort zu Ort. Nächster Halt: Escamadur, ein Fleckchen Erde, das auf keiner Karte Frankreichs verzeichnet ist.

Drei Kartons sind ihre einzig verbliebene Umzugsmasse

Drei Kartons sind ihre einzig verbliebene Umzugsmasse. „Vielleicht hätten wir uns nie davon erholt, dass unser Vater gestorben war und wir unsere Wohnung verloren hatten, aber zumindest hätte die Sonne geschienen.“ Und vielleicht hätten sie auch endlich mal im Telefonbuch gestanden. Das nämlich ist „fast schon ein Traum“ von Palma, verrät sie ihren Brüdern. Stattdessen muss sie sich fragen, ob die Familie irgendwann in einem Auto leben müsste, weil sich ihre Mutter kein festes Dach mehr über den Kopf leisten kann.

Später, als die Mutter schon die Post nicht mehr liest, die Rechnungen nicht mehr bezahlt und der Telefon- und Fernsehanschluss abgestellt sind, erkennt Palma, warum sie immerzu umziehen, umziehen, umziehen: „Hinter unseren fluchtartigen Umzügen verbarg sich ein ganz einfaches, klares Bedürfnis: dem Tod ausweichen. Dem Schicksal ein Schnippchen schlagen, nie irgendwo richtig ankommen, damit sich bloß nichts von dem, was geschehen war, wiederholte. Keine Wurzeln, keine Freunde, keine Tragödien.“ Was für ein Leben.

Hervorragende Erzählstimme

„Villa Royale“ ist trotz der bedrückenden Themen, der körperlichen und seelischen Trauerarbeit der Familie und der Belastungsprobe für die drei Geschwister, so reich an intensiven Momenten, die wir vor allem der hervorragenden Erzählstimme verdanken. Sie versorgt uns mit Eindrücken, die hängen bleiben und die manchmal wie ein Schlüssel an einem Band um den Hals im Takt der Laufschritte schmerzhaft auf die Brust klopfen. Palma erzählt über einen Zeitraum von mehreren Jahren von ihren Erlebnissen. Und von ihrer Familie, die sich wie ein Bollwerk durch alle Ungemütlichkeiten schiebt, verlässlich und mit vollem Vertrauen für das sichere Auffangnetz, das die anderen stets in ihren Händen halten.

Zunächst hat der Roman eine kindliche Stimme, die auch trotzig ist, die aber auch diesen ulkigen Humor hat, der in scheinbar unpassenden Momenten alle anderen aus ihrer Starre holt. Und schließlich wird aus der Kinderstimme diese Erzählstimme, die erwachsen wird, die mehr überblickt, mehr ahnt, mehr auch zwischen Tönen versteht, zwischen Zeilen lesen und in der Stille Ungesagtes hören kann. Das alles beschreibt Emmanuelle Fournier-Lorentz sprachlich so virtuos und hat die Übersetzerin Sula Textor so treffend ins Deutsche übertragen, dass es eine Wonne ist. Ja, dass es eine eigene „Villa Royale“ ist, deren Wände mit Teppichen aus ergötzlicher Sprache bespannt sind.

Emmanuelle Fournier-Lorentz ist für ihren atmosphärisch dichten Debütroman mit dem Prix Michel-Dentan ausgezeichnet worden, einem der wichtigsten und prestigeträchtigsten Literaturpreise der Westschweiz. Die lesenswerte (französischsprachige) Laudatio ist hier nachzulesen. Fournier-Lorentz, 1989 in Tours geboren, lebt seit 2012 in Lausanne und arbeitete bis 2016 bei der Genfer Tageszeitung Le Courrier. Mit „Villa Royale“ hat sie ihren ersten leuchtenden Stern am Literaturhimmel schon gesetzt. Man darf sehr gespannt sein, was danach noch kommt.

Emmanuelle Fournier-Lorentz: Villa Royale, Dörlemann-Verlag, Zürich, 2023, 287 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 25 Euro, ISBN 978-3038201212, Leseprobe

Seitengang dankt dem Dörlemann-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Im Schloss des leisen Horrors

In der Zeit des ersten Corona-Lockdowns überschlugen sich die Feuilletons förmlich damit, welche Lektüre nun in dieser Zeit die passende sei. „Die Pest“ von Albert Camus vielleicht? Oder „Die Arbeit der Nacht“ von Thomas Glavinic? Oder Marlen Haushofers „Die Wand“ und „Die Arena“ von Stephen King? SZ.de fragte sogleich: „Die Pest, Momo oder doch die Bibel?“ und sortierte die Empfehlungen in einem Listicle nach Lesetypen. Nur das (ohnehin stets lesenswerte) Online-Magazin „54books“ ließ Till Raether völlig zurecht die grandiose US-amerikanische Autorin Shirley Jackson empfehlen („Immer im Lockdown – Warum Shirley Jackson die Autorin der Stunde ist“).

Die 1965 verstorbene Shirley Jackson ist eigentlich keine in völliger Vergessenheit dümpelnde Schriftstellerin. Zuletzt lief sehr erfolgreich die Serien-Adaption von Jacksons „Spuk in Hill House („The Haunting of Hill House“) bei Netflix, und im vergangenen Jahr kam, allerdings wohl nicht ganz so erfolgreich, die Verfilmung von Jacksons letztem Roman „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ in die Kinos. Das Buch, auf dem der Film basiert, ist ein literarisches Juwel, an dem man nicht so achtlos vorbeiziehen sollte, denn es begeistert sprachlich, feministisch, gespenstisch und menschlich.

Der Roman „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ erzählt von den Überresten der einst altehrwürdigen Familie Blackwood: Von der 18-jährigen, eigensinnigen und immer noch etwas kindlich-naiven Mary Katherine – von allen nur Merricat genannt -, ihrer älteren Schwester Constance, und ihrem gebrechlichen Onkel Julian. Alle übrigen Familienmitglieder, mit denen die drei einst in dem herrschaftlichen Anwesen zusammenwohnten, sind durch eine eigentümliche Arsenvergiftung dahingerafft worden. Denn eines Tages, man weiß nicht wie, war Arsen im Zuckerdöschen, mit dem die Familie bei Tisch wie immer ihr Dessert versüßte. Merricat war noch vor dem Abendmahl auf ihr Zimmer geschickt worden, Constance nahm keinen Zucker, Onkel Julian nur wenig. So wenig, dass er überlebte. Zwar schwer angeschlagen, aber er lebt. Der Rest: tot.

Grausame Spöttereien auf den Lippen

Dass solch ein plötzliches Ableben fast einer ganzen Familie im nahen Dorf nicht unkommentiert bleibt, ist kaum verwunderlich. Die Volksseele hat die vermeintliche Übeltäterin schnell gefunden: Es kann ja nur Constance Blackwood sein. Kann ja nur! Also schießt man sich auf sie ein. Der Roman beginnt zu der Zeit, in der Constance schon längst nicht mehr das Anwesen verlässt. Nur Merricat geht dann und wann hinunter ins Dorf, um wenige Lebensmittel zu kaufen und aus der Bibliothek neue Bücher auszuleihen. Der Weg hin und zurück ist ein ewiger Spießrutenlauf. Männer und Frauen machen aus ihrem Urteil keinen Hehl, und die Kinder haben grausame Spöttereien auf den Lippen:

Merricat, fragt Connie, willst du einen Tee?
Oh nein, sagt Merricat, darin ist Gift, o weh!
Merricat, fragt Connie, willst du nicht schlafen nun?
Drei Meter tief im Grabe ruhn!

Der Alltag der Familie Blackwood bestimmt sich in ihrer Oase der Zurückgezogenheit ganz nach Routinen. Die festen Strukturen des Tages und der Woche sind für Merricat wahre Kraftgeber und werden fast magisch aufgeladen. Das sind die Tage, an denen sie das Haus putzt und in dem Zustand hält, wie es einst gewesen ist. Ein Psychiater würde darin vermutlich eine Zwangsstörung sehen. Die Tage, an denen sie ins Dorf muss, sind die kraftraubenden, die schlimmen Tage.

Autoritär, aggressiv und einnehmend

Wie sehr die schlimmen Tage in den empfindlichen Alltag einbrechen können, erfährt Merricat, als plötzlich der schneidige Cousin Charles seine Aufwartung macht. Er ist gekommen, um zu bleiben. Autoritär, aggressiv und einnehmend spielt er sich als berechtigter Patriarch auf.

Damit ist die Bühne für den unvermeidlichen Konflikt bereitet, und es bleibt nicht bloß die Frage: wer überlebt? Sondern auch: wem kann der Leser trauen? Sollten wir jedes Wort einer Erzählerin für bare Münze nehmen, die sich in ihrer Freizeit mit Pilztoxikologie beschäftigt und sich hervorragend auskennt? Und die jegliche Grundstücksgrenzen mit Fetischen, Totems und Talismanen markiert, um die restliche Familie zu schützen? Nun …

„Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ ist ein Roman des leisen Horrors, der sich in Zwischentönen auslebt, und an der Oberfläche leicht erzählt scheint. Es ist eine bezaubernde und zugleich beängstigende Geschichte, denn Tod und Unheil reisen ständig mit, und dennoch ist so viel Leben in diesem Roman. Leider sollte es Shirley Jacksons letzter sein.

Shirley Jackson: Wir haben schon immer im Schloss gelebt, Festa Verlag, Leipzig, 2019, 252 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,99 Euro, ISBN 978-3865527097, Leseprobe

Das Wellenspiel der Liebe

Zwei Paare auf einer kleinen Segelyacht zwischen Neapel und Capri, das könnte ein wunderbarer Sommertörn sein. Die beiden Männer sind jedoch Brüder, und der Jüngere hatte einst eine heimliche Affäre mit der Immer-noch-Frau des Älteren, bringt aber nun die neue Freundin mit. Mit seinem kurzen Roman „Ein Sommer“ schafft der Franzose Vincent Almendros ein hervorragendes Kammerspiel auf hoher See, das beeindruckend beweist, welch Wellenspiel die Liebe doch ist.

So richtig geheuer ist dem Ich-Erzähler Pierre die Idee seines segelbegeisterten Bruders Jean von Anfang an nicht. Die Yacht ist kaum länger als acht Meter, die Kajüte entsprechend klein. Lone, seine skandinavische Freundin, und er müssen in getrennten Kojen schlafen, jegliche Privatsphäre wird an Land zurückgelassen. Und sobald erstmal das offene Meer erreicht ist, gibt es kein Zurück mehr.

Ein betörendes Zusammenspiel

Das Unheil muss ja kommen, das ist klar. Anfangs sind Pierres Befürchtungen noch unbestimmt, die Begegnungen mit Jeanne, der Frau seines Bruders, zu wenig bedeutungsschwer. Beide sind scheinbar bemüht, jegliches Mehr zu verhindern. Aber das ändert sich. Es ist ein betörendes Zusammenspiel aus Jeannes verführerischem Können und der Erkenntnis, dass Pierre sie nie wirklich aus seinem Herzen entlassen hat.

Bald ist sein Kopf voller Jeanne-Gedanken. Das rächt sich etwa bei einem Landgang auf Capri, als er Lone in einer Eisdiele vergisst. Er versucht es mit einer Ausflucht: „Wir haben dich verloren“, sagt er, „wo warst du denn?“ Doch Lone antwortet: „Ja, du hast mich vergessen, das ist lustig.“ Aber niemand lacht.

Ein flirrendes, Sommerluft atmendes Stück Literatur

„Ein Sommer“, der nicht umsonst 2015 in Frankreich „als schönster Roman des Frühlings“ mit dem Prix Françoise Sagan ausgezeichnet wurde, ist sprachlich umwerfend gelungen. In kurzen, knappen Sätzen entwirft Almendros ein flirrendes, Sommerluft atmendes Stück Literatur und eine raffinierte Variante von Goethes „Wahlverwandtschaften“. Es ist zweifelsohne zeitlos, und doch sollte man es in der warmen Jahreszeit lesen. Denn fürwahr: Es ist ein vortreffliches Sommerbuch.

Vincent Almendros: Ein Sommer, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2017, 96 Seiten, gebunden, 15 Euro, ISBN 978-3803113245

Solange wir uns erinnern

Welches Erbe tritt man an, wenn der Vater stirbt? Wie gehen wir Söhne und Töchter mit dem Tod um, und wie halten wir das Andenken und die Erinnerungen an die Eltern und die Kindheit wach? Der spanische Illustrator Paco Roca hat mit „La casa“ versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden – und zugleich sein persönlichstes Werk vorgelegt: ein zutiefst berührendes Buch über sich und den Tod seines eigenen Vaters.

Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters Antonio kommen die drei Geschwister Vicente, José und Carla im ehemaligen Ferienhaus der Familie zusammen, um das verwitternde Gebäude zu renovieren und es danach zu einem guten Preis verkaufen zu können. Vicente ist dabei einer der hilfreichsten Gesellen, denn der Mechaniker weiß mit Werkzeug umzugehen und beginnt gleich mit den ersten Instandsetzungen.

Ganz anders als José: der verdient sein schmales Geld als Schriftsteller, hat eher zwei linke Hände und steht sich oft selbst im Weg. Als er mit dem Schlauch den trockenen Garten bewässern soll, macht der Tollpatsch sich erst mal selber nass. Niemand käme wohl auf die Idee, diesen Mann einen Liegestuhl aufbauen zu lassen, geschweige denn, ihn mit Handwerksarbeit zu betrauen. Und dann ist da noch Carla, das Nesthäkchen, das den Papierkram rund ums Haus übernommen hat, aber auch sonst keine Arbeit liegen lässt.

Vorwurf als scheinbar unüberwindbare Mauer

Zwei Geschwister, die anpacken können, und ein Heiopei-Bruder, dem man eher unterstellt, dass er schon eine Ausrede finden wird, warum er dieses oder jenes nicht tun kann – schon diese Konstellation sorgt für Streitereien. Vicente aber macht zusätzlich noch das Fass auf, dass er im Krankenhaus ganz allein die Entscheidung treffen musste, ob Papa Antonio reanimiert werden soll oder nicht. Er ließ den Vater gehen. Und zweifelt nun furchtbar, ob er die richtige Wahl getroffen hat. Zudem steht der gegenseitige Vorwurf, man habe sich nicht ausreichend um den kranken Antonio gekümmert, als scheinbar unüberwindbare Mauer zwischen den Geschwistern.

Und dann sind da noch die Erinnerungen. Jeder Leser kennt sie, diese Erinnerungen, die einen plötzlich überfallen: an gemeinsam Erlebtes, an Schrullen und Marotten der Eltern, an Liebgewonnenes und Eigentümliches, an Vertrautes und Fremdgewordenes. Carla erzählt: „Neulich war mir, als hätte ich ihn auf der Straße gesehen. Ich wollte ihn rufen, aber dann fiel mir ein, dass er nicht mehr da ist. Das hat mich traurig gemacht.“

Vicente und Carla stehen am Pool, der – fast metaphorisch – wasserlos vor sich hinrottet, während die Erinnerungen sie überschwemmen. Wie sie als Kinder fast einen Aufstand angezettelt und gedroht haben, erst dann beim weiteren Ausbau des Hauses mitzuhelfen, wenn sie einen Pool bekämen. „Den ganzen Sommer haben wir gegraben.“ – „Aber fertig war er erst im November, als es zu kalt zum Baden war.“ Vor dem geistigen Auge flimmern der stets schuftende Vater, mal im Garten, mal in der Garage, und die Mutter, die in der Tür steht und ruft, dass das Essen kalt wird.

Zeichnerisch grandios gelungen

Zeichnerisch sind die Überänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Zeitsprünge und Erinnerungsblitze grandios gelungen. „La casa“ ist kein Comic der grellen Farben, sondern ein behutsam koloriertes Werk, das sich in vielen herbstlichen Ockertönen ergeht, ohne dadurch eintönig zu wirken. So gelingt es Paco Roca ganz wunderbar, (Ver-)Stimmungen einzufangen, auch durch den Einsatz von filmischen Gestaltungsmitteln wie Zoom oder Nahaufnahmen.

Nehmen Sie sich Zeit für diese Graphic Novel. „La casa“ benötigt Muße und Geduld, um wie ein leichter Herbstwind durch die Geschichte zu ziehen und zaghaft ein paar Erinnerungen aufzuwirbeln. Am Leser geht dieses Buch nicht spurlos vorbei; und im Erinnern an die eigene Familie wird gewiss, dass das Altern und das Abschiednehmen lange Prozesse sind, vor denen wir nicht flüchten sollten. Und dass eine Familiengeschichte nicht stirbt, wenn ein Mensch von uns geht. Solange wir uns erinnern.

Paco Roca: la casa, Reprodukt Verlag, Berlin, 2016, 128 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3956401046, Leseprobe


Seitengang dankt dem Reprodukt-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Buch Wien: New York, New York

Die "Buch Wien" 2016 von oben. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Die „Buch Wien“ 2016 von oben. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Auch der zweite Messetag der „Buch Wien“ 2016 stand für mich erneut unter dem Eindruck von zwei herausragenden Lesungen. Zunächst stellte am Nachmittag der Schweizer Schriftsteller und Psychologe Catalin Dorian Florescu seinen bereits im Februar veröffentlichten Auswanderer-Roman „Der Mann, der das Glück bringt“ vor. Der C. H. Beck-Verlag bewirbt ihn als „Roman voller Komik und Tragik, der gleichzeitig eine literarische Reverenz an die Kraft des Menschen ist, sein Glück zu suchen und zu überleben“. Der Autor mit den rumänischen Wurzeln, 1967 wird er im westlichen Rumänien geboren, erzählt von Ray und Elena, deren Wege sich in einer dramatischen Nacht treffen. Den Leser führt der Roman sowohl ins New York des Fin-de-Siècle als auch ins magische Donaudelta.

Von dort nämlich stammt die Fischerstochter Elena. Sie ist nach New York gekommen, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Ray dagegen ist ein erfolgloser Künstler, der noch immer auf den Durchbruch hofft. Insgeheim versucht er den Lebensweg zu nehmen, den sein Großvater für sich selbst erhoffte, als der 1899 nach Amerika auswanderte. Ausgerechnet am 11. September 2001 treffen Elena und Ray zufällig in einem Kellertheater aufeinander. „Sie nutzen die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich ihre Familiengeschichten zu erzählen und Nähe zu finden“, erklärte Florescu. Ob die Nacht damit zur Stifterin einer Beziehung werde, lasse er offen, aber sie müssten zunächst zu erzählen beginnen. Im Roman wechseln sich beide Figuren kapitelweise ab, jede Figur spricht für sich, für ihre Geschichte, aber auch für die ihrer Eltern und Großeltern.

Die Auswanderung und die Reise nach New York – immer wieder ist der Mensch in Florescus Büchern auf der Suche nach einem Platz, wo er ohne Angst und mit Würde leben kann. Sein sechster Roman scheint deshalb zur rechten Zeit zu erscheinen, denn auch jetzt sind wieder Hunderttausende auf der Flucht, um in Europa Schutz zu suchen. Damals dagegen, und das spielt in Rays Geschichte eine wesentliche Rolle, waren es Millionen aus Europa, die nach Amerika flüchteten. Hinter den Themen Flucht und Migration steht aber auch die persönliche Erfahrung des Autors, als der damals 15-Jährige im Jahr 1982 mit seiner Familie aus dem kommunistischen Rumänien floh.

Inbrünstig und mit Herzensliebe

Florescu war es deutlich anzusehen, wie sehr er seine Figuren und deren Geschichten liebt. Während er das zweite Kapitel des Buches las, in dem Elena zum ersten Mal zu Worte kommt, saß er recht weit vorne auf der Stuhlkante, dem Publikum nah, der Rücken gerade, als hebe er zum Rezitieren, nicht nur zum Vorlesen an. Wohl selten hat man einen Autor derart inbrünstig und mit Herzensliebe seinen Text vortragen sehen und hören. Vier Jahre hat er für seinen Roman recherchiert. Alles auf Englisch, sagte er und lachte, als er ein deutsches Wort versehentlich mit englischem Akzent aussprach.

Florescu sprudelt, er ist ein wahrer Erzähler, nicht nur in seinen Büchern. Die Lesung hatte noch nicht begonnen, da sprach er schon vorbeihastende Messebesucher an, sie mögen doch Platz nehmen, hier reise man nach New York. Die vorderen Plätze seien die erste Klasse, die hinteren die zweite und dritte Klasse. Er sprach davon, dass er zwar in Zürich lebt, aber in einem Multi-Kulti-Eck von Rumänien aufgewachsen sei, und dieses „Durcheinander der Kulturen“ habe auch seine Art zu schreiben beeinflusst. Florescu sieht den Künstler, den Schriftsteller als „guten Zeugen seiner Zeit“, der literarisch Zeugnis ablege, mit Gefühlen und großem Herzen. Das war ihm deutlichst anzumerken, denn dieser Autor trägt sein Herz auf der Zunge.

Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt, C. H. Beck, München, 2016, 327 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3406691126, Leseprobe

Am Abend las nicht nur die US-amerikanische Autorin Cynthia D’Aprix Sweeney (Loriot hätte an diesem Namen seine Freude gehabt!) aus ihrem zum Bestseller gewordenen Debütroman „Das Nest“, sondern sie hatte auch noch den deutschen Schauspieler Johann von Bülow („Nach fünf im Urwald“, „Tatort“, „Mord mit Aussicht“) im Schlepptau. Der las die deutsche Übersetzung in einer Vortrefflichkeit, dass es eine Wonne war, ihm zu lauschen. Nicht umsonst hat von Bülow (der übrigens ein entfernter Verwandter von Loriot ist) die Hörbuchfassung des Romans eingelesen.

Das Buch handelt von den vier Geschwistern Melody, Jack, Bea und Leo. Sie alle sind in den Vierzigern, stehen mitten im Leben und haben immer gewusst, dass sie eines Tages erben würden. Also, sagen wir es so: sie haben damit gerechnet. Was aber, wenn die Erbschaft ausbleibt? Was geschieht mit den Träumen, die sie hatten? Was ist mit dem Geld, das sie bereits ausgegeben haben, weil sie sich zu sicher waren? Denn ihre Mutter hat das Geld kurzerhand gebraucht, um dem Playboy Leo aus einer Notlage zu helfen. Die Geschwister sind außer Rand und Band und lassen erzürnt den alten Groll untereinander wieder aufleben. Agatha Christie hätte daraus vermutlich einen Fall für Miss Marple oder Hercule Poirot gemacht. D’Aprix Sweeney aber schreibt damit den Roman einer dysfunktionalen Familie, legt genüsslich den Finger in so manche Wunde, ein bisschen böse, aber vor allem scharfsinnig und sehr humorvoll.

„Das Nest“ ist D’Aprix Sweeneys erster Roman. Im Literaturhaus Wien erzählte sie, wie sie in den späten 20er Jahren ihres Lebens eine vage Idee vom Romaneschreiben hatte. Sie sei immer eine große Leserin gewesen, habe auch Autoren und Journalisten gekannt, aber was sie selbst damals zu Papier gebracht habe, seien allenfalls halbherzige Versuche gewesen. „Ich dachte, es sei eher meine Rolle, andere Autoren zu unterstützen und zu ihren Lesungen zu gehen und ihre Bücher zu kaufen, nicht aber, selbst zu schreiben.“

Studium im kreativen Schreiben

Erst als die Kinder im College-Alter waren und die Familie nach Los Angeles zog, wollte sie eine andere Arbeit haben (zuvor hat sie 27 Jahre als PR-Beraterin in New York City gearbeitet) und versuchte es dann mit dem Schreiben. Sie nahm ein Studium im kreativen Schreiben am Bennington College auf, das sie mit dem Master of Fine Arts (MFA) abschloss. Während des Studiums begann sie bereits mit dem „Nest“. Das Wichtigste, was sie am College gelernt habe, seien das Einhalten von Abgabeterminen und Struktur gewesen. „Und eine gewisse Priorisierung im Leben, denn wenn man auch noch familiäre Verpflichtungen hat, kann das Schreiben auf der To-do-Liste ganz schnell auf dem letzten Platz landen – ich aber habe gelernt, es ganz nach oben zu setzen.“

Der Erfolg gibt ihr Recht. „Das Nest“ (der Originaltitel heißt unglaublicherweise „The Nest“ – ein Glücksgriff in der Titelübersetzung!) ist ein wahrer Verkaufshit. Seit es im Frühjahr in Amerika und nun auch auf Deutsch erschienen ist, erklimmt es die Bestsellerlisten, auch die der New York Times (Platz 3). Auch in Deutschland wird es bejubelt: „Die Amerikanerin Cynthia D’Aprix Sweeney hat einen hinreißenden und klugen Familienroman geschrieben … glänzende Unterhaltung und ein literarischer Wurf“, urteilt etwa Denis Scheck in der ARD-Sendung Druckfrisch.

D’Aprix Sweeney reagiert bescheiden, wenn sie gefragt wird, warum sie glaube, dass das Buch so einschlage. In Wien sagte sie, es sei ein Glücksfall gewesen und es treffe offenbar einen Nerv: „Dieses Buch gibt den Menschen die Möglichkeit, mit den Menschen, die sie mögen, über Geld zu reden.“ An der Schnittstelle zwischen Familien und Geld komme es unweigerlich zu Streitigkeiten, wenn die Geschwister sich nicht leiden können. „Und man muss seine Familie nicht lieben, nur weil sie Familie ist. Natürlich haben wir eine Verantwortung als Menschen, uns zu kümmern und freundlich zueinander zu sein, aber nicht nur deshalb, weil man sich die DNA teilt.“

„Tradition des zivilen Ungehorsams“

Zum Ende der Lesung sprach Moderator Klaus Nüchtern D’Aprix Sweeney auf die US-Wahl an. Für sie sei es seltsam gewesen, erklärte sie, weil sie zu der Zeit in Deutschland auf Lesereise gewesen sei. „Ich finde, etwas Schlimmes passiert in der Welt. Die Wahl von Donald Trump ist für mich sehr erschütternd, und das Ereignis hängt zusammen mit der Brexit-Entscheidung und den Hassäußerungen in Deutschland, Österreich und Frankreich. Es macht mir Angst.“ Aber: „Meine Hoffnung als US-Bürgerin und als Weltbürgerin ist, dass die Leute Angst genug bekommen, um dagegen zu protestieren und sich dem zu widersetzen. Wir haben in den USA eine Tradition des zivilen Ungehorsams, und ich hoffe, wir stehen jetzt wieder an der Schwelle dazu.“

Cynthia D’Aprix Sweeney: Das Nest, Klett-Cotta, Stuttgart, 2016, 410 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3608980004, Leseprobe